01 April 2020

Wider die apokalyptische Sehnsucht

Ein Plädoyer für praktische Hoffnung in Zeiten der Krise

Düstere Zukunftsszenarien stehen gerade hoch im Kurs. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht wahlweise der Untergang der EU, eine Spirale des Nationalismus oder der Weg in den autoritär-fremdenfeindlichen Überwachungsstaat prophezeit wird. Angesichts der katastrophalen Bilder, Zahlen und Nachrichten, mit denen wir täglich konfrontiert werden, im Lichte der massiven Grundrechtseinschränkungen und der zermürbenden Debatte über die europäische Solidarität erscheint dies kaum verwunderlich. In dem aktuellen Überbietungswettbewerb der Katastrophenszenarien droht jedoch die Erkenntnis unterzugehen, dass politische Entwicklungen ebenso wenig zwangsläufig und alternativlos sind wie Krisenreaktionsmaßnahmen (gegen die Alternativlosigkeits-Rhetorik auch hier und hier). Die Wahl zwischen Alternativen besteht weiterhin und sie ist heute wichtiger denn je.

Nicht nur die aktuell getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der akuten gesundheitlichen Krise beruhen auf politischen Entscheidungen zwischen Alternativen, sondern auch die Gestaltung unserer Zukunft nach Corona. Welchen Schaden unsere politischen Systeme nach der akuten Corona-Krise nehmen werden, hängt maßgeblich von drei Faktoren ab: der aktiven Auseinandersetzung mit den sozialen Folgen der Krise; den Konsequenzen, die wir für die Organisation transnationaler Solidarität ziehen und der Resilienz unserer Verfassungen in der Krise.

Der Weg aus der Krise muss sozial sein

Um die Krise zu meistern und den eingangs geschilderten düsteren Szenarien zu entgehen, kommt es darauf an, die absehbaren sozialen Folgen, die sich aus der ökonomischen Vollbremsung zur Eindämmung der Pandemie ergeben, aktiv zu bewältigen. Anderenfalls droht sich der Vertrauensverlust gegenüber den öffentlichen Institutionen abermals zu verstärken. Ein weiterer Aufschwung rechtspopulistischer Parteien wäre die absehbare Folge. Die Corona-Krise bietet aber auch die Gelegenheit, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen und soziale Ungleichheit auszugleichen.

Vollmundig werden dieser Tage Kassiererinnen und Kassierer, Pflegerinnen und Pfleger als „Heldinnen und Helden des Alltags“ gefeiert, während zugleich mehrere Großkonzerne (darunter zunächst auch Adidas) angekündigt haben, unter Berufung auf die zu erwartenden Gewinneinbrüche ihre Mietzahlungen auszusetzen. Die Corona-Krise sollte vor diesem Hintergrund Anlass sein, das fatale Missverständnis der vergangenen Jahrzehnte zu korrigieren, wonach als systemrelevante Leistungsträgerinnen und Leistungsträger einer Gesellschaft vornehmlich jene gelten, die ohnehin in privilegierten Positionen arbeiten oder selbst Arbeitsplätze kreieren können. Dass die Löhne gerade im Einzelhandel, im Gesundheitssektor und bei den Paketboten seit Jahren deutlich unter dem Durchschnitt der Bevölkerung liegen, war schon bisher Ausdruck einer massiven sozialen Schieflage und eines fatalen Missverständnisses über gesellschaftliche Wertschöpfung. In Zeiten von Corona wirkt diese Schieflage geradezu zynisch. Vertrauen kann hier nur gewonnen werden, wenn gesellschaftliche Wertschöpfung neu diskutiert und gewürdigt wird. Das Grundgesetz bietet für eine solche Neujustierung nicht nur hinreichend Raum, es gibt in Form des Sozialstaatsprinzips auch Orientierung. Die soziale Seite des demokratischen Bundesstaates umfasst eben nicht nur die Gewährleistung staatlicher Leistungen, sondern auch die soziale Ausgestaltung des Wirtschaftssystems insgesamt. In diesem Lichte sollte es selbstverständlich sein, bei der Abfederung der Krisenfolgen nicht allein auf die großen, als „systemrelevant“ geadelten Unternehmen und die Instandhaltung der Aktien- und Finanzmärkte zu schauen, sondern gerade auch die sozialen Folgen an der gesellschaftlichen Basis in den Blick zu nehmen. 

Die Corona-Krise verdeutlicht mit Wucht die Defizite im Gesundheitswesen, die weit über die Unterbezahlung des Pflegepersonals hinausgehen und auf das Verhältnis zwischen Markt und Staat hinweisen. Nirgendwo sonst zeigt sich so eindrücklich, wie stark dieses Verhältnis sich in den letzten Jahren gerade im Bereich der Daseinsvorsorge zugunsten des Marktes verschoben hat. Daseinsvorsorge und marktorientierte Effizienzsteigerungen lassen sich aber nur schwer miteinander vereinbaren, weil Kosteneinsparungen letztlich auf Kosten der Qualität und der Verfügbarkeit öffentlicher Leistungen gehen. Die über die letzten Jahre verfolgte Politik der Privatisierungen und Liberalisierungen ist aber weder Naturgesetz noch verfassungsrechtlich geboten. Im Gegenteil, das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral und überlässt die konkrete Ausgestaltung des Verhältnisses von Markt und Staat den politischen Entscheidungsträgern, gibt aber mit dem Sozialstaatsprinzip die Richtung für eine hinreichende Gewährleistung sozialer Daseinsvorsorge vor. Die Corona-Krise stellt eine Gelegenheit dar, diese Verfassungsprinzipien zu aktualisieren und das Verhältnis von Staat und Markt in einer Weise neu auszutarieren, die auch das Vertrauen in staatliche Institution neu zu begründen vermag. 

Wie in jeder Krise sind auch in der Corona-Krise jene, die schon bisher besonders prekär lebten, in besonderer Weise betroffen und gefährdet. Es ist bestürzend, wie schnell das Elend in den Flüchtlingslagern an den europäischen Außengrenzen aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwindet und wie rabiat wir in den Zeiten der Krise bereit sind, selbst notstandsfeste völkerrechtliche Verpflichtungen an den Europäischen Außengrenzen über die Klinge springen zu lassen (dazu hier), ohne ernsthaft über Alternativen nachzudenken, die Flüchtlingsschutz mit Gesundheitsschutz in Einklang bringen würden. Der menschenrechtsbasierte Flüchtlingsschutz ist aber inzwischen zentraler Bestandteil europäischen Verfassungsrechts geworden und über die EMRK und Art. 18 EU-Grundrechte-Charta abgesichert. Die neuen Herausforderungen durch die Corona-Krise lassen das Ausgeliefertsein der Flüchtlinge und die unhaltbaren hygienischen Zustände in den Hotspots an den Außengrenzen besonders deutlich zu Tage treten. Es ist an der Zeit, das europäische Verfassungsrecht hier wirksam in Anschlag zu bringen und unter Beweis zu stellen, dass der Menschenrechtsschutz in Europa kein Schönwetterphänomen ist.

Transnationale Solidarität neu denken

Die Corona-Krise bietet zweitens eine Gelegenheit, transnationale Solidarität neu zu denken. In der Corona-Krise zeigt sich, wie existenziell die globale Arbeitsteilung inzwischen geworden ist, wie abhängig wir nicht nur in unseren ökonomischen Produktionsprozessen, sondern insbesondere auch in unserer gesundheitlichen Grundversorgung von internationalen Lieferketten sind. Während bisher die Frage nach dem Schutz der Menschenrechte entlang der Lieferkette oftmals eher als schmuckes Beiwerk betrachtet wurde, illustriert die Corona-Krise, dass wir an menschenwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen auf der ganzen Welt auch ein massives Eigeninteresse haben. Wenn in den zahlreichen Produktionsstandorten dieser Welt das Coronavirus angesichts unterausgestatteter Gesundheitssysteme und mangelnder Grundversorgung ungebremst einschlägt, wird dies massive Auswirkungen auf die europäischen Volkswirtschaften haben, die auf Lieferungen aus der ganzen Welt angewiesen sind. Es wird also von den Gesundheits- und Sozialstandards in den Staaten entlang der verzweigten Lieferketten abhängen, wie stark die europäischen Volkswirtschaften von der Krise getroffen und im Wiederaufbau gebremst werden. Dies lässt für den Moment wenig Gutes erahnen. Es könnte aber eine Gelegenheit sein, ein globales Interesse an menschenwürdigen und gesunden Lebens- und Arbeitsbedingungen zu wecken, zu institutionalisieren und damit den globalen Respekt für soziale Rechte zu stärken. Dies gilt angesichts des globalen Ausmaßes des Coronavirus erst recht für den Aufbau verbesserter Kooperationsstrukturen und Kapazitäten im Gesundheitssektor. Wie wichtig eine globale Vernetzung und gemeinsame Ressourcen hier wären, zeigt sich aktuell besonders deutlich.

Neben der globalen Dimension offenbart die Corona-Krise auch einmal mehr, wie eminent wichtig eine europäische Lösung im Lichte einer per definitionem grenzüberschreitenden Gefahr ist. Koordinationsprobleme und der Streit um die Finanzhilfen dominieren für den Moment das Bild. In Wirklichkeit aber bietet die Corona-Krise eine außergewöhnliche Gelegenheit, neue Legitimation für unionsweite Kooperationsprojekte zu stiften und europäische Solidarität zu stärken. Die Fehler der Eurokrise, die die Mitgliedstaaten de facto auseinander trieb, dürfen hier nicht wiederholt werden. Stattdessen müssen die Kosten dieser Krise gemeinsam getragen und die Konsequenzen gemeinsam gezogen werden. Verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte gibt es auch hier: Art. 3 EUV formuliert das Ziel, das Wohlergehen der Völker der EU zu fördern, soziale Ausgrenzungen und Diskriminierung zu bekämpfen und soziale Gerechtigkeit zu fördern. Solidarität gilt als europäisches Verfassungsprinzip. Diese hehren Ziele sind in der Eurokrise kaum mit Leben gefüllt worden und stattdessen einer Logik der Schuldzuweisung gewichen. Nun aber geht es um die Folgen eines Virus, für das keinem die Schuld zugeschoben werden kann. Dies ist eine hervorragende Gelegenheit, Solidarität und soziale Gerechtigkeit in der EU mit neuem Leben zu füllen. Auch hier ist nichts zwangsläufig, aber vieles möglich, sofern es gelingt, ein politisches Bewusstsein zu stiften und einen politischen Willen zu stiften.

Resiliente Verfassungen als Orientierungsrahmen für den Weg aus der Krise

Das europäische und nationale Verfassungsrecht bilden den Rahmen, in dem die nun anstehenden politischen Entscheidungen zu treffen sind. Verfassungen als bewahrende Orientierungsrahmen stehen allerdings in einem direkten Spannungsverhältnis zur Krisenlogik, die mit ihrem beschleunigten Entscheidungsdruck darauf dringt, hinderlich erscheinende Grenzziehungen und bewusst eingebaute Reflexionsschleifen des demokratischen Prozesses auszuschalten. Verfassungen laufen daher in schweren gesellschaftlichen Krisen stets Gefahr, durch andere Referenzrahmen und Identifikationssymbole ersetzt zu werden, wie sich in den beliebten Verweisen auf das Volk und die Nation zeigt. Ihre Funktion als „normatives Skript“ können Verfassungen über eine Krisenphase hinaus nur erfüllen, wenn sie Resilienz entwickeln, also die Krise überstehen, ohne ihre Normativität zu verlieren. 

Dies kann nur gelingen, wenn wir uns klar machen, dass verfassungsrechtliche Analysen nicht politisches Entscheiden ersetzen. Sie liefern keinen Königsweg aus der Krise, sondern nur einen normativen Handlungsrahmen, der Grenzen zieht und Gestaltungsaufträge beinhaltet. Was die konkreten Normen einer Verfassung verlangen, ist dabei keineswegs fixiert. Krisen sind vielmehr historische Wegmarken, an denen die konkrete Bedeutung einzelner Verfassungsnormen konflikthaft neu verhandelt wird. Es sind gerade diese Konflikte, in denen unterschiedliche Akteure die Verfassung für unterschiedliches in Anspruch nehmen, die die Normativität der Verfassung auch in der Krise aufrechterhalten. Der gemeinsame, wenngleich inhaltlich unterschiedliche Bezug auf die Verfassung verbindet die Akteure dabei zur politischen Ordnung. Resiliente Verfassungen müssen also Kontinuität und Wandel zugleich leisten.

Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Verfassungsmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen, Ladenschließungen, Datenschutz und Kompetenzverschiebungen zugunsten der Exekutive (unter anderem hier, hier, hier und hier) sind daher keine verfassungsrechtliche Nabelschau. Im Gegenteil, sie sind von zentraler verfassungspolitischer Bedeutung, ganz unabhängig davon, zu welchem Ergebnis man in der Bewertung konkreter Maßnahmen kommt. Sie sollten dringend auch um unionsverfassungsrechtliche Auseinandersetzungen ergänzt werden. Solche Debatten ermöglichen es, auch unter akutem Handlungsdruck klarzustellen, dass die Verfassung Grenzen setzt und das Diktum „Not kennt kein Gebot!“ in einem demokratischen Rechtsstaat selbst dann nicht gilt, wenn es um ein katastrophales Naturereignis mit potentiell vielen tausend Toten geht. Außerdem wird die Verfassung dadurch als normativen Referenzrahmen auch in der akuten Krise präsent gehalten. Wie dieser Handlungsrahmen gefüllt wird, bleibt indes eine genuin politische Entscheidung.

In diesem Sinne sollte die politische Debatte sich nicht auf einen angstgetriebenen, apokalyptischen Abgesang aller liebgewonnen Freiheiten und Strukturen verengen, sondern unseren Möglichkeitshorizont erweitern. Es geht dabei nicht um utopische Traumtänzerei, sondern darum, so etwas wie praktische Hoffnung (Martha C. Nussbaum) zu entwickeln. Eine Hoffnung also, die mit konkretem Handeln im hier und jetzt eng verbunden ist und darum die Aufmerksamkeit auf das Gestaltbare legt. Praktische Hoffnung in diesem Sinne ist das Gebot der Stunde.

Dieser Artikel ist auch in englischer Sprache erschienen.

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