07 December 2023

Wie lange dauert eine Autobahndemo?

Behördliche Gefahrenprognosen zur Dauer von Versammlungen auf Autobahnen auf dem Prüfstand

Bei versammlungsrechtlichen Eilanträgen müssen Verwaltungsgerichte in kurzer Zeit komplexe Sachverhalte gerechten Lösungen zuführen – dies gilt in besonderer Weise bei Versammlungen auf Autobahnen. Oftmals entscheidendes Kriterium ist dabei, für welchen Zeitraum eine Autobahn für eine Versammlung gesperrt werden müsste. Angesichts dieser Frage wirken viele Verwaltungsgerichte häufig seltsam hilflos und übernehmen die behördlichen Gefahrenprognosen allzu unkritisch, was zu voreiligen Verboten von Versammlungen auf Autobahnen führt. Tatsächliche Evidenz wird dabei kaum berücksichtigt, auch weil sie kaum vorhanden ist. Zeit, dass sich das ändert.

Freihändige Abwägungen statt strenger gerichtlicher Überprüfung

Versammlungen auf Autobahnen, üblicherweise Fahrradaufzüge, sind nicht zuletzt durch die Klimaproteste seit 2019 und ein gesetzgeberisches Pauschalverbot im neuen Versammlungsgesetz NRW vermehrt Gegenstand verwaltungsgerichtlicher Eilverfahren und auch von Verfassungsbeschwerden vor dem VerfGH NRW geworden. In ständiger Rechtsprechung unter Verweis auf den Brokdorf-Beschluss stellt das BVerfG strenge Anforderungen an behördliche Gefahrenprognosen, namentlich sind „konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus“ (BVerfG, u.a. Beschluss vom 20.4.2017 – 1 BvR 2794/10, Rn. 23). Auch diese „prognostischen Elemente“ unterliegen einer uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle (2 BvR 1754/14, Rn. 53).

Diese verwaltungsgerichtliche Kontrolle, gerade bei den üblichen summarischen Prüfungen in Eilverfahren, sieht im Falle von Versammlungen auf Autobahnen zumeist so aus, dass ein ganzes Bündel an Kriterien in einer Gesamtabwägung miteinander verwoben wird, die dann mehr oder minder freihändig in ein Abwägungsergebnis münden: Der Versammlungszweck und sein Bezug zur Autobahn, Tag und Uhrzeit, die Länge und Bedeutung des betreffenden Autobahnabschnitts, die Anzahl der Anschlussstellen bzw. Autobahnkreuze, Ausweichmöglichkeiten für den Verkehr, die Vorhersehbarkeit und Vorbereitungszeit, die erwartete Teilnehmendenanzahl sowie ggf. spezifische Begleitumstände (Baustellen, Festivals, etc.). Ein besonders großes Gewicht kommt jedoch üblicherweise der erwarteten notwendigen Dauer der Autobahnsperrung zu.

Gutgläubige Verwaltungsgerichte?

Der weit überwiegende Teil der Verwaltungsgerichte lässt den Polizei- und Ordnungsbehörden bei der Prognose dieser Sperrdauern freie Hand – und vernachlässigt dabei die notwendig strenge gerichtliche Kontrolle. Darf man einigen Verwaltungsgerichten Glauben schenken, so würden manche Versammlungen auf Autobahnen ein beinahe nicht enden wollendes Verkehrschaos verursachen – in der Konsequenz wurden die Eilanträge in diesen Fällen stets abgelehnt und die Fahrradaufzüge blieben verboten:

Das OVG NRW nahm für einen Abschnitt von ca. 8,8km auf der A555 eine Sperrdauer von acht Stunden an (15 B 1370/17, Rn. 23). In einem anderen Beschluss hält das OVG NRW eine Sperrung der A46 von fünf Stunden für einen Autobahnabschnitt, dessen Länge nicht genannt wird, für erforderlich (15 B 1445/21, Rn. 14). Für einen immerhin knapp 19km langen Abschnitt der A39 erachtet das OVG Niedersachsen die Einschätzung der beteiligten Autobahn GmbH für realistisch, wonach die Strecke für fünf bis sieben Stunden gesperrt werden müsste (10 ME 52/23, Rn. 12 bei juris). Das VG Karlsruhe hält eine Prognose der Polizei für nachvollziehbar, wonach der rund 10km lange Abschnitt der A656 zwischen Heidelberg und Mannheim für „mindestens einen halben Tag gesperrt werden“ müsste (7 K 8662/17, Rn. 18). Das VG Augsburg rechnet für einen Abschnitt der A8 von 2km Länge mit einer Sperrung von sechseinhalb Stunden (Au 8 S 23.309, Rn. 7, 34).

Daneben gibt es auch eine Reihe anderer Verwaltungsgerichte, die sich ebenfalls die behördlichen Prognosen zur Sperrdauer von Versammlungen zu eigen machen – bloß mit dem Unterschied, dass diese realistischer wirken: Das OVG Sachsen-Anhalt rechnete im Jahr 1993 mit 30-45 Minuten für 7km Strecke (2 M 24/93, Rn. 9 bei juris). Der VGH Hessen ging davon aus, dass ein Fahrradaufzug für 1,4km ca. 20 Minuten benötige (2 B 1359/13, Rn. 9). Der VGH Bayern beanstandete eine Prognose von ca. 90 Minuten für eine Strecke von immerhin 17,2km nicht (10 CS 21.2196, Rn. 19, 12).

Fehlende Evidenz erschwert gerichtliche Kontrolle

Unabhängig davon, ob Behörden realistische Sperrdauern prognostizieren oder nicht, stellt es ein Problem der notwendigen strengen gerichtlichen Kontrolle dar, dass Verwaltungsgerichte die Angaben der Behörden oft unkritisch übernehmen. Zugegebenermaßen verbleiben den Gerichten in den klassischen Eilverfahren oft nur Tage, wenn nicht Stunden, und damit nicht ausreichend Zeit für eine umfangreiche (Über-)Prüfung des Sachverhalts und der behördlichen Sperrprognose.

Besonders problematisch in dieser Situation ist, dass die Gerichte sich erst über behördliche Prognosen hinwegsetzen müssten, um zu sehen, ob diese tatsächlich nicht tragen – und sich damit gewissermaßen gegen den (professionellen) Rat wenden. Dieses Risiko mögen viele Kammern, zumal in Eilverfahren, scheuen. Ein freihändiger Plausibilitäts-Check kann den dargelegten verfassungsrechtlichen Maßstäben gleichwohl nicht genügen. So bleiben Fragen zur Vereinbarkeit der verwaltungsgerichtlichen Praxis mit den Vorgaben des BVerfG offen.

Evidenzbasiertes Musterbeispiel aus dem Norden

Einen sachgerechten und evidenzbasierten Umgang mit den Vorgaben des BVerfG hat dagegen das VG Oldenburg anlässlich eines Fahrradaufzugs über die A28 im April 2023 gefunden: Nach einem Verbot der Teilstrecke über die Autobahn durch die Versammlungsbehörde stellte die Versammlungsleitung einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht. Die Behörde legte im Eilverfahren ihre Gefahrenprognose dar, wonach der betreffende Abschnitt der Autobahn von 7km Länge für vier bis fünf Stunden gesperrt werden müsste. Die hinzugezogene Autobahn GmbH schlüsselte in ihrer Stellungnahme die einzelnen Maßnahmen für die Sperrung der A28 detailliert und mit Zeitangaben auf und kam ebenfalls auf eine gesamte Sperrdauer von mindestens vier Stunden (Stellungnahme vom 20.04.2023, S. 4).

Der Antragsteller legte daraufhin Daten anderer Autobahnsperrungen anlässlich von Fahrradaufzügen vor, die Anfragen nach dem (Umwelt-)Informationsfreiheitsgesetz bei den betreffenden Polizeibehörden ergeben hatte. Unter eingehender Würdigung dieser befand das VG Oldenburg wie folgt und gab dem Eilantrag im Ergebnis statt:

„Hinsichtlich des insoweit anzunehmenden Zeitaufwands für die Sperrung dürfte sich hier ein Vergleich mit der Fahrrad-Demonstration auf der A7 am 6. Juni 2021 anbieten. […] Die Gesamtlänge betrug 8,8 km. Nach der Mitteilung des Polizeipräsidiums Osthessen war die Autobahn für diese Versammlung von 9:33 Uhr bis 11:55 Uhr gesperrt, mithin für zwei Stunden. Anlässlich des Umstands, dass bei der streitgegenständlichen Versammlung auf der A28 zwischen der Anschlussstelle Wechloy und der Anschlussstelle Neuenkruge auf einer Strecke von insgesamt 7 km lediglich zwei Anschlussstellen – und nicht drei wie im Fall in Hessen – und zudem für eine kürzere Teilstrecke eine Sperrung erforderlich ist, ist nicht ersichtlich, dass und warum die Sperrung hier vier bis fünf Stunden andauern und damit der doppelte Zeitaufwand erforderlich sein soll.“ (VG Oldenburg, Beschluss vom 21.04.2023, Az. 7 B 1106/23, Rn. 26)

Der Vergleich mit den tatsächlichen Sperrdauern vergleichbarer Versammlungen auf Autobahnen zog somit die polizeiliche Gefahrenprognose erheblich in Zweifel. Die Beurteilung des VG Oldenburg zeugte dabei von Gewissenhaftigkeit bei der Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und war auch im Ergebnis vollkommen zutreffend, wie sich herausstellen sollte: Eine Abfrage bei der zuständigen Polizeibehörde offenbarte im Nachhinein, dass der Fahrradaufzug tatsächlich nur exakt eine Stunde und 44 Minuten für die Strecke brauchte, und damit rund ein Drittel der von der Polizei in ihrer Gefahrenprognose veranschlagten Zeit. Auch die Autobahn GmbH, deren täglich Brot solche Prognosen eigentlich sein sollten, überschätzte die tatsächliche Sperrdauer drastisch.

Tatsächliche Sperrdauern für Versammlungen auf Autobahnen

Eine Reihe von Anfragen nach den jeweiligen (Umwelt-)Informationsfreiheitsgesetzen, die der Autor des Beitrags im Verlauf des Jahres bei Polizeibehörden in ganz Deutschland über das Portal FragDenStaat gestellt hat, vermittelt einen Eindruck der tatsächlichen Dauer von Fahrradaufzügen auf Autobahnen. Wenngleich (fast) jede Versammlung individuell ist, so lassen sich doch Gemeinsamkeiten erkennen: Mit Ausnahme mehrerer Versammlungen im Zusammenhang mit einer sog. Sternfahrt im August 2023 im Raum Frankfurt a. M./Wiesbaden, bei der insgesamt vier Aufzüge an einem Tag über Autobahnen stattfanden und sich mutmaßlich gegenseitig aufeinander auswirkten, dauerte keine der Autobahnsperrungen länger als zwei Stunden. Bei mehreren Aufzügen dauerte die Sperrung der Autobahn nur rund eine halbe Stunde. Die Abschnitte waren teils im Stadtgebiet (z.B. A100 in Berlin), teils nicht. Die Abschnitte waren jeweils nicht länger als 10km, wobei die Länge zwar in der Tendenz, aber nicht unbedingt mit einer längeren Sperrdauer korrelierte.

Sämtliche aufgeführten Anfragen über FragDenStaat können hier abgerufen werden.

„Gegenindizien“ für kritische und evidenzbasierte Prüfungen

Mangels verfügbarer Evidenz fehlte vielen Verwaltungsgerichten bislang die Möglichkeit, behördliche Gefahrenprognosen für die Sperrung von Autobahnen für Versammlungen einer angemessen kritischen Prüfung zu unterziehen. Angesichts der aufgeführten tatsächlichen Sperrdauern scheinen viele behördliche Prognosen für die Sperrung von Autobahnen (teils deutlich) übertrieben.

Neben der erforderlichen strengen Prüfung hat das BVerfG auch die Notwendigkeit einer unvoreingenommenen Prüfung hervorgehoben:

„Gibt es neben Anhaltspunkten für die von der Behörde oder den Gerichten zu Grunde gelegte Gefahrenprognose auch Gegenindizien, so haben sich die Behörde und die Gerichte auch mit diesen in einer den Grundrechtsschutz hinreichend berücksichtigenden Weise auseinanderzusetzen [m. w. N.].“ (BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 7. November 2008 – 1 BvQ 43/08 –, Rn. 21)

Die Ergebnisse der Abfragen stellen hoffentlich solche „Gegenindizien“ gegenüber übertriebenen behördlichen Sperrprognosen dar und bieten damit Anlass und Grundlage für Verwaltungsgerichte, künftig eine kritische und evidenzbasierte Prüfung, auch wenn sie im Eilverfahren nur summarisch ist, vorzunehmen.

Bei all dem gilt es, die Verhältnismäßigkeit von Autobahnsperrungen nicht aus dem Auge zu verlieren: Staus sind auf deutschen Autobahnen alltäglich – der ADAC zählte im Jahr 2022 insgesamt ca. 474.000 Staus – und müssen der Bedeutung von Art. 8 GG und gerade bei Autobahnen auch häufig genug Art. 20a GG gegenübergestellt werden. Und wenn die hessische Polizei die A67 bei Rüsselsheim für 15 Minuten sperren kann, um einer Entenfamilie über die Straße zu helfen und dabei nach eigener Aussage auf verständnisvolle Autofahrer:innen trifft, dann dürfte der Grundrechtsschutz von Versammlungen dahinter schwerlich zurückbleiben.

 

Transparenzhinweis: Der Autor engagiert sich in der Rechtshilfe-AG von Fridays for Future Deutschland und hat in dieser Tätigkeit auf Seiten des Antragsstellers an dem erwähnten Verfahren vor dem VG Oldenburg mitgewirkt.