This article belongs to the debate » Kleben und Haften: Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise
24 May 2023

Wie man eine kriminelle Vereinigung macht

Zu den Razzien gegen Mitglieder von „Letzte Generation“

Mit den bundesweiten Hausdurchsuchungen gegen Mitglieder von „Letzte Generation“ erreicht der gesellschaftliche Konflikt um die Klima-Proteste nach der Verurteilung erster Aktivist*innen zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung die nächste Eskalationsstufe. Nachdem die Staatsanwaltschaft Neuruppin bereits im Dezember vergangenen Jahres Hausdurchsuchungen bei Mitgliedern von „Letzte Generation“ wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) durchgeführt hatte und das Landgericht Potsdam die Annahme eines entsprechenden Tatverdachts im Anschluss für rechtmäßig erachtete, kam es nach Medienberichten heute erneut zu zahlreichen Hausdurchsuchungen bei Mitgliedern der „Letzten Generation“. Der Vorwurf jedenfalls gegen sieben Mitglieder von „Letzte Generation“: sich durch die Organisation einer Spendenaktion an einer kriminellen Vereinigung als Mitglied beteiligt bzw. diese unterstützt zu haben und sich dadurch nach § 129 StGB strafbar gemacht zu haben.

Strafrechtlich geht es damit jetzt nicht mehr nur um die einzelnen Protestaktion, die etwa als Sitzblockade eine strafbare Nötigung darstellen können. Kriminell soll nun bereits die bloße Mitgliedschaft bei der Gruppe  „Letzte Generation“ als solche sein.  Mit der Annahme eines Anfangsverdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verbindet sich der Vorwurf, dass es sich nicht mehr nur um das „kriminelle“ Verhalten Einzelner handelt, sondern um ein strukturelles Problem, eine Großgefahr für die Gesellschaft, die es gerade mit den schärfsten Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen gilt. Hierzu bedient man sich nun vorgelagerter Anknüpfungspunkte, indem der Zugriff des Strafrechts weit in das Vorfeld der eigentlichen Protestaktionen und damit verbundenen Rechtsgutsverletzungen verlagert wird. Damit werden nicht mehr nur die Einzelaktionen als strafbares Verhalten delegitimiert, sondern die Klima-Gerechtigkeitsbewegung im Ganzen, soweit sie sich in Zusammenschlüssen organisiert (aber auch organisieren muss), die auf zivilen Ungehorsam als Protestform setzen. Das „Feindbild Klimaaktivismus“, es nimmt mehr und mehr Kontur an.

Zum Vorwurf des § 129 StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung)

Zunächst einmal ist der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung i.S.d. § 129 StGB juristisch jedenfalls nicht völlig abwegig. Andererseits kann es keineswegs als ausgemacht gelten, dass die Mitgliedschaft bei „Letzte Generation“ tatsächlich strafbar ist. Thomas Fischer hat sich auf LTO vor einigen Tagen für eine differenzierte Betrachtung ausgesprochen. Er meint, dass die Annahme einer „kriminellen Teilvereinigung“ mit Blick auf solche Mitglieder von „Letzte Generation“ naheliege, die bereit sind, sozusagen an vorderster Front Straftaten zu begehen.

Nach allem, was man über „Letzte Generation“ weiß – Informationen über das Bündnis sind öffentlich einsehbar, die Initiative agiert weder im Verborgenen noch im Untergrund – ist es nicht völlig fernliegend, anzunehmen, dass es sich bei der „Letzten Generation“ um eine kriminelle Vereinigung handelt. § 129 Abs. 2 StGB definiert die Vereinigung als „ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.“ Daran kann mit Blick auf die interne Organisation und Arbeitsteilung in verschiedenen internen Arbeitsgruppen bei „Letzte Generation“ kaum Zweifel bestehen. Nun geht es aber nicht um irgendwelche Vereinigungen, sondern um kriminelle. Das Strafgesetz beschreibt das tatbestandsmäßige Verhalten hier dementsprechend als Gründung (§ 129 Abs. 1, S. 1, 1. Alt. StGB) oder Beteiligung als Mitglied an einer solchen Vereinigung (§ 129 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB), „deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind.“ Zwar ist der Zweck von „Letzte Generation“ sicherlich nicht auf die Begehung von Straftaten gerichtet – es ist ja nicht das Ziel, Straftaten zu begehen, sondern lediglich das Mittel, um die Bundesregierung zu weiteren Klimaschutzmaßnahmen zu bewegen. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass sich das Bündnis hierzu vor allem mit Sitzblockaden auch strafbarer Protestformen bedient und damit eine „Tätigkeit“ entfaltet, die zum Teil eben auch auf die „Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind“ (der gesetzliche Strafrahmen der Nötigung, § 240 StGB, reicht von Geldstrafe bis Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren).

Und schließlich liegt es auch nicht fern, anzunehmen, dass die Organisation einer Spendenaktion oder auch die regelmäßige Teilnahme an Treffen oder der Durchführung von Aktionen ein Sich-Beteiligen als Mitglied im Sinne des § 129 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB darstellt. Denn dafür genügt bereits die auf Dauer ausgerichtete Teilnahme an der Tätigkeit der Organisation.1) Das kann neben der Beteiligung an Planungen oder organisatorischer oder administrativer Aufgaben auch finanzielle Unterstützung, wie regelmäßige oder erhebliche Spenden sein.

Straftaten von „untergeordneter Bedeutung“

Dass eine Strafbarkeit von Mitgliedern von „Letzte Generation“ derzeit aber nicht zwingend gegeben sein muss, liegt allerdings an einem ebenfalls in § 129 StGB normierten Tatbestandsausschluss. In Absatz 3 heißt es, dass Absatz 1 nicht anzuwenden sei, „wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von „untergeordneter Bedeutung“ ist. Kuhli und Papenfuß haben in einem Aufsatz für die Kriminalpolitische Zeitung kürzlich vertreten, dass sich die Frage, ob Straftaten ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung sind, an den betroffenen Rechtsgütern orientieren muss. Handelt es sich um elementare Rechtsgüter, wie Leben, Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung, seien die Straftaten nicht von untergeordneter Bedeutung, während dies bei Eigentum oder der Willensfreiheit im Einzelfall angenommen werden könne. Aber das kann man sicherlich auch anders sehen und die Frage der „Bedeutung“ mit Blick auf andere Kriterien beurteilen. Aber das ist auch gar nicht das Problem, um das es hier gehen soll.

Einschüchterung und Abschreckung

Das „Problem“ mit den Hausdurchsuchungen ist nicht, dass Mitglieder von „Letzte Generation“ sich gegebenenfalls der Beteiligung als Mitglied an einer kriminellen Vereinigung strafbar gemacht haben oder strafbar machen können. Das Problem ist vielmehr der Tatbestand selbst und welche Auswirkungen die Annahme eines Anfangsverdachts haben kann. Bei der Strafvorschrift des § 129 StGB handelt es sich nämlich um einen Tatbestand, der (rechtspolitisch) ein anderes Ziel verfolgt, als es zunächst den Anschein hat. Nur auf den ersten Blick geht es um die Bestrafung des kriminellen Unrechts, eine kriminelle Vereinigung unterstützt zu haben bzw. durch Strafandrohung davon abzuschrecken. Der Tatbestand ist ein sogenannter „Türöffner-Paragraf“. Die Tür, die er öffnet, führt direkt in den dunklen Bereich strafprozessualer (heimlicher) Überwachungsmethoden, die zu den eingriffsintensivsten Maßnahmen gehören, die ein liberal-freiheitlicher Rechtsstaat aufzubieten in der Lage ist: Telekommunikationsüberwachung (§ 100a StPO), Online-Durchsuchung (§ 100b StPO) und akustische Wohnraumüberwachung (§ 100c StPO).

Freilich müssen diese Maßnahmen ebenso wie Hausdurchsuchungen richterlich angeordnet werden und sind – zu Recht – nur unter sehr strengen Voraussetzungen zulässig. Aber allein die mit der Annahme eines Tatverdachts der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung gem. § 129 StGB verbundene Möglichkeit, zu Hause in seinen Privaträumen durchsucht und überwacht oder am Telefon oder sonstigen mobilen Geräten abgehört zu werden, ist eine sehr, sehr heikle Angelegenheit – mit tiefgreifenden Folgen für die Betroffenen. Hier sind wir an dem Punkt, von dem aus betrachtet die „Razzien“ gegen Mitglieder der „Letzten Generation“ auf einmal in einem anderen Licht erscheinen. Es geht nicht mehr um „normale“ Ermittlungsverfahren wegen eines „normalen“ Anfangsverdachts. Es geht um den entgrenzten Zugriff des Staates auf die Kommunikation und die heimliche Ausleuchtung von Strukturen einer politischen Bewegung. Die mit den strafprozessualen Möglichkeiten verbundene Machtdemonstration des Staates ist zugleich geeignet, eine Abschreckungs- und Einschüchterungswirkung zu entfalten, die sich dabei nicht nur auf die beschuldigten Personen und Mitglieder von „Letzte Generation“ erstreckt. Menschen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren oder solche Bündnisse finanziell unterstützen wollen, die sich für Klimaschutz einsetzen, dürften es sich fortan zwei Mal überlegen, ob sie das angesichts des Strafbarkeitsrisikos und der demonstrierten Strafverfolgungsmacht wirklich tun sollten. Und das Schlimme daran ist, dass sie das in vielen Fällen auch dann unterlassen werden, wenn die Unterstützung oder das Engagement überhaupt gar nicht strafbar wäre. Diese überobligatorischen, also an sich gar nicht notwendige Freiheitseinschränkungen werden in der (Verfassungs-)Rechtswissenschaft als chilling effects bezeichnet.2) Umschrieben werden damit abschreckende bzw. einschüchternde Nebeneffekte staatlichen Handelns auf das Verhalten bzw. die Grundrechtsausübung Dritter, also nicht den eigentlichen Adressaten der staatlichen (hier: strafprozessualen) Maßnahmen. Verfassungsrechtlich wird dieses Argumentationsmuster in Form erhöhter Rechtfertigungsvoraussetzungen operationalisiert. Nun scheint es gerade im Kontext der Strafverfolgungstätigkeiten gegen Klima-Aktivist*innen angemessen, erhöhte Rechtfertigungsanforderungen gerade auch an strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen wie Hausdurchsuchungen zu fordern. Denn Klima-Protest ist ein gesellschaftlich weit verbreitetes Phänomen, das ein ideelles Feld der Grundrechtsverwirklichung insbesondere der Kommunikationsgrundrechte der Art. 5, 8 GG darstellt. Klima-Protest ist im Grundsatz Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung. Razzien und andere mögliche strafprozessuale Maßnahmen behindern die Teilhabe an dieser Form öffentlicher Meinungsbildung aber strukturell. Die Einschüchterungseffekte, die mit der intensiven Strafverfolgung einhergehen, sollten deshalb gerade hier in besonderem Maße berücksichtigt werden.

Kriminelle Vereinigung als selbsterfüllende Prophezeiung oder: wie man eine kriminelle Vereinigung macht

Bauchschmerzen bereitet (mir) schließlich noch eine weitere Sorge. Auch wenn es derzeit nicht wahrscheinlich scheint, so ist auch nicht völlig auszuschließen, dass eine Strafverfolgung auf Grundlage von § 129 StGB einen weiteren Effekt hat, der gewissermaßen eine selbsterfüllende Prophezeiung darstellen könnte. Die Rede von der „Klima-RAF“ oder „Klima-Terrorismus“ in Verbindung mit einer strafrechtlichen Konzentration auf die Organisation selbst und nicht mehr die einzelnen Mitglieder könnte ihre an sich völlig neben der Sache liegende Einordnung bzw. Zuschreibung in näherer Zukunft möglicherweise zur Realität werden lassen. Die sich nunmehr gegen das Bündnis selbst und die interne Struktur von „Letzte Generation“ richtende Strafverfolgung könnte nämlich dazu führen, dass einige Mitglieder in den Untergrund gedrängt werden, was mit weiterer Desozialisierung und Isolation verbunden ist. Das wiederum kann, worauf Katrin Höffler hier auf dem Verfassungsblog schon vor einigen Monaten hingewiesen hat („‚Klima-RAF‘ herbeireden“) zur weiteren Radikalisierung führen – so macht man dann wirklich kriminelle Vereinigungen.

References

References
1 Fischer, Strafgesetzbuch Kommentar, 70. Auflage 2023, § 129 Rn. 36.
2 Siehe hierzu die Arbeit von Staben, Der Abschreckungseffekt auf die Grundrechtsausübung (2016). Zu chilling effects durch unbestimmtes Strafrecht siehe aber auch Jahn, Bestimmtheitsgrundsatz und Wesentlichkeitstheorie im Strafverfassungsrecht: „It’s the interpretation, stupid“, in: Bäcker/Burchard (Hrsg.), Strafverfassungsrecht, 2023, S. 205, 213 und Jahn/Schmitt-Leonardy/Wenglarczyk, Chilling effects durch changierende Freiheitsräume?, in: Festschrift für Stephan Barton zum 70. Geburtstag, 2023, S. 373, 378 ff.

SUGGESTED CITATION  Wenglarczyk, Fynn: Wie man eine kriminelle Vereinigung macht: Zu den Razzien gegen Mitglieder von „Letzte Generation“, VerfBlog, 2023/5/24, https://verfassungsblog.de/wie-man-eine-kriminelle-vereinigung-macht/, DOI: 10.17176/20230524-231130-0.

13 Comments

  1. Tile Wed 24 May 2023 at 23:21 - Reply

    Die vielfachen Beiträge des Autors beunruhigen vor dem Hintergrund, dass sie sämtlich darauf ausgerichtet sind, das (wahrscheinliche) Begehen von Straftaten von Klimaaktivisten zu legitimieren bzw. nach – noch so fernliegenden – Wegen für deren Straflosigkeit zu suchen. Und das aus dem schlichten Grund, dass dem Autor das verfolgte Ziel des Klimaschutzes wichtiger zu sein scheint, als die Wahrung der Rechtsordnung. Derartige Argumentationsmuster ziehen sich durch sämtliche Beiträge, an denen Herr Wenglarczyk mitwirkt und offenbaren ein bedenkliches Rechtsverständnis, welches nicht von der Anwendung vom demokratischen Gesetzgeber beschlossener, verfassungsmäßiger Normen sondern von einer Art Gesinnungsjustiz nach den persönlichen Überzeugungen des Autors geprägt ist.

    Auch dieser Beitrag belegt dies. Wenngleich der Autor während eines Großteils seines Beitrags konstatiert, dass eine Einordnung der “Letzten Generation” als kriminelle Vereinigung durchaus vertretbar und möglich erscheint, revidiert er sämtliche damit einhergehenden Folgen mit den Gesichtspunkten einer Art Unverhältnismäßigkeit möglicher Ermittlungsmaßnahmen sowie dass durch strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen eine weitere Radikalisierung der “Letzten Generation” einhergehen könnte. Hierbei wird gänzlich ausgeblendet, dass es die Mitglieder dieser Vereinigung selbst in der Hand haben, ob sie sich weiter radikalisieren oder die ihnen drohende Strafverfolgung nicht lieber zum Anlass nehmen, ihr Agieren zu überdenken. Die Frage ihrer weiteren Radikalisierung liegt damit ausschließlich in der Hand der Mitglieder dieser Vereinigung und wird nicht – wie der Beitrag zumindest unbewusst – suggeriert durch staatliche Maßnahmen herbeigeführt. Gleiches gilt mit Blick auf die strafprozessual möglichen Ermittlungsmaßnahmen. Diese können nicht alleine dadurch rechtswidrig, unverhältnismäßig oder illegitim werden, nur weil der Klimaschutz ein hohes und bedeutendes Gut darstellt. Andernfalls gelänge man in den Bereich der Gesinnungsjustiz, wo hinsichtlich der Zulässigkeit strafrechtlicher (Ermittlungs-)Maßnahmen danach differenziert werden dürfte, ob dem jeweiligen Rechtsanwender persönlich die Einstellung des Täters zusagt und so die Straftaten weniger oder überhaupt nicht “verwerflich” erscheinen.

    Wo ist da noch die Grenze zur Willkür?

    • Fynn Wenglarczyk Thu 25 May 2023 at 08:37 - Reply

      Liebe/-r Leser,
      das kann ich so leider nicht stehen lassen. Ich habe nicht die Intention, Straftaten von Klima-Aktivist*innen zu legitimieren, sondern setzte mich mit den zugrunde liegenden rechtlichen Fragestellungen auseinander. Ich habe verschiedentlich darauf hingewiesen, dass etwa eine Rechtfertigung von Straftaten mit Blick auf den Vorrang des staatlichen Gewaltmonopols kritisch zu sehen ist. Gleichwohl versuche ich aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen auch Ausnahmen vom Vorrang staatlicher Gefahrenabwehr anerkannt werden können – wenn Regeln prozeduraler Gleichheit verletzt werden, also etwa, wenn die natürliche Basis, auf dem das Politische überhaupt erst entstehen kann, droht, irreversibel zerstört zu werden und eine jetzige Minderheit diese Entscheidung als möglicherweise spätere parlamentarische Mehrheit wieder rückgängig machen kann. Ob das bereits jetzt der Fall ist, lasse ich offen. Die Kategorie des “Staatsversagens” muss weiter konturiert werden. Auch verkenne ich nicht, dass das BVerfG eine Schutzpflichtverletzung, die ebenfalls eine Ausnahme vom Vorrang staatlicher Gefahrenabwehr begründen könnte, im Klima-Beschluss gerade nicht festgestellt hat. Das alles sind grundsätzlich im Übrigen keine neuen Gedanken, sondern von sehr klugen Köpfen bereits in den 1980er Jahren publiziert (Frankenberg, JZ 1984, 266).

      Was mich mit Blick auf die Strafverfolgung und die Reaktionen umtreibt, ist die Härte, die gesetzlich nicht zwingend ist. Etwa auf § 153a StPO zu verweisen oder auf den gesetzlichen Telos der Vorschriften über die Strafaussetzung zur Bewährung ist ein Hinweis auf das Recht, nicht auf meine “Gesinnung” oder meine “persönlichen Überzeugungen”. Die Annahme eines Anfangsverdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung ist nicht undenkbar, aber eben auch nicht sicher. Prof. Dr. Dr. Kuhli, Judith Papenfuß und auch Prof. Dr. Jahn haben kürzlich darauf hingewiesen, dass die Straftaten der Klima-Bewegung Straftaten von “untergeordneter Bedeutung” iSd § 129 Abs. 3 Nr. 2 StGB sind. Das sehe ich auch so. Herr Fischer sieht das (differenziert) anders. In Ordnung. Ich bin aber weiterhin der Überzeugung, dass Hausdurchsuchungen und etwa die Beschlagnahme der Internetseite von “Letzte Generation” verfassungsrechtlich kritisch zu sehen ist, weil hier Grundrechtsausübung nicht nur von Mitgliedern von “Letzte Generation” unmöglich gemacht wird und darüber hinaus auch von der Wahrnehmung von Kommunikationsgrundrechten abgeschreckt wird.

      Wenn Sie mögen, können wir das gerne im Rahmen einer Veranstaltung weiter diskutieren oder Sie schreiben mir eine E-Mail. Der Zeitaufwand, mich über die Kommentarfunktion weiter damit auseinanderzusetzen, ist mir zu groß. Ich spreche am 15. Juni 2023 etwa an der Universität Halle bei der Tagung “Junges Nachhaltigkeitsrecht” – ich würde mich freuen, wenn Sie dort in ein Gespräch mit mir einsteigen würden.

      Freundliche Grüße
      Fynn Wenglarczyk

      • Fynn Wenglarczyk Thu 25 May 2023 at 08:41 - Reply

        * ich meine an der einen Stelle: “(…) nicht wieder rückgängig machen kann”

      • Florian Maier Thu 25 May 2023 at 12:29 - Reply

        Lieber Herr Wenglarczyk,

        man stelle sich vor ein überzeugter Reichsbürger nimmt die umfassende (und staatlich begünstigte) Medienberichterstattung rund um die Festnahme seines Königs in spe wahr und fühlt sich nun staatlich zurechenbar entmutigt, für seine Vorstellung eines Königreich Deutschlands durch Meinungskundgaben, Versammlungen etc. einzutreten.
        Wäre das Ihrer Meinung nach auch ein Argument gegen die Hausdurchsuchungen, Festnahmen etc.? Oder gilt ihr Argument nur für Anliegen, die Sie persönlich bzw. eine Mehrheit der Gesellschaft für besonders “wertvoll” erachten?
        Und weiter: Angenommen dieser Reichsbürger sieht sich durch die Maßnahmen nun endgültig bestätigt, dass die Deutschland GmbH mit Waffengewalt bekämpft werden muss, sind hierfür dann auch die polizeilichen Maßnahmen verantwortlich?

        VG

        • Tobias Thu 25 May 2023 at 14:07 - Reply

          Es sollte bei der Diskussion nicht aus den Augen verloren werden, worum es den Gruppen, die Sie hier vergleichen, geht: die LG stellt konkret geradezu rührend zahme Forderungen (Tempolimit, 9-Euro-Ticket, Gesellschaftsrat), und strebt darüber hinaus an, dass die BuReg die verfassungsrechtlichen und einfachrechtlichen Vorgaben zum Thema Klimaschutz einhält. Die Reichsbürger wollen die verfassungsmäßige Ordnung beseitigen, und dazu auch Waffengewalt nutzen.

          Dieser Unterschied hat nicht nur Konsequenzen in einer moralischen Beurteilung, sondern auch für die konkrete rechtliche Betrachtung: denn ob die Nötigungen der LG tatsächlich eine im Rechtssinn “verwerfliche” Zweck-Mittel-Relation aufweisen (was für eine Nötigung indes erforderlich wäre), scheint mir im Hinblick auf die explizit rechtskonformen Ziele der LG nicht ausgemacht, und wird wohl letzten Endes vor dem BVerfG landen. Vor diesem Hintergrund halte ich die Einordnung der LG als kriminielle Vereinigung iSv “Klima-Terroristen” für äußerst fragwürdig, und auch aus verfassungsrechtlicher Sicht für problematisch.

      • Tile Thu 25 May 2023 at 14:14 - Reply

        Lieber Herr Wenglarczyk,

        vielen Dank für Ihre weiteren Ausführungen. Gerne werde ich – sofern es terminlich möglich ist – entsprechenden Diskussionsformaten teilnehmen oder bilateral auf Sie zukommen.

    • cornelia gliem Thu 25 May 2023 at 13:46 - Reply

      “Die Frage ihrer weiteren Radikalisierung liegt damit ausschließlich in der Hand der Mitglieder dieser Vereinigung und wird nicht – wie der Beitrag zumindest unbewusst – suggeriert durch staatliche Maßnahmen herbeigeführt.” – das mag individuell richtig sein, gilt aber nicht für gesellschaftliche Folgen. Quasi aus der Perspektive der public health – welchen Sinn machte es, wenn staatliches Vorgehen erst Radikale schafft?

    • Maria Thu 25 May 2023 at 18:58 - Reply

      Bei Ihrem Vorwurf der „Gesinnungsjustiz“ und der Gesetzesauslegung nach den „persönlichen Überzeugungen des Autors“ verkennen Sie dreierlei: Erstens handelt es sich bei Jura nicht um eine Natur-, sondern um eine Geisteswissenschaft. Es gibt keinen „quasi-naturgesetzlichen“ Subsumtionsautomatismus, sodass es selbstredend auf Wertungen innerhalb eines festgesetzten Rahmens ankommt. Zweitens ist es die Errungenschaft unseres modernen Strafrechts, dass wir Handlungen nicht losgelöst vom Ansinnen und den Motiven der Tatbegehenden bewerten. Drittens sind dem Strafgesetzbuch Gesinnungsmerkmale in ausgewählten Tatbeständen keineswegs fremd. Dazu zählt – etwa neben dem Mordparagraphen – auch der Tatbestand der Nötigung („Zweck-Mittel-Relation“), der bei den Aktionen der „Letzten Generation“ zuvörderst im Raum steht. Ironischerweise geht Ihre Befürchtung genau dahin: dass wir „in den Bereich der Gesinnungsjustiz“ kommen, „wo […] danach differenziert werden dürfte, ob […] die Straftaten weniger oder überhaupt nicht „verwerflich“ erscheinen“. Allein: Die Verwerflichkeitsklausel im Nötigungstatbestand ist bereits geltendes Recht.

      Angesichts eines Zweckes, der vom BVerfG als verfassungsrechtlich geboten hervorgehoben wurde und angesichts der hohen Grundrechtssensibilität (Versammlungsfreiheit) erscheint es durchaus zweifelhaft, ob man eine solche Verwerflichkeit hier bejahen kann – darüber mag man durchaus streiten, die divergierenden Gerichtsentscheidungen sind Ausdruck dessen. Nur: Vor diesem Hintergrund müsste Ihnen einleuchten, dass es bei der (strafrechtlichen) Bewertung eben einen erheblichen Unterschied macht, ob die Motivation der Klimaschutz ist oder das von Ihnen angeführte monarchistische Bestreben aus der Reichsbürgerszene, das mit unserer demokratisch-republikanischen Verfassung nicht vereinbar ist.

      • Weichtier Fri 26 May 2023 at 21:47 - Reply

        Die Beurteilung der Motivation liegt im Auge des Betrachters. Den Hinweis auf die Reichsbürgerszene sehe ich nur als zugespitztes Argument. Im Spektrum zwischen Letzter Generation und Reichsbürgerszene ist eine Vielzahl von Gruppen vorstellbar, die für viele Betrachter hinsichtlich der Verwerflichkeit näher an der Letzten Generation als an der Reichsbürgerszene agieren könnten, und bei denen sich für viele Betrachter die Frage der Verwerflichkeit weniger eindeutig beantworten lässt als bei der Reichsbürgerszene. Das wären keine guten Aussichten für den individuellen Personenverkehr.

  2. N E Thu 25 May 2023 at 09:11 - Reply

    Die Möglichkeit der Radikalisierung einer Organisation scheint mir nicht ein taugliches Mittel, um zu Evaluieren, ob diese einer strafrechtlichen Untersuchung unterzogen werden sollte oder nicht. Letztlich besteht diese Gefahr bei praktisch allen Gruppen, die man möglicherweise als kriminelle Vereinigung untersuchen möchte. Soll man Untersuchungen in Reichsbürger-Gruppen, Mafia-Zellen etc. einstellen nur, weil mit dieser Untersuchung die inhärente Gefahr besteht, dass sich diese radikalisieren? Ebenfalls scheint mir die Infantilisierung der LG hier etwas merkwürdig: Ich traue es den Menschen in dieser Organisation durchaus zu, selbständig zu entscheiden, wie “radikal” sie denn nun operieren wollen.

  3. Roman B Thu 25 May 2023 at 15:43 - Reply

    Vielen Dank für diesen Beitrag und auch für Ihren wichtigen Kommentar.

    Um ein paar der kritischen Stimmen einmal mit Grundlagen des Rechts entgegenzutreten:

    Der generalpräventive Zweck von Strafe tritt im Tatbestand der kriminellen Vereinigung besonders deutlich hervor. Der Staat adressiert also insbesondere auch den unbeteiligten Bürger, der sich noch gar keine Gedanken gemacht hat, ob er vielleicht der Vereinigung beitreten möchte. Die Vereinigung selbst adressiert auch den unbeteiligten Bürger, sich zu engagieren und an der Vereinigung teilzuhaben.

    Zwischen diesen Interessen ist abzuwägen. Da wir uns im Strafrecht bewegen, ist die Abwägung auf Grund der Unschuldsvermutung zu Gunsten der Vereinigung vorgewichtet. Die Unschuldsvermutung gilt nicht absolut, sonst wären Ermittlungen gar nicht möglich. Aber die staatliche Gewalt muss sie immer und überall, sei es durch Äußerungen von Politiker:innen oder durch Hinweise des LKA Bayern auf der Webseite der LG, beachten und respektieren. Dabei muss der Staat so behutsam wie möglich vorgehen und nicht so populär wie möglich. Vorverurteilungen müssen vermieden werden, da diese mitunter irreversibel sind.

    Es gibt bislang nur einzelne Verurteilungen gegen vereinzelte Mitglieder der LG. Von Einzelfällen zur Annahme einer kriminellen Vereinigung ist es ein großer und einschneidender Schritt. Schließlich bewegt man sich weg von einer persönlichen Verhaltensstrafbarkeit hin zu einer “Statusstrafbarkeit”, in der dem Einzelnen das Verhalten anderer mittelbar zugerechnet wird. Darin liegt auch der zentrale Unterschied zu den in manchen Kommentaren gezogenen Vergleichen zu Reichsbürgern und dem darauf begründeten Vorwurf, vom Autor werde mit zweierlei Maß gemessen. Reichsbürger verüben wiederholt Straftaten von einigem Gewicht und sind bereits als verfassungsfeindlich eingestuft, hier hat sich über die Zeit also der “Verdacht erhärtet”. Über (abstruse) Vergleiche zur Mafia muss man sich denke ich gar nicht erst unterhalten.

  4. L. Marthäuser Fri 26 May 2023 at 18:57 - Reply

    Ob die (Ober-)Gerichte letztlich den Vorwurf des § 129 StGB bestätigen werden, wird sich zeigen. Zumindest vordergründig erscheint er, wie der Autor hier einräumt, so fernliegend nicht.

    Umso weniger überzeugt es, wenn er anschließend unter Verweis auf die verfolgten (Fern-)Ziele der “letzten Generation” für Zurückhaltung bei der Strafverfolgung plädiert. Wäre dieser Ansatz richtig, müssten Gerichte (bzw. aktuell Staatsanwaltschaften) letztlich über die moralische Legitimität einer Bewegung urteilen und das Ergebnis dieser Bewertung in das Strafverfahren einfließen lassen – wer, bei identischen Straftaten, “legitime” (?) Ziele verfolgt, der wird (ausnahmsweise?) nicht bestraft? Das kann nicht richtig sein.

    Außerdem werden wegen der Strafverfolgung “chilling effects” befürchtet. Das ist eher fernliegend, da sich die Ermittlungen ausdrücklich gegen die letzte Generation und ihre Unterstützer richten. Diese grenzt sich aber selbst deutlich gegen andere Klimaaktivisten ab und ist durch ihre Bezeichnung, Organisation sowie Aktionen klar von diesen zu unterscheiden. Abgeschreckt werden also höchstens Unterstützter der “letzten Generation”, nicht aber unbeteiligte Dritte.

  5. Pyrrhon von Elis Sat 27 May 2023 at 06:46 - Reply

    Einige Leute hier haben Herrn Wenglarczyk vorgeworfen, gewissermaßen “Hausjurist”
    der letzten Generation zu sein. So weit möchte ich nicht gehen und muss auch
    anerkennen, dass er zumindest versucht, Dinge dogmatisch einzuordnen bzw. zu sagen, wann etwas lediglich seine politische Auffassung ist. Das macht nicht
    jede Person hier und das kann man zumindest anrechnen, was ich auch in einem
    anderen Post schrieb.

    Dennoch halte ich den Beitrag für zumindest etwas fragwürdig in seinen Argumenten, weil sie auf’s Extrem zugespitzt JEDE Form der Strafverfolgung ausschließen könnten. “Chilling Effects” braucht niemand zu befürchten, der von seinen Rechten
    in Art. 8, 9 auf gewöhnliche Weise Gebrauch macht. Insbesondere mit der Figur der “Chilling Effects” die Strafverfolgung aufweichen zu wollen ist etwas gewagt, da die Strafrechtspflege nach dem BVerfG ein mit Grundrechten gleichrangiges Verfassungsgut ist und in Zweifelsfällen obsiegt. Insbesondere auch, da “Chilling Effects” bei Themen der Meinungsäußerung inzwischen etwas infrage gestellt werden, ich zitiere dabei diesen Artikel https://jolt.law.harvard.edu/assets/articlePDFs/v35/Bedi-The-Myth-of-the-Chilling-Effect.pdf

    Auch von einem allgemeinen “Feinbild Klimaprotest” kann nicht wirklich die Rede sein, wenn man sich etwa ansieht, wie Greta Thunberg und Fridays for Future in den allgemeinen Medien und völkerrechtlichen Institutionen hofiert werden. Feinbild sind eher die Letzte Generation speziell, was ihnen letztlich allerdings in ihrer eigenen Inszenierung gefallen dürfte.

    Was ich bei all dem nicht verstehe ist die Vehemenz, in der diese rechtlich im Grunde kaum interessante Geschichte diskutiert wird. Strafrechtsdogmatisch werden alte Kamellen gebracht (Fernwirkung, Gewaltbegriff, Bandenstrukturen) und auch verfassungsrechtlich (Sitzblockade) gibt das doch alles nix neues her.

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