Wer glaubt meinem Glauben?
Konversion und Asylverfahren
Wenn Geflüchtete im Asylverfahren geltend machen, wegen einer Konversion zum Christentum bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland einer Verfolgung ausgesetzt zu sein, stellen sich für die Rechtspraxis verschiedene rechtliche wie tatsächliche Fragen: Ist eine Konversion, wenn sie erst in Deutschland vollzogen wurde, als sogenannter Nachfluchtgrund – also als Grund, der erst nach der Ausreise entstanden ist – beachtlich? Ja, denn es handelt sich, so die gängige Lesart des Asylrechts, um eine höchstpersönliche Entscheidung, die unbedingt schutzwürdig auch dann ist, wenn die Verfolgungsgefahr durch die Antragsteller*innen selbst und ohne einer vorherige Verfolgung im Herkunftsland geschaffen wurde. Und kann von Menschen, denen eine Verfolgung aufgrund ihrer Religion droht, verlangt werden, ihren Glauben im Verborgenen zu leben, um der Verfolgung zu entgehen? Auch diese Frage ist mittlerweile unbestritten geklärt. Der EuGH hat 2012 entschieden, dass zur flüchtlingsrechtlich geschützten Glaubensbetätigung auch das öffentliche Ausleben des Glaubens gehört und es nicht zugemutet werden kann, auf bestimmte Glaubensbekundungen oder Glaubensbetätigungen zu verzichten. Zuvor hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), gestützt vom BVerwG, jahrzehntelang allein ein „religiöses Existenzminimum“ für schützenswert gehalten und damit eine Verfolgungsgefahr wegen einer religiösen Überzeugung in einem Großteil der Fälle negiert.
Die weiterhin offenen Fragen jedes Einzelfalls sind freilich: Ist die Konversion und der christliche Glaube glaubhaft? Und lebt die einzelne Antragstellerin ihren christlichen Glauben in einer Art und Weise, dass ihr im Herkunftsland eine Verfolgung droht? Und vor allem: Wer hat die rechtliche wie tatsächliche Kompetenz, diese Fragen zu beantworten?
Der Beschluss des BVerfG
Zu diesem Problemkomplex hat sich nun das BVerfG in einem in der vergangenen Woche veröffentlichten Beschluss vom 03.04.2020 geäußert.
Dem Beschluss lag die Verfassungsbeschwerde eines Asylbewerbers aus dem Iran zugrunde. Dieser hatte seinen 2011 gestellten Asylantrag zunächst mit der Teilnahme an regimekritischen Demonstrationen begründet und nach der Ablehnung durch das BAMF während des Klageverfahrens zusätzlich geltend gemacht, dass er 2013 christlich getauft worden sei, regelmäßig an kirchlichen Veranstaltungen teilnehme und ihm aufgrund dieses Übertritts zum christlichen Glauben im Iran eine Verfolgung drohe. Während das Verwaltungsgericht Stuttgart ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und dabei argumentiert hatte, an den kirchlichen Taufakt und die Beurteilung der Pfarrerin gebunden zu sein, war diese Entscheidung vom VGH Baden-Württemberg aufgehoben worden. Der VGH verneinte eine solche Bindungswirkung kirchlicher Akte und Beurteilungen, und entschied sodann für den Einzelfall und aufgrund des Vortrags des Klägers, dass nicht von einer ernsthaften Hinwendung zum christlichen Glauben ausgegangen werden könne, und der Glaube nicht hinreichend identitätsprägend sei. Die Zulassung der Revision gegen die Entscheidung des VGH Baden-Württemberg wurde wiederum durch einen Beschluss das BVerwG zurückgewiesen.
Interessant und ungewöhnlich an dem Beschluss des BVerfG ist zunächst, dass die Verfassungsbeschwerde durch die 1. Kammer des Zweiten Senats mangels ausreichender Begründung als unzulässig verworfen und nicht zur Entscheidung angenommen wurde – und dennoch die Richter*innen umfangreiche inhaltliche Ausführungen machen, wie mit Konversionen im Asylverfahren umzugehen ist. Offensichtlich hat die Kammer eine Gelegenheit genutzt, um ihre Sicht der Dinge darzulegen und dem BAMF sowie den Verwaltungsgerichten rechtliche Vorgaben für ihre Entscheidungsfindung zu machen.
Das BVerfG bestätigt im Wesentlichen die Ausführungen des BVerwG aus dem zugrundeliegenden Beschluss von 2015 sowie einer Grundsatzentscheidung des BVerwG zur religiösen Verfolgung von 2013. Demnach ist zwischen zwei Aspekten zu unterscheiden: Einerseits dürften eine Taufe und die Kirchenmitgliedschaft als Rechtsakt vom BAMF und den Gerichten nicht in Frage gestellt werden; sie müssten auch dann der Entscheidung zugrunde gelegt werden, wenn Anhaltspunkte für eine „missbräuchliche“ Konversion bestehen; auch sei es den Gerichten verwehrt, eine Prüfung des Glaubens vorzunehmen und sich bei der Bewertung der Glaubensüberzeugung an die Stelle der Kirche zu setzen. Andererseits bedinge die Prüfung der Verfolgungsgefahr, die einzig dem Staat und nicht der Kirche obliegt, dass sich das BAMF und die Gerichte eigenständig mit der Frage eigenständig auseinandersetzen, „ob und bejahendenfalls welche Aspekte einer Glaubensüberzeugung oder Glaubensbetätigung in einer die Furcht vor Verfolgung begründenden Intensität für die religiöse Identität des individuellen Schutzsuchenden prägend sind oder nicht“ – was im Kern bedeutet, dass die Gerichte, wie im Anschluss vom BVerfG beispielhaft aufgezählt, die Asylsuchenden zu ihrer religiösen Biographie und den kirchlichen Aktivitäten, ihren Kenntnissen von der christlichen Religion und zur Ernsthaftigkeit und Intensität ihrer religiösen Überzeugung befragen und die Aussagen sodann, wenn auch nur als Indizien, maßgeblich bei der Entscheidung berücksichtigen können und müssen.
Kompetenzabgrenzung zwischen Staat und Kirche
Dieser Unterscheidung liegt eine staatskirchenrechtliche Kompetenzabgrenzung zugrunde: Während das auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 der Weimarer Reichsverfassung gestützte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen das religiöse Wirken und damit auch das Verhältnis zwischen Glaubensgemeinschaft und Mitgliedern in glaubensbezogenen Fragen sicherstellen will, obliegt im Asylverfahren die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft, und damit der Intensität einer drohenden Verfolgung, dem BAMF bzw. den Verwaltungsgerichten. Dass es bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft derweil nicht nur auf die objektive Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, sondern auch auf eine identitätsprägende (subjektive) Komponente ankommt, wird gemeinhin unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH damit begründet, dass eine drohende Verfolgung nur dann hinreichend schwer im Sinne des Flüchtlingsrechts ist, wenn der Verzicht auf die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung persönlich nach dem jeweiligen Glaubensverständnis und der Glaubenspraxis unverzichtbar ist. Etwas anderes muss freilich dann gelten, wenn die bloße Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft als solche unabhängig von der Glaubenspraxis zu einer Verfolgung führt.
In dieser Konsequenz ist die Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat jedoch praxisuntauglich und widersprüchlich. Ohne Zweifel liegt die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft bei den staatlichen Stellen. Dies umfasst insbesondere eine Prognose, ob und inwiefern einer zum Christentum konvertierten Person aufgrund ihres Glaubens und der damit verbundenen Praxis im Herkunftsland Verfolgung droht. Indem das BVerfG derweil den staatlichen Stellen die Möglichkeit einräumt, durch Befragungen zu eruieren, ob der Glaube hinreichend identitätsprägend ist, wird die kirchliche Kompetenz einer eigenständigen Glaubensbewertung sinnentleert. Insbesondere in denjenigen praktisch üblichen Fällen, in denen die Antragsteller*innen bzw. Kläger*innen neben der Taufurkunde eine Stellungnahme des Pfarrers oder der Pfarrerin vorlegen, aus der die religiöse Überzeugung bereits hinreichend hervorgeht, kann eben diese Glaubensüberzeugung durch das BAMF bzw. die Gerichte nicht in Frage gestellt werden, ohne die Kompetenz der Kirchen zu untergraben und der religiösen Institution einen Missbrauch oder jedenfalls eine falsche Darstellung zu unterstellen.
Uneinheitliche Befragungen durch BAMF und Gerichte
Ohnehin wirft ein Blick auf die Rechtspraxis gewaltige Zweifel auf, ob das BAMF und die Verwaltungsgerichte rein praktisch hinreichend kompetent sind, im Rahmen einer Befragung sich von der Ernsthaftigkeit der Konversion und ihrem identitätsprägenden Moment zu überzeugen. Die Prüfung der Glaubhaftigkeit ist im Asylverfahren, in dem mangels anderer Beweismittel die Aussage der Antragsteller*innen die zentrale Grundlage für die Entscheidung ist, zwar insofern ein grundsätzliches Problem, als sie rechtspraktisch immer vom subjektiven Horizont des*der Entscheider*in beim BAMF oder den Gerichten abhängig ist und es hier an eindeutigen Vorgaben faktisch fehlt. Umso diffiziler und noch weniger transparent ist eine solche Bewertung der Glaubhaftigkeit, wenn es, wie bei der religiösen Überzeugung, um eine innere Tatsache geht. Weder sind auf der Ebene des BAMF – im Gegensatz zu anderen spezifischen Verfolgungskomplexen – besonders geschulte Sonderbeauftragte für religiöse Verfolgung und in den Anhörungen durchgehend Sachbearbeiter*innen tätig, die sich durch eine ersichtliche Kompetenz und Sensibilität in religiösen Fragestellungen auszeichnen. Noch verfügen Richter*innen an den Verwaltungsgerichten über die fachliche Qualifikation, objektiv und nach klaren Maßstäben ein solch sensibles Moment wie die Glaubensüberzeugung zu erfassen.
Tatsächlich unterscheiden sich daher die Befragungen in den Asylverfahren zwischen den Gerichten massiv: Während einzelne Richter*innen es bei oberflächlichen Befragungen zur Tätigkeit in der Gemeinde belassen, wird in vielen anderen Fällen willkürlich religiöses Wissen, etwa zur Bedeutung von Feiertagen oder nach der Lieblingsstelle in der Bibel abgefragt. Ebenfalls beliebt sind Nachfragen zum Unterschied zwischen Islam und Christentum oder die schlichte und offene Frage, warum sich die Person denn gerade für eine Hinwendung zum Christentum entschieden habe.
Freie Beweiswürdigung ohne Kontrolle
Zwar macht das BVerfG nunmehr gewisse Konkretisierungen, indem es relevante Indizien – wie etwa inneren Beweggründe, die Vorbereitung auf die Konversion, das Wissen über die Religion und die Auswirkungen auf das Leben und die Teilnahme am kirchlichen Leben – aufzählt, die es allesamt zu erfragen und zu würdigen gilt. Eben bei der Beweiswürdigung verbleiben aber vier Probleme: Erstens sind die Schlussfolgerungen immer von der religiösen Sozialisation der Richter*innen geprägt, die regelmäßig zwar selbst religiös bzw. einer Kirche angehörig sein mögen, aber keinen Konversionshintergrund haben. Zweitens können erfahrungsgemäß zahlreiche Aussagen immer in zwei Richtungen interpretiert werden: Während etwa ein exaktes Bibelwissen für den einen Richter einen hinreichenden Nachweis der religiösen Ernsthaftigkeit erbringt, beweist es für eine andere Richterin, dass der*die Kläger*in auswendig gelernt hat, um sich die Flüchtlingseigenschaft zu erschleichen. Drittens haben eloquente Menschen, die ihren Glaubenswechsel gut und fundiert darlegen können, deutlich bessere Chancen, Gehör zu finden, als Antragsteller*innen, denen es schwer fällt, ihre innere Überzeugung auszudrücken. Viertens werden Entscheidungen im Asylverfahren üblicherweise durch den*die Einzelrichter*in in freier Beweiswürdigung getroffen: Damit findet zum einen keine Diskussion und Reflektion der Beweiswürdigung im Rahmen einer Kammer statt. Zum anderen ist die Beweiswürdigung als solche grundsätzlich keiner zweitinstanzlichen Kontrolle zugänglich; eine Kontrolle im Wege der Berufung kann in der Regel nur dann stattfinden, wenn die Zulassung der Berufung auf andere Gründe gestützt werden kann.
Befragung zu religiösen Identität als Grundrechtsproblem
Schließlich geht es bei der flüchtlingsrechtlichen Relevanz einer Konversion nicht nur um eine Kompetenzabgrenzung zwischen Staat und Kirche. Befragungen zu einer religiösen Überzeugung tangieren zudem und vor allem die Grundrechte der Antragsteller*innen selbst: Wenn staatliche Stellen die identitätsprägende Funktion ihres Glaubens, also ihrer spirituellen Vorstellungen und ihrer Beziehung zu einem Gott erfragen, erforschen sie einen intimen oder jedenfalls sehr persönlichen Bereich, der zudem von Art. 4 Abs. 1 GG besonders geschützt ist. Das BVerfG übergeht diese Frage unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH – tatsächlich hat der EuGH in der zitierten Entscheidung von 2018 noch keine abschließenden Vorgaben formuliert.
Die Glaubhaftigkeit einer Konversion wirft nicht nur rechtsdogmatisch komplexe Probleme auf, sondern sie ist auch praktisch sehr relevant. Zahlreiche Geflüchtete vor allem aus dem Iran und aus Afghanistan haben sich in Deutschland einer christlichen Kirche angeschlossen. Einige von ihnen hatten bereits in ihrem Herkunftsland Berührungen zu christlichen Kreisen und haben sich mit der Religion auseinandergesetzt, viele andere hatten aufgrund der Repressalien eine solche Möglichkeit nicht, und haben erst in Deutschland zum christlichen Glauben gefunden. Im Asylverfahren begegnen sie beim BAMF einem generellen Misstrauen: Die Anhörungen und die Bescheide des BAMF sind von Argwohn statt von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der religiösen Überzeugung der Antragsteller*innen geprägt. Und diese Misstrauen nimmt, wohlweislich auch beruhend auf dem sich verstärkenden gesellschaftlich rassistischen Klima, zu, was sich in den Zahlen widerspiegelt: Zwar existieren keine vollständigen Erhebungen zur Anerkennung von Konvertiten – nach einer allgemein sehr lesenswerten Studie der Organisation OpenDoors zum Thema ist jedoch davon auszugehen, dass die Schutzquote seit 2015 unter anderem bei iranischen Geflüchteten um etwa 15 Prozent gesunken ist.
Erst recht in einem solchen Klima des rassistischen Misstrauens, das auch auf die Gerichte ausstrahlt, sollten derart heikle Fragen nicht einem so weitreichenden und subjektiven Bewertungsspielraum einzelner Richter*innen überlassen werden. Wünschenswert wäre es vielmehr, wenn der EGMR oder der EuGH hier nochmals grundrechtssensiblere Konturen aufzeigen würden.
Sehr geehrter Herr Lehnert,
vielen Dank für Ihren gut ausgearbeiteten Beitrag. Sie haben dankenswerter Weise “Open Doors” erwähnt, deshalb bin ich als Pressereferent von OD auf Ihren Beitrag aufmerksam geworden. Ich würde Sie gerne auf ein Forschungsprojekt von Lena Rose aufmerksam machen, zu dem Sie gut etwas beitragen könnten. Bitte schauen Sie hier:
ht