Whatever it Takes?
Der demokratische Rechtsstaat in Zeiten von Corona
Vom Schutz der Gesundheit
Der Umgang mit der Corona-Krise dürfte ein großes Forschungsfeld für die vergleichende Politik- und Kulturwissenschaft werden. Man kann vermutlich eine Menge über politische Strukturen und kulturell geprägte Verhaltensmuster lernen. China hat die in das Land gesetzten Erwartungen voll erfüllt, indem es zunächst auf Desinformation und Denunziation und dann, nach einer Kehrtwende um 180 Grad, auf den Polizeistaat setzte. Die USA irrten, personalisiert durch ihren Präsidenten, zunächst orientierungslos und verharmlosend durch die Krise, und stehen nun vor den Scherbenhaufen privatisierter Versicherungs- und Versorgungssysteme. Und schließlich bekommen wir nach all den Krisen der vergangenen Jahre erneut die Zerrissenheit der Europäischen Union präsentiert, deren Mitgliedstaaten teils auf das ebenso spekulative wie prekäre Konzept der Herdenimmunität (Schweden, bis vor kurzem auch noch die Niederlande und Großbritannien), teils auf rigide, nicht immer konsistente und durchsetzbare Verbotskataloge bis hin zu Ausgangssperren setzen wie namentlich Italien und Österreich. In kultureller Hinsicht lernen unsere europäischen Nachbarn über uns, dass wir ein Volk der Heimwerker sind, weshalb Baumärkte zu den systemrelevanten Infrastrukturen gehören, die es unbedingt offen zu halten gilt.
Für die in Deutschland getroffenen Maßnahmen gibt es grundsätzlich viele gute Gründe. Wir können uns glücklich schätzen, dass die staatlichen Institutionen in der Krise funktionieren und dass sie öffentliches Vertrauen erzeugen, auch weil sie ernst nehmen, was uns die Virologie und die Epidemiologie raten. Die Rustikalität der Maßnahmen folgt aus der Dramatik der Situation und der Uneinsichtigkeit mancher Zeitgenossen, die sich nicht durch Vernunft, sondern nur durch Verbote vom Besuch von Clubs und Kinos oder gar Corona-Partys abhalten lassen. Das ist gerade in dieser ersten Akutphase wichtig, in der wir erst allmählich verstehen und akzeptieren, dass unser Leben in den nächsten Wochen gänzlich anders ablaufen wird, als wir uns das jemals haben vorstellen können. Aber diese Akutphase birgt auch Gefahren. Die krisentypische Einigkeits- und Entschlossenheitsrhetorik ist diskursfeindlich; die kritische Nachfrage gilt als Störung des beschworenen Konsenses. You’ll never walk alone: Wer wollte sich schon gegen die Appelle zu Zusammenhalt und Solidarität wenden? Man muss doch alles Menschenmögliche tun, um das Virus zu bekämpfen! Der Weg zum dirty A-word ist dann aber nicht mehr weit: die Alternativlosigkeit – schlecht beleumundet zwar, aber verlässliches Instrument, um rabiate politische Entscheidungen nicht näher diskutieren zu müssen.
…und dem Schutz des Rechts
Diese Akutphase wird in den nächsten Tagen, gerne sehr bald, durch eine Konsolidierungsphase abgelöst werden. Die fiebrigen Liveticker können uns dann nicht mehr schocken, und irgendwann hat auch der letzte Paniker genügend Toilettenpapier zu Hause. Für Juristinnen und Juristen muss nun eine andere Art von Präventionsarbeit starten: der Schutz des Rechts. Wie ist es eigentlich noch um unsere Gewissheiten bestellt, die unseren demokratischen Rechtsstaat ausmachen? Nicht nur hinter vorgehaltener Hand (pardon…) und nicht nur aus populistischem Munde hört man ja derzeit immer wieder, autoritäre Regime kämen doch viel besser mit dem Virus zurecht als die zaudernden Rechtsstaaten. So schnell geht das. Aber so geht es nicht.
Einschlägige Rechtsgrundlage für die meisten, nunmehr verhängten Allgemeinverfügungen ist § 28 Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) – ein Gesetz, zu dem nach der Krise erst einmal ein vernünftiger Kommentar verfasst werden muss. § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG ist eine Generalklausel, die allgemein zu notwendigen Schutzmaßnahmen ermächtigt, u. a. auch zur individuellen Quarantäne (§ 30 IfSG). Interessanter ist § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG. Dieser erlaubt es den zuständigen Landesbehörden u. a., die in § 33 IfSG genannten Gemeinschaftseinrichtungen zu schließen. Dazu gehören neben Kindertagesstätten auch Schulen. Aber die Hochschulen sind dort nicht explizit genannt, und man kann sie auch nicht unter die in der Norm genannten „sonstigen Ausbildungseinrichtungen“ zu subsumieren, denn in Hochschulen findet mehr statt als Ausbildung. Der Freistaat Bayern stützt das Betretungsverbot wohl auch deshalb auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG, was gewagt ist, denn nach allgemeinen ordnungsrechtlichen Grundsätzen sperrt die Spezialermächtigung den Rückgriff auf die (hier infektionsschutzrechtliche) Generalklausel. Das Problem lässt sich auch nicht durch eine Rechtsverordnung lösen – ein Weg, den Baden-Württemberg beschreitet; denn auch die einschlägige Rechtsgrundlage des § 32 IfSG („auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote“) ermächtigt nur zu denjenigen Regelungen, die § 28 IfSG gestattet.
Unklar ist die Rechtslage auch bei Ausgangssperren. § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG erlaubt zwar Aufenthaltsver- und -gebote, diese dürfen aber nur an einzelne, individuell gefährliche Personen gerichtet werden und sind, wie die Wendung „bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“ belegt, nur als vorübergehende Maßnahmen zulässig. Ein allgemeines, von konkret-individuellen Gefahren unabhängiges und in seiner Dauer nicht befristetes Fortbewegungsverbot deckt die Norm nicht, auch weil sonst die restriktiven Bestimmungen zur Inanspruchnahme von Nichtstörern unterlaufen werden. Da es sich um eine spezielle Ermächtigungsnorm handelt, sind damit auch allgemeine Befugnisnormen, namentlich im allgemeinen Ordnungsrecht, gesperrt (s. Anika Klafki). Möglicherweise ließen sich Ausgangssperren aber durch Rechtsverordnungen nach § 32 IfSG anordnen; dagegen spricht auch hier der begrenzende Bezug auf § 28 IfSG, dafür hingegen, dass § 32 IfSG anders als § 28 IfSG auch das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 GG) für einschränkbar erklärt. Daraus würde dann aber im Umkehrschluss auch folgen, dass in dieses Grundrecht nicht durch Allgemeinverfügungen auf der Grundlage von § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG eingegriffen werden darf. Daher sind die durch Allgemeinverfügung angeordneten flächendeckenden Ausgangsbeschränkungen, wie sie jetzt in Bayern verordnet wurden, rechtswidrig (vgl. Andrea Edenharter).
Aber auch wenn die notwendigen Rechtsgrundlagen geschaffen werden, und das ginge ja ggfs. auch sehr schnell, setzen die Grundrechte und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Grenzen (s. Andrea Kießling). Grundrechte, wie die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), dürfen zwar eingeschränkt werden, was § 28 Abs. 1 S. 4 IfSG als Ausfluss des verfassungsrechtlichen Zitiergebots (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) ausdrücklich hervorhebt. Gegen eine rechtswidrige Ausgangssperre könnte man allerdings in Bayern gar nicht mehr demonstrieren, weil ja alle Versammlungen durch Allgemeinverfügung verboten wurden. Bei einer Ausgangssperre könnte man sich noch nicht einmal mehr wie einst Greta Thunberg allein auf einen Platz setzen und mit einem handgemalten Plakat seinen Protest zum Ausdruck bringen. Ist das nur eine Einschränkung oder wird damit nicht schon in den Wesensgehalt des Grundrechts (Art. 19 Abs. 2 GG) eingegriffen? Man kann noch nicht einmal mehr im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine rechtswidrige Ausgangssperre vorgehen, weil der Gang zum Gericht nach der bayerischen Allgemeinverfügung nicht mehr zu den triftigen Gründen zählt, draußen herumzulaufen. Hier droht mit der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) das rechtsstaatliche Fundament unseres Grundgesetzes zu erodieren.
Besondere Hervorhebung verdient derzeit, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch eine zeitliche Komponente hat. Das formulieren die Polizeigesetze meist ausdrücklich. Beispielsweise ist nach Art. 4 Abs. 3 bayPAG eine Maßnahme nur so lange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist, oder sich zeigt, dass sie nicht erreicht werden kann. Je länger die Einschränkungen dauern, desto höher sind daher die Anforderungen an ihre Rechtfertigung. Schon jetzt ohne Rücksicht auf neue Lagebewertungen bis zum 15.06.2020 alle Versammlungen zu untersagen, wie das Baden-Württemberg tut, ist unverhältnismäßig. Überhaupt ist der derzeit verbreiteten Vorstellung entgegenzutreten, dass bei den notwendigen Abwägungsentscheidungen Gesundheit und Leben apriorisch höherrangig sind als andere Verfassungsgüter. Auch wenn es schwer fällt: Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) steht unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Im Interesse der persönlichen Freiheit zwingen wir niemanden, in die postmortale Organspende einzuwilligen, obwohl tagtäglich Menschen auf den Wartelisten sterben. Natürlich würden ein Tempolimit auf den Autobahnen und ein Überholverbot auf Landstraßen dazu führen, dass nicht jeden Tag neun Menschen auf Deutschlands Straßen sterben; wir machen es nicht, weil wir (hier m. E. absurderweise) die mobile Freiheit höher gewichten als den Lebensschutz.
Whatever it takes, however long it may take?
Daraus folgt, politisch wie rechtlich, dass wir uns fragen müssen, wie lange wir Maßnahmen aufrecht erhalten können, die zwar auf den ersten Blick die Gesundheit schützen, aber politisch, rechtlich, wirtschaftlich und sozial die DNA unseres Zusammenlebens in Frage stellen oder, wie flächendeckende Ausgangsbeschränkungen auf der Grundlage von Allgemeinverfügungen, schlicht rechtswidrig sind. Es ist ja enorm wichtig, dass Finanz- und Wirtschaftsminister die wirtschaftlich Betroffenen mit einem beherzten „Whatever it takes“ beruhigt haben, wie es einst Mario Draghi in der Eurokrise getan hat. Aber dieses Versprechen lässt sich auch nicht endlos aufrechthalten, wenn wir nicht kommende Generationen ruinieren wollen. Was bedeutet eine Ausgangssperre für Menschen, die keine Gärten und Balkons haben, wie wirkt sie sich auf Menschen aus, die allein sind? Wie lange sind wir bereit, Bildungseinrichtungen ausnahmslos zu schließen, die wir doch sonst immer als unsere wichtigste Ressource ansehen und die mit sehr grundsätzlichen individuellen Lebensplanungen verbunden sind? Wollen wir Kirchen auch am Karfreitag und Ostersonntag ausnahmslos geschlossen halten, die für viele Menschen in der Krise Heimstatt sind, oder können wir dann nicht doch Gottesdienste mit dem notwendigen Abstand zu den Mitgläubigen zulassen? Es geht hier auch um die Selbstachtung von Institutionen, die zwar vorübergehend, aber nicht für eine längere Zeit systemirrelevant sind. Nicht jede dieser Einzelentscheidungen wird durch das Recht gesteuert, aber man kann aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben doch die generelle Direktive ableiten, dass für alle Bereiche des öffentlichen Lebens eine Perspektive eröffnet werden muss, dass diese Maßnahmen nur vorübergehender Natur sein dürfen (wie hier Andrea Kießling).
Was wir in dieser Konsolidierungsphase also aus rechtlichen wie politischen Gründen benötigen, ist die unbedingte Bereitschaft, unseren demokratischen Rechtsstaat gerade in dieser außerordentlichen Situation vor einem „Whatever it takes“ zu bewahren. Sonst werden wir bei der nächsten, vielleicht ganz anderen Krise vielleicht von ganz anderen Regierenden zu hören bekommen: „Das haben wir doch bei Corona auch so gemacht.“
Für kritische Diskussion danke ich Marje Mülder.
Vielen, Vielen dank für diesen Beitrag.
Vielen Dank auch von mir für den Beitrag. Es ist in der Tat eine — sicherlich unbeabsichtigte — Posse, dass ein Gang zum Gericht zwecks Rechtsschutz daran scheitern müsste, dass schon der Weg an sich verboten wäre.
Auch darüber hinaus wäre es sicher gut, den Unwägbarkeiten des Lebens durch eine Ausnahmeregelung für einen »unabweisbaren Grund« Rechnung zu tragen.
Zu kurz greift es meiner Meinung, zur Rechtfertigung nur auf den Schutz von Leben und Gesundheit abzustellen. Sie weisen selbst darauf hin, dass unsere Reaktionen auch die Möglichkeit in sich tragen, mit ihren Konsequenzen zukünftige Generationen zu ruinieren. Dasselbe gilt auch kurzfristig für unser jetziges Gemeinwesen und in letzter Konsequenz auch die Verfassungsordnung an sich. Wenn eine Eindämmung der Pandemie nicht schnell und deutlich genug gelingt, dann stapeln sich nach dem »tipping point« wenn die Kranken die Kapazitäten des Gesundheitssystems überfordern nicht nur die Särge (dann eben auch mit Menschen die bei adäquater Versorgung überlebt hätten), es treten dadurch auch Folgeeffekte ein, die auf einen weitgehenden Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung hinauslaufen. Tote und unversorgte Schwerkranke sind nicht nur selbst ausgeschaltete gesellschaftliche Ressourcen, noch viel mehr binden sie gesunde Menschen und schalten auch deren Leistungsfähigkeit aus. So droht ein Lawineneffekt, der zuerst das Gesundheitssystem, und dann alle anderen Bereiche der Daseinsvorsorge für eine zunehmend panische Bevölkerung auszuschalten droht.
Wir operieren in dieser Situation nicht in einer Lage in der es ein zwar großes, aber doch begrenztes Katastrophengebiet gibt. In der Pandemie gibt es kein »Außen«, keine sichere, intakte Umgebung aus der heraus man ins Katastrophengebiet hinein operieren kann.
Beste Grüße, und bleiben Sie gesund!