Wer wacht über die Wächter?
Anmerkungen zu aktuellen Vorschlägen zum Schutz von Verfassungsgerichten
Fast möchte man sagen: endlich! Regierung und Opposition wollen gemeinsam versuchen, das Bundesverfassungsgericht besser vor einer möglichen Einflussnahme durch Feinde der Demokratie zu schützen. Dafür wollen sie die Verfassung anpassen. Allerdings zeigt ein Blick in die Länder, dass entsprechende Vorhaben nicht umsonst zu haben sind. Sie können demokratische Kosten und bisweilen kontraproduktive Wirkungen zeitigen.
Das Bundesverfassungsgericht ist „oberster Hüter der Verfassung“. Wenn alle versagen und die Demokratie in Gefahr ist, dann gibt es immer noch „Karlsruhe“. Die 16 Richter und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichtes werden in ihren roten Roben das Schlimmste verhindern und die Verfassungsordnung schützen. So jedenfalls lässt sich die hier nur unwesentlich banalisierte Hoffnung zusammenfassen, die viele mit dem Bundesverfassungsgericht verknüpfen. Es soll „Wächter der Demokratie“ sein. Nicht anders war das Motiv in den Bundesländern bei der Schaffung von Landesverfassungsgerichten nach 1945. So betonte etwa Thomas Dehler am 29. Mai 1947 im Bayerischen Landtag, dass der zu errichtende Verfassungsgerichtshof „Zitadelle der Demokratie und der Freiheit“ sein werde.1)
Aktuell stellt sich die Problemlage allerdings komplizierter dar. Denn Polen, Ungarn, die USA oder andere Länder haben vorgemacht, wie leicht es im Grunde ist, zentrale Institutionen des Rechtsstaates zu unterlaufen oder gar für rechtspopulistische oder autoritäre Herrschaft zu instrumentalisieren. Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist nicht mehr ausgeschlossen, dass die AfD in Thüringen, Brandenburg oder Sachsen nach der nächsten Wahl die absolute Mehrheit im jeweiligen Landesparlament erringt und die dann neu gewonnene Macht dazu einsetzt, Landesverfassungsgerichte in ihrem Sinne umzugestalten. Dazu braucht es nicht einmal eine Mehrheit an Sitzen oder eine Sperrminorität in dem jeweiligen Parlament. Denn einzelne Landtage, in denen die AfD über nur wenige Mandate verfügt, haben sogar schon Kandidaten, die von der AfD vorgeschlagen worden waren, zu Landesverfassungsrichtern (oder deren Stellvertreter) gemacht: In Baden-Württemberg waren dies 2016 bzw. 2018 Rosa-Maria Reiter und Sabine Reger, in Hessen 2019 Gero Kollmer (Stellvertreter), in Mecklenburg-Vorpommern 2017 Konstantin Tränkmann und in Bayern 2018 Wolfram Schubert und Rüdiger Imgart, die beide am 24. Januar 2024 als nichtberufsrichterliche Mitglieder zum Verfassungsgerichtshof wiedergewählt wurden (gewählt wurden außerdem deren Stellvertreter Dr. Peter Ditges und Peter Solloch). Die Fragen, die sich aktuell stellen, sind mithin: Wer wacht eigentlich über die Wächter der Demokratie? Wie können Verfassungsgerichte vor „Verfassungsfeinden“ (Spiegel online) geschützt werden?
Soll der Status von Verfassungsgerichten in die Verfassung?
Wie andere vor ihm und einige nach ihm hat Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Bundesverfassungsrichter, dazu Ideen entwickelt. Er schlägt vor, das Grundgesetz zu ändern. Papier fordert zwei Dinge: Er will zum einen § 1 Abs. 1 Satz 1 des BVerfGG in das Grundgesetz überführen und damit festschreiben, dass das Bundesverfassungsgericht „ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes“ ist. Zum anderen will er die Modalitäten zur Wahl von Verfassungsrichtern ins Grundgesetz aufnehmen. Insbesondere sollten die Zweidrittelmehrheit, mit der Richter*innen des Bundesverfassungsgerichtes zu wählen sind, sowie deren Amtszeit Eingang in die Bundesverfassung finden. Beides, der Status des Verfassungsgerichtes sowie die Wahlmodalitäten, wären damit der Disposition des einfachen Gesetzgebers entzogen und damit besser geschützt. Das Anliegen Papiers ist ohne Zweifel honorig. Allerdings zeigt ein Blick in die Bundesländer, dass die Lage kompliziert ist, die Effekte solcher Regelungen ambivalent sein können und sich solche Brandmauern – wie sie Hans-Jürgen Papier fordert – leicht in Hürden für demokratische Politik verwandeln.
Der Status des Bundesverfassungsgerichtes war bekanntlich zu Beginn umstritten. Der bereits erwähnte Thomas Dehler, der bei der Gründung des Bundesverfassungsgerichtes im September 1951 Bundesjustizminister war, war der Meinung, dass das BVerfG seinem Ministerium ein- und unterzuordnen sei. Nach Dehler war allein das Justizministerium zum Verfassungsministerium berufen. Es überrascht nicht, dass die am 7. September 1951 ernannten 23 männlichen Richter des Bundesverfassungsgerichtes und die einzige weibliche Richterin, Erna Scheffler, den Vorstellungen Dehlers wenig abgewinnen konnten. Gerhard Leibholz begründete ihre Position in der sogenannten „Denkschrift“, einem, so Christoph Möllers, „echte[n] Stück Verfassungsprofessorentum“.2) Seitdem ist der Status des Bundesverfassungsgerichtes als Verfassungsorgan unumstritten. Auch Landesverfassungsgerichten kommt eine solche Organeigenschaft zu.3)
Die Lage in den Ländern ist allerdings komplex und variantenreich. Lediglich in drei Bundesländern ist in der Verfassung festgeschrieben, dass das Landesverfassungsgericht ein „unabhängiger und selbständiger Gerichtshof“ ist, in sieben weiteren ist dies einfachgesetzlich normiert. Aber auch im Rest der Bundesländer stellt niemand die Organeigenschaft des jeweiligen Verfassungsgerichtes in Frage. Grundsätzlich gilt, dass sich nicht erkennen lässt, dass die Rolle, die einem Verfassungsgericht in einem Bundesland in der Verfassungswirklichkeit zukommt, davon abhängig ist, ob der Status in der jeweiligen Landesverfassung, einfachgesetzlich oder überhaupt nicht normiert ist. Entsprechende Regelungen besitzen mithin keinen regulatorischen Mehrwert. Oder, wie Christian Pestalozza festgestellt hat: „Vorschriften dieser Art“ stellen klar, „was niemand bezweifelt“.4)
Wichtiger als die verfassungsrechtliche Feststellung der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit des jeweiligen Verfassungsgerichts scheint ohnehin die Sicherstellung der sich daraus ergebenden administrativen, personellen und finanziellen Autonomie. Konkret heißt dies, dass Landesverfassungsgerichte über ausreichend Personal verfügen müssen, um sich selbst verwalten zu können. Verfassungsgerichte müssen zudem administrativ unabhängig gemacht werden. Denn in 13 Bundesländern sind Verfassungsgerichte über Organleihe oder in Personalunion mit Fachgerichten verwaltungsstrukturell verknüpft, sprich: administrativ und infrastrukturell abhängig von Fachgerichten. Eine solche Konstruktion entspricht kaum der Organeigenschaft und bietet durchaus Möglichkeiten der Einflussnahme. Zudem sollte sichergestellt werden, dass Verfassungsgerichte zumindest über eine Legislaturperiode finanziell abgesichert sind. Ohne diese administrative, personelle und finanzielle Unterfütterung bleibt ein verfassungsrechtlich garantierter Status, wie er Papier fordert, bloße Verfassungslyrik.
Soll das Mehrheitserfordernis in die Verfassung?
Wie sieht es mit dem zweiten Vorschlag von Hans-Jürgen Papier aus? Auf den ersten Blick scheint es plausibel, das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit in eine Verfassung aufzunehmen. Die AfD könnte dies nicht ändern, auch wenn sie eine Regierungsmehrheit im Parlament hätte. Gleichzeitig könnten die demokratischen Parteien verhindern, dass Gegner der Demokratie in das Verfassungsgericht gewählt würden. Aber auch hier sind keine einfachen Antworten möglich. Denn die Folgen einer solchen Normierung sind kontingent, sie hängen von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament ab. Verfügt die AfD über keine Sperrminorität, hat also weniger als ein Drittel der Sitze, bestehen insoweit keine Probleme, als die AfD dann die Wahlen von Verfassungsrichtern nicht verhindern kann. Der Fall Bayern zeigt zwar, dass bei entsprechenden Wahlverfahren (Verhältniswahl mit Listen) noch immer Kandidaten der AfD in das Landesverfassungsgericht gewählt werden können. Doch ließe sich dies rasch und einfach ändern. Dazu ist nur der politische Wille der demokratischen Parteien erforderlich.
Diese verfassungsrechtliche Brandmauer verwandelt sich allerdings schon dann in ein Hindernis für demokratische Entscheidungen, sobald die AfD mehr als ein Drittel der Mandate erhält. Denn dann könnte sie die anderen Parteien „erpressen“, um eigene Kandidaten in das Verfassungsgericht wählen zu lassen, oder sie könnte Wahlen von Verfassungsrichtern insgesamt torpedieren, um das Verfassungsorgan zu beschädigen oder beschlussunfähig zu machen. Den demokratischen Parteien wäre aufgrund der fehlenden Zweidrittelmehrheit zudem die Möglichkeit entzogen, die Verfassung zu ändern. Und dies ist tatsächlich in einigen Bundesländern eine mögliche, in Thüringen, Brandenburg und Sachsen sogar eine wahrscheinliche Variante. Die Aufnahme der Mehrheitserfordernis in die Verfassung hat folglich für demokratische Parteien Vorteile, solange die AfD über weniger als ein Drittel der Mandate im Parlament verfügt. Gewinnt die AfD mehr als ein Drittel der Sitze in einem Parlament, verwandelt sich dieser Vorteil in einen Nachteil. Denn dann könnten Verfassungsrichter ohne die Zustimmung der AfD weder gewählt noch könnte die Verfassung geändert werden. Der AfD käme in einer solchen Konstellation eine absolute Veto-Position zu.
Immerhin könnte man präventiv versuchen, das Erpressungspotenzial der AfD zu minimieren. Dazu müsste der Gesetzgeber Regelungen treffen, um die Beschlussunfähigkeit eines Verfassungsgerichtes zu verhindern. Dies geschieht aktuell bereits dadurch, dass Stellvertreter gewählt werden (wie z.B. in Niedersachsen) oder dass Richter geschäftsführend so lange im Amt bleiben (wie in Berlin), bis ein Nachfolger gewählt ist. Darüber hinaus könnte der Verfassungsgeber im Falle einer Vakanz das Verfassungsgericht ermächtigen, Richter*innen per Beschluss mit Zweidrittelmehrheit zu kooptieren, bis ein*e neue*r Richter*in durch das Landesparlament gewählt ist. Eine solche Selbstrekrutierung könnte auf Berufsrichter*innen beschränkt werden, die aufgrund ihres Bestellungsverfahrens als Richter zudem demokratisch legitimiert wären. Das würde die personelle Autonomie des Verfassungsgerichtes erhöhen, ohne das grundsätzliche Recht des Parlamentes, Verfassungsrichter zu wählen, zu beschädigen.
Und was noch?
Wie die Analyse zeigt, gibt es keine einfachen Lösungen. Verfassungsrechtliche Regelungen zum Status von Verfassungsgerichten kommen über ein bloßes Bekenntnis nicht hinaus, wenn effektive Regelungen zum Schutz der administrativen, personellen und finanziellen Autonomie sie nicht unterfüttern. Und ein verfassungsrechtlich festgelegtes Mehrheitserfordernis ist nur unter bestimmten Voraussetzungen Brandmauer und nicht ohne Kosten zu haben. Bei Landesverfassungsgerichten ist zudem zu beachten, dass ihre Mitglieder zwar die übliche richterliche Unabhängigkeit genießen, dass viele in ihrem Hauptberuf als Richter an einem Fachgericht oder Professor an einer Universität allerdings den dort geltenden dienst- und beamtenrechtlichen Vorschriften unterliegen.
Immerhin ist in den Ländern – im Unterschied zum Bund – die Gefahr ausgeschlossen, durch die Einrichtung neuer Spruchkörper die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtes zu ändern. Zwar ist in keiner Landesverfassung die Struktur des jeweiligen Landesverfassungsgerichtes abschließend geregelt. Nirgends steht: Das Landesverfassungsgericht besteht nur aus einem einzigen Spruchkörper, und die Einrichtung weiterer Spruchkörper ist untersagt. In allen Bundesländern existiert mithin die Möglichkeit, weitere Kammern oder Spruchkörper durch einfachen Gesetzesbeschluss einzurichten.5) Doch das wäre – aus Sicht der AfD – wohl vergebliche Liebesmühe. Denn anders als in der Bundesverfassung ist in allen Landesverfassungen die Anzahl der Richter*innen abschließend geregelt. Die AfD könnte folglich zwar weitere Spruchkörper einrichten, die aber nur mit den schon gewählten Richter*innen besetzt werden könnten.
Anm. d. Red.: Nachträglich wurde der letzte Absatz des Textes korrigiert.
References
↑1 | Bayerischer Landtag, Verhandlungen, 17. Sitzung vom 29. Mai 1947, S. 486. |
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↑2 | Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt, Matthias et al., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht. 3. Aufl. Frankfurt a.M., S. 357; Der Status des Bundesverfassungsgerichts. Material – Gutachten, Denkschriften und Stellungnahmen mit einer Einleitung von Gerhard Leibholz, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N.F. Bd. 6 (1957), S. 109-221. |
↑3 | Fabian Wittreck 2006, Die Verwaltung der Dritten Gewalt. Tübingen S. 497. |
↑4 | Christian Pestalozza, Das Landesverfassungsgericht von Sachsen-Anhalt, LKV – Landes- und Kommunalverwaltung 1994, Heft 1, S. 11-14. |
↑5 | Vgl. dazu auch schon bezogen auf das Bundesverfassungsgericht Steinbeis, Maximilian: Ein Volkskanzler, VerfBlog, 2019/9/09, |