Weimar am Potomac?
Bonn ist nicht Weimar, schrieb Fritz René Allemann in den 50er Jahren. Der Satz ist längst zum Gemeinplatz geworden. Die Debatte, ob die Bundesrepublik das gleiche Schicksal ereilen würde wie ihr Weimarer Vorgänger, hat zwar nach 60 Jahren stark an Intensität nachgelassen. Aber das Weimarer Anti-Vorbild ist immer noch omnipräsent im verfassungspolitischen Diskurs, ob es um die Direktwahl des Bundespräsidenten geht oder um das Selbstauflösungsrecht des Bundestages (ob zu Recht oder nicht, ist eine andere Frage).
Jetzt wird der Weimar-Vergleich aber in einem Land gezogen, von dem ich das in meinen kühnsten Träumen nicht vermutet hätte: im Land der ältesten demokratischen Verfassung der Welt, in den USA. Und zwar von Sandy Levinson, dem Doyen der liberalen US-Verfassungsrechtsgelehrten, der schon öfter mit überaus düsteren Visionen zur verfassungspolitischen Zukunft der Vereinigten Staaten auf sich aufmerksam gemacht hat.
Ein handlungsunfähiges, blockiertes Parlament, das im Land nur noch Verachtung erfährt. Eine Regierung, die sich (notgedrungen) immer mehr ihrer parlamentarischen Fesseln entledigt, um überhaupt noch etwas gebacken zu bekommen. Eine mächtige rechte politische Bewegung, die den Hass auf Minderheiten schürt. Eine wachsende Sehnsucht nach einem Militär, der in der Politik für Ordnung sorgen soll.
Schon klar, bei manchen von Levinsons Vergleichen, oder eigentlich bei allen, stellt es uns deutschen Lesern die Nackenhaare auf. Petreaeus als Hindenburg, Obama als Brüning, Gingrich als Hitler? Please…
Aber als Befund, für wie kaputt maßgebliche Teile des US-Verfassungsdiskurses die Situation im eigenen Land halten, ist das schon interessant.
Obama hat übrigens jetzt state secrets geltend gemacht, weil er nicht vor Gericht darüber diskutieren will, ob er amerikanische Staatsangehörige ohne due process töten lassen darf.
In eine ähnliche Richtung argumentierte auch Bruce Ackerman in den Tanner Lectures 2009-2010, jetzt gerade erschienen als “The Decline and Fall of the American Republic”.
Interessant ist auch, daß Brian Leiter seinen Fingerzeig zu dem Text von Levinson mit ‚Authoritarianism and Fascism Alerts‘ getagged hat. Es erscheint dann folgerichtig als Alarmismus, tea bagger, Fox News und GOP in einen Topf zu werfen und diese dann in eine historische Parallele mit ‚der Rechten‘ zur Weimarer Zeit zu setzen. Insbesondere das Phänomen der tea party movement hat starke republikanische und religiöse Wurzeln. Hier Analogien oder Strukturähnlichkeiten zu erkennen… naja… Andererseits gibt es viele Wege, um eine funktionierende demokratische Ordnung aus den Angeln zu heben. Insofern ist so ein Weckruf vielleicht gar nicht mal so schlecht, um der Beck-O’Reilly-Palin-Kommunismus-Hysterie etwas entgegenzusetzen.
Herr Levinson hat die Umfrage, auf die er seine These von der Unbeliebtheit des Kongresses als Institution stützt, offenbar nicht richtig gelesen. Denn zur Abstimmung stand lediglich Zustimmung oder Widerspruch zum “way Congress is handling its job”. Man kann die Arbeit bzw. die Besetzung einer Institution für schlecht halten, ohne gleich die Institution an sich abzulehnen. (Ich zum Beispiel finde viele Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts falsch, weltfremd [wenn es um Wertungsfragen geht] und nicht nachvollziehbar, betrachte die Einrichtung an sich aber als gut und wichtig.)
Wenn ich überfliege, was Levinson schreibt, dann ist das Etikett “liberal” nicht in seiner deutschen, sondern in seiner amerikanischen Bedeutung (= links) gerechtfertigt, siehe die Islamophobie-Kassandrarufe oder die Einlassungen zum “Jewish Israeli – Palestinian problem”.
Verfassungsrechtler sind nicht unbedingt gute Historiker. Ich sehe nicht, dass es in der amerikanischen classe politique, der US-Justiz, der Armee und der Bevölkerung auch nur annähernd ein so großes Heer an Systemfeinden gibt wie in der Weimarer Republik.
Meines Erachtens zeigt Levinson die gleiche Trotzreaktion, die auch europäische Linke angesichts ihrer schwindenden Diskurshoheit an den Tag legen: Er dämonisiert den politischen Gegner, indem er sich in seiner Weimar-Parallele ergeht, ebenso wie diesseits des Atlantiks die bereits bestehenden oder vielleicht noch entstehenden Wilders-Sarrazin-Parteien zur Gefahr für Freiheit und Demokratie aufgebauscht werden. Ironischerweise laufen aber nicht wenige Menschen gerade deshalb den Wilders’ und Sarrazins nach, weil sie Freiheit und Demokratie bewahren möchten und befürchten, dass diese Werte von den etablierten Parteien auf dem Altar des kultursensiblen Appeasements peu à peu geopfert werden.