Wer ist das Volk?
(Re-)Etablierung eines rassistischen Volksbegriffs durch die AfD
Der Begriff des Volkes ist zentral für unser Grundgesetz – und ist es auch seit jeher für rechte Parteien und Bewegungen. Auch die Funktionär*innen, Mitglieder und Anhänger*innen der „Alternative für Deutschland“ (AfD) beziehen sich immer wieder positiv auf den Begriff des Volkes und legen nahe, dass es ein „eigentliches“, über die Gemeinschaft aller Staatsangehörigen hinaus gehendes Volk gebe, das es zu erhalten gelte. Das Grundgesetz zieht dem Volksbegriff allerdings Grenzen. Dass es tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass die AfD diese Grenzen durch eine ethnisch-kulturelle Definition überschreitet, hat das OVG NRW kürzlich bestätigt. Die Möglichkeiten der AfD, einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff mit rechtlichen Mitteln durchzusetzen, sind begrenzt und beschränken sich darauf, was sie ohnehin schon fortwährend propagiert: eine restriktive Einbürgerungs- und Einwanderungspolitik.
Der staatsbürgerliche Volksbegriff des Grundgesetzes
Nach Art. 20 Abs. 2 GG geht alle Staatsgewalt „vom Volke“ aus. Aus seiner Stellung und dem Normenzusammenhang leitet das Bundesverfassungsgericht ab, dass die Vorschrift selbst bestimmt, wer das Volk ist (BVerfGE 83, 37 (50 f.)): Es setzt sich zusammen aus allen deutschen Staatsangehörigen und jenen, die ihnen nach Art. 116 Abs. 1 GG gleichgestellt sind. Ob das Grundgesetz dafür offen ist, auch Nicht-Staatsangehörigen das Wahlrecht zu erteilen, ist umstritten1), wurde allerdings vom Bundesverfassungsgericht deshalb verneint, weil sich das Wahlrecht aus der Zugehörigkeit zum Staatsvolk und damit der Staatsangehörigkeit ableite (BVerfGE 83, 27 (52)). Die Kongruenz zwischen Herrschaftsunterworfenen und Inhaber*innen politischer Rechte müsse über die Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts erreicht werden. Damit ist der politische Spielraum angesprochen, in dem Parteien Einfluss auf die Konstitution des Staatsvolkes nehmen können.
Die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Grenze des Volksbegriffs
Diesem Spielraum sind durch das Parteiverbotsverfahren und die freiheitlich demokratische Grundordnung (fdGO) Grenzen gesetzt. Denn nach Art. 21 Abs. 2 GG können Parteien verboten werden, die darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen oder zu beeinträchtigen. Das BVerfG hat den Begriff der fdGO im zweiten NPD-Verbotsverfahren 2017 enger umrissen (s. dazu auch hier). Als unentbehrliche elementare Grundprinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaats gehören zu fdgo: das Prinzip der Menschenwürde als Ausgangspunkt, sowie das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip als dessen Konkretisierungen (BVerfGE 144, 20, Ls. 3). Das BVerfG urteilte, dass die NPD auf die Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen an der ethnischen „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten autoritären „Nationalstaat“ ziele. Dieses Konzept „missachtet die Menschenwürde aller, die der ethnischen Volksgemeinschaft nicht angehören, und ist mit dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip unvereinbar“ (BVerfGE 144, 20, Ls. 9 a)).
Die Menschenwürde garantiere unter anderem die elementare Rechtsgleichheit aller Menschen. Damit seien ein rechtlich abgewerteter Status oder demütigende Ungleichbehandlungen nicht vereinbar. Das gelte insbesondere, wenn Ungleichbehandlungen gegen die die Menschenwürde konkretisierenden Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen (BVerfGE 144, 20, Rn. 541). Aber auch das Demokratieprinzip sei egalitär und garantiere die gleichberechtigte Teilnahme aller Bürger*innen am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 1 und 2). Willkürliche Ausschlüsse vom demokratischen Prozess seien mit diesem nicht vereinbar (BVerfGE 144, 20, Rn. 543 f.).
Die in dem Urteil angelegten verfassungsrechtlichen Grenzen für einen Volksbegriff, der noch mit der fdGO vereinbar ist, hat Christoph Möllers expliziert (hier). Für das Demokratieprinzip gelte, dass die Zugehörigkeit zum Staatsvolk gesetzlich geregelt werden müsse und dass in Bezug auf die durch die Staatsangehörigkeit gewährten politischen Rechte nicht differenziert werden dürfe. Noch vor der Einbürgerung schütze die Menschenwürde vor einem kategorialen Ausschluss aufgrund von gruppenbezogenen Merkmalen. Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 2 S.1 GG sehe zudem vor, dass es eine Einbürgerungsperspektive für Herrschaftsunterworfene geben müsse, weil sich aus der Herrschaftsunterworfenheit überhaupt erst die Notwendigkeit demokratischer Legitimation ergebe. Es muss also möglich bleiben, die vom BVerfG angesprochene Kongruenz zwischen Herrschaftsunterworfenen und Inhaber*innen politischer Rechte durch Einbürgerungen herzustellen, womit ein grundsätzlicher Ausschluss nicht zu vereinbaren wäre.
Damit verstößt ein Volksbegriff, der die Möglichkeit der Einbürgerung anhand gruppenbezogener Merkmale ausschließt und rechtlich bezüglich der politischen Rechte der Staatsangehörigen unterscheidet, gegen die fdGO.
Der Volksbegriff der AfD
Das OVG NRW hat in seinem Verfahren zur Beobachtung des Bundesverbands der AfD durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als rechtsextremistischer Verdachtsfall festgestellt, dass tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die AfD Bestrebungen verfolgt, die gegen die fdGO gerichtet sind. Namentlich deuteten diese Anhaltspunkte auf Bestrebungen gegen die Menschenwürdegarantie und das Demokratieprinzip hin. Insbesondere bestehe der begründete Verdacht, dass „es den politischen Zielsetzungen jedenfalls eines maßgeblichen Teils der [AfD] entspricht, deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuzuerkennen, weil zu ihren zentralen politischen Vorstellungen gehört, dass es eine von der Staatsangehörigkeit unabhängige ‘ethnisch-kulturelle‘ Volkszugehörigkeit gibt, die von entscheidender Bedeutung für die Bewahrung der deutschen Kultur und Identität ist und es deshalb rechtfertigt, bei rechtlichen Zuordnungen danach zu unterscheiden, ob und gegebenenfalls aus welchem Kulturraum deutsche Staatsangehörige oder deren Eltern zugewandert sind“ (OVG NRW Urt. v. 13.5.2024, S. 60 f., im folgenden OVG NRW). Diese Diskriminierung aufgrund der Abstammung nach Art. 3 Abs. 3 GG sei mit der Menschenwürdegarantie nicht vereinbar.2)
Für diese Feststellung wertete das OVG NRW die über 10.000 Seiten umfassende Belegsammlung des BfV aus und stützte sich insbesondere auf Aussagen führender Parteifunktionär*innen. In ihrer „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“, die führende Parteimitglieder unterzeichneten, erklärt die AfD zu ihrem Ziel, dem deutschen Staatsvolk seine deutsche kulturelle Identität erhalten zu wollen. Das OVG NRW schließt aus der Erklärung, dass die AfD zwischen deutschen Staatsangehörigen unterscheidet, die „Träger der deutschen Kultur und Identität sind“ und solchen, die es nicht sind (OVG NRW, S. 63 f.). Sie sehe in der Zuwanderung eine unmittelbare Gefahr für den Bestand des deutschen Volkes, was insbesondere in den von Björn Höcke und anderen führenden Vertretern der AfD benutzten Begriffen wie „Umvolkung“, „Volkaustausch“ und „Volkstod“ deutlich werde. Hier werde der „Verlust der ethnisch-kulturellen Identität“ mit dem Ende des deutschen Volkes gleichgesetzt. Auch Remigrationsphantasien (s. hierzu auch die CORRECTIV-Recherche) und die Unterscheidung von sog. „Passdeutschen“, also Inhaber*innen der deutschen Staatsbürgerschaft, die nicht Träger*innen der ethnisch-kulturellen Identität sind, sowie zahlreiche weitere Aussagen in diese Richtung legen nahe, dass die AfD zur Umsetzung ihrer politischen Ziele Staatsangehörige mit Migrationshintergrund rechtlich diskriminieren könnte (OVG NRW, S. 66 ff.). Wenn die Bundestagsabgeordnete Christina Baum ein Wahlrecht nach Abstammung fordert (OVG NRW, S. 70), deutet das insbesondere darauf hin, dass die politische Gleichheit aller Staatsangehörigen aufgekündigt werden soll. Richtigerweise würde ein solcher „ethnisch-kultureller“ Volksbegriff damit nicht nur die Menschenwürde der Betroffenen missachten. Eine Diskriminierung von Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund würde zugleich ihren Anspruch auf politische Teilhabe und damit das Demokratieprinzip verletzen.
Daneben gibt es zahlreiche Aussagen, die den Verdacht begründen, dass die AfD Bestrebungen verfolgt, die mit einer „Missachtung der Menschenwürde von Ausländern und Muslimen verbunden ist.“ (OVG NRW, S. 74). Die AfD wertet Menschen islamischen Glaubens systematisch ab und spricht ihnen sogar die Religionsfreiheit ab (OVG NRW, S. 74 ff.). AfD-Funktionär*innen verunglimpfen Migranten als „Messermänner“, „Invasoren“, „Parasiten“ (OVG NRW, S. 75). Muslime werden als nicht-integrierbar bezeichnet, der Islam als „totalitäre Ideologie“ und die Einwanderung von Muslimen wird mit alltäglicher Gewalt gleichgesetzt (OVG NRW, S. 75 ff.). Neben ihrer grundsätzlichen Menschenwürdewidrigkeit begründen diese Positionen den Verdacht, dass die Möglichkeit der Einbürgerung unter Anknüpfung an gruppenbezogene Merkmale ausgeschlossen werden könnte, was gegen die Konkretisierung in Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen würde. Die für den Volksbegriff dargelegte Notwendigkeit einer Einbürgerungsperspektive, die sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 2 S.1 GG ergibt, wäre damit ebenso verletzt.
Der ethnisch-kulturelle Volksbegriff der AfD verstieße damit, soweit an ihn eine politische Zielsetzung gekoppelt wird, gegen die Grenzen der fdGO. Doch gesetzt den Fall, die AfD möchte diesen tatsächlich politisch umsetzen: Könnte sie einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff (re-)etablieren?
(Re-)Etablierung eines ethnisch-kulturellen Volksbegriffs
Die oben beschriebenen Grenzen sind klar: Bestimmte Menschen von der Erlangung der Staatsangehörigkeit auszuschließen und die Staatsangehörigen in Bezug auf ihre politische Gleichheit unterschiedlich zu behandeln, ist verfassungswidrig. Zudem muss Herrschaftsunterworfenen grundsätzlich die Möglichkeit einer Einbürgerung in Aussicht gestellt werden. Unter dem Grundgesetz kann daran auch nichts geändert werden.
Einer Partei, die sich die ethnisch-kulturelle Identität des deutschen Volkes als „zentralen Orientierungspunkt“ (s. OVG NRW, S. 66) in ihrem politischen Denken und Handeln gesetzt hat, bleiben dennoch unzählige Möglichkeiten, diese Agenda faktisch voranzutreiben. Sie könnte die seit 2000 vorgenommenen „Modernisierungen“ des Staatsangehörigkeitsrechts zurücknehmen und damit eine Einbürgerung wieder von strengeren Voraussetzungen abhängig machen. Das hat die AfD sich auch in ihrem Programm zur Bundestagswahl 2021 zum Ziel gemacht (S. 101).
Zugleich kann sie aber versuchen, und das spiegelt sich auch schon in der Programmatik der AfD, die Einwanderung weiter zu begrenzen. Auch wenn die fdGO nur die elementaren Grundprinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaats umfasst, wäre eine AfD mit den erforderlichen Mehrheiten an das Grundgesetz sowie an das Völker- und Europarecht umfänglich gebunden. Die von der AfD vorgesehene Abschiebung der vermeintlich 300.000 ausreisepflichtigen Personen beispielsweise (Wahlprogramm 2021, S. 95) wird größtenteils durch Abschiebungsverbote verhindert. Deutschland unterliegt zudem menschenrechtlichen und europarechtlichen Verpflichtungen, die die Aufnahme von Schutzsuchenden regeln.
Die AfD könnte bei entsprechenden Mehrheiten versuchen, sich durch Austritte aus den wichtigsten Menschenrechtsabkommen und der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) dieser Verpflichtungen zu entledigen (für die GFK fordert sie schon eine Ablösung, Wahlprogramm, S. 91). Auch ihre Forderung nach einem „Europa der Vaterländer“ (Wahlprogramm 2021, S. 28) hängt mit der Rückerlangung von Hoheitsrechten zusammen, von der sie sich mehr Souveränität über die Flüchtlingspolitik erhofft. Übrig bliebe die Fortgeltung der unveräußerlichen Menschenrechte nach Art. 1 Abs. 2 GG, die auch völkergewohnheitsrechtlich binden. Einen minimalen Schutz verspricht zuletzt der Menschenwürdekern aller Grundrechte, der über Art. 1 Abs. 1 GG geschützt bleiben würde.
Die AfD könnte einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff also gar nicht direkt durchsetzen. Etwaige Deportationspläne sind nur illegal möglich. Damit bleibt ihr nur, die Rechte der ohnehin schon vulnerabelsten Menschen unserer Gesellschaft, also insbesondere solchen, die vor Krisen, Krieg und Verfolgung geflohen sind, noch weiter zu beschneiden. Die Frage ist nur, wie sehr sich eine Partei, die sich die ethnisch-kulturelle Identität des deutschen Volkes als „zentralen Orientierungspunkt“ in ihrem politischen Denken und Handeln gesetzt hat, bei entsprechenden Mehrheiten an das Recht gebunden fühlt.
References
↑1 | S. dazu grundlegend Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 5 (1994), S. 305 ff. |
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↑2 | Dass das Gericht in Bezug auf einen solchen möglichen abgewerteten Status nicht die politische Gleichheit und damit das Demokratieprinzip verletzt sieht, ließe sich dadurch erklären, dass die genaue Ausgestaltung der Ungleichbehandlung noch nicht sicher ist und nicht zwangsläufig nur das Wahlrecht betrifft, sondern andere Diskriminierungen nach Art. 3 Abs. 3 GG zufolge haben könnte. |
Ich bin erfreut, dass dieser Beitrag nicht versucht hat, an die alte Kamelle der “Betroffenendemokratie” aus den späten 1980er und 1990er Jahren anzuknüpfen, mit denen der Volksbegriff des Grundgesetzes von seinen Vertretern mit “alle” zu
umreißen versucht wurde. Diese Idee dürfte sicherlich eine kleine unberechtigte Renaissance erleben, um Unerwünschtes
aus dem Rechten Rand mit Unüberlegtem aus anderen Ecken zu brüskieren.
Ansonsten halte ich die Anführung der Menschenwürde in diesem Kontext für verfehlt und symptomatisch für die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Umgang mit verfassungsrechtlichen Höchstnormen. Es hat relativ wenig mit der Menschenwürde zu tun, wenn der Gesetzgeber Kriterien für die Erlangung der Staatsbürgerschaft aufstellt. Schon Herzog meinte in seinem bekannten Aufsatz in der FS Zeidler, dass das Staatsangehörigkeitsrecht mehr als das Eigentumsrecht
ein Beispiel für ein normgeprägtes Grundrecht bzw. ein Grundrecht aus “der Hand des Gesetzgebers” sei. Dabei steht es dem Gesetzgeber im Grundsatz frei, ein solches Recht nach Gutdünken zu etablieren, auch weil das Grundgesetz keine Anforderungen an seine Erlangung stellt.
Das Problem mit einer “ethnischen” Konzeption der Staatsbürgerschaft dürfte eher im Willkürverbot bzw. im Bestimmtheitsgebot zu verorten seien, die den ausgestaltenden Gesetzgeber eher binden als die Menschenwürde. Die meisten Ideologen tun sich bekanntlich schwer damit, ein kohärentes Weltbild auf die Beine zu stellen. Das gilt im Besonderen in Bezug auf das Volksbild rechter Gesinnungen. Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Umsetzung des Weltbildes wird immer sehr deutlich, wenn gefragt wird, welche Werte denn positiv für das “Deutschsein” stünden und eine entsprechende Antwort sich zumeist nur in der floskelhaften Aufzählung allgemein als positiv bewerteter Charakteristika erschöpft, die von jeder beliebigen Person erfüllt werden können.
Ich verstehe, dass der Menschenwürdeverstoß eine verlockende Theatralik mit sich bringt aber Dürigs Warnung vor der kleinen Münze gilt auch 70 Jahre später noch ungemindert weiter.