This article belongs to the debate » Kleben und Haften: Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise
17 November 2022

„Klima-RAF“ herbeireden

Radikalisierung durch Labeling und Druck

Derzeit erleben wir nahezu täglich und in ganz Europa, dass junge Menschen in unterschiedlichen Formen Protest erheben, um auf den voranschreitenden Klimawandel hinzuweisen.

Sie erhalten Gegenwind, zum einen von den sogenannten Klimaleugner*innen, die vollends bestreiten, dass es den Klimawandel gibt, zum anderen aber auch „aus der Mitte der Bevölkerung“, einschließlich Repräsentant*innen der CDU/CSU, die sich nicht darauf beschränken, Verurteilungen innerhalb der Anwendung des geltenden Rechts zu fordern, sondern sogar lautstark für Strafschärfungen eintreten. Alexander Dobrindt forderte härtere Strafen für „Klima-Chaoten“, um eine Radikalisierung zu vermeiden.

4 Degrees oder “This song is not a rebel song”1)

Zu den zugrundeliegenden Sachverhalten (Festkleben an Verkehrswegen, Besetzungen von öffentlichen Räumen, Aktionen an Kunstwerken) und den daran anschließenden strafrechtlichen Bewertungen (in Frage stehen insbesondere Tatbestände wie Nötigung und Sachbeschädigung, und zuletzt – anlässlich des prominent diskutierten Falls einer verunfallten Radfahrerin – Körperverletzungs- und Tötungsdelikte) erfolgten bereits zahlreiche Diskussionsbeiträge (hier und hier), die materiell-strafrechtlichen Streitpunkte sollen hier nicht wiederholt werden. Denn sogar wenn wir als Ausgangspunkt eine eher traditionelle Lesart wählen, nämlich, dass das Festkleben an Straßen mit der Folge des Verursachen eines Staus eine Nötigung ist2) (wie z.B. früher auch st. Rspr. bei der Blockade von Castor-Transporten), stellt sich eine kriminalpolitische Frage: Sollte der Protest besonders streng geahndet werden? Da Strafverschärfungen mit einem massiv belastenden Eingriff in grundrechtlich geschützte Freiheiten einhergehen würden, müssten diese auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten in einem ersten Schritt jedenfalls geeignet sein, das Ziel (Radikalisierungsprävention) überhaupt zu erreichen.3) Das Strafrecht ist das schärfste Schwert des Staates, und dies auch und erst recht, wenn es sich als Polizeirecht verkleidet, Stichwort „Präventivgewahrsam“ in Bayern. Meine These lautet, dass selbst im Falle einer Strafbarkeit ein Labeling als Öko-Terrorismus beziehungsweise Schwerkriminalität nicht nur falsch, sondern sogar schädlich ist.

Kriminalitätstheoretische Überlegungen oder “they are young and they do care”4)

Im Fokus derzeit ist insbesondere die Vereinigung „Letzte Generation“, die zwar Mitglieder bis ins hohe Alter hat, nichtsdestotrotz sind es – gerade auch in der öffentlichen Darstellung – junge Menschen, die die Aktionen durchführen. Dies ist bei der Frage nach einer Identifizierung mit den Akteur*innen ein gewichtiger Umstand, denn sowohl die Aktivist*innen selbst wie auch die Beobachter*innen jüngeren Alters weisen zwangslogisch eine besondere Betroffenheit auf: um so jünger man ist, desto intensiver wird man den Folgen des Klimawandels ausgesetzt sein, einfach weil ältere Menschen nur noch eine kürzere Lebensdauer haben werden (dazu auch hier). Dies hat zweierlei Relevanz: Zum einen erzeugt die unmittelbar erhöhte Betroffenheit aufgrund jüngeren Alters eine stärkere Motivation, die Zukunft lebensfähig gestalten zu wollen. Zum anderen sind jüngere Menschen nach den Erkenntnissen der Entwicklungskriminologie in stärkerem Maße vulnerabel dafür, Täter*in zu werden. Diesen Befund kann man nun freilich nicht pauschal über alle Arten von Delinquenz und Menschen legen, allerdings ist dies auf gesellschaftlicher Ebene ein bekannter Befund. Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze hierfür, was zugleich ein Anzeichen dafür ist, dass die unterschiedlichen Kriminalitätstheorien mit ihren differierenden Ansatzpunkte überdurchschnittlich oft einen Anknüpfungspunkt im jugendlichen/jungen Alter finden: Erhöhte Begeisterungsfähigkeit (weniger Halt, weniger (ausbalancierte5)) Kontrolle6)), noch weniger stark ausgeprägte Impulskontrolle, höhere Risikobereitschaft (Theory of Low Self Control7)), Lernen durch Orientierung an den peers (Theorie der differentiellen Assoziation8)) etc. Dies bringt mit sich, dass nicht nur mit Blick auf Kriminalität, sondern auch hinsichtlich anderer Ziele eine erhöhte Einsatzbereitschaft, weniger Abstumpfung, weniger Gewöhnung an die herkömmlichen Zustände der Welt vorzufinden ist.

Hinzukommt, dass es von den Protestierenden ihrerseits als quasi „kriminell“9) eingestuft wird, was derzeit der Natur, der Umwelt und damit dem Klima angetan wird, so dass das eigene Verhalten, der Protest, von ihnen konsequenterweise sogar als geboten (und nicht als deviant) eingestuft wird (Theorie der Neutralisiationstechniken10)), mit der Besonderheit, dass die angestrebten Ziele11) ja tatsächlich von großen Teilen der Bevölkerung geteilt werden.

Gewohnheitstiere mögen keine kognitive Dissonanz oder „When You Gonna Learn“12)

Ein bekannter Befund aus der Psychologie ist es, dass wir Umstände negativer Art, die mit unserem aktuellen Lebensstil konfligieren, ausblenden, und zwar, um kognitive Dissonanz zu vermeiden. Der Zustand kognitiver Dissonanz ist schlicht unangenehm; noch leichter ist das Ausblenden des Unerwünschten, Unpassenden, wenn der „unpassende Umstand“ „weit weg“ und „schwer greifbar“ ist – es wird klar, dass dies gerade bei einem Phänomen wie dem Klimawandel scheinbar besonders leicht erscheint und vielen Menschen gelingt. Hinzukommt der weitere Umstand, dass der Mensch Halt und Struktur im Gewohnten findet, eine völlig neue Sicht auf die Dinge zuzulassen, fällt schwer, und dies erst recht, wenn damit einhergeht, unter Umständen die komplette Struktur des (Wirtschafts-)Lebens anpassen zu müssen.

I need to wake up13)

Auf der anderen Seite ist der Klimawandel so existentiell, dass der Umgang mit ihm eben zentral dafür ist, ob und wie wir weiter auf dem Planeten Erde leben können. Der Klimawandel und seine Folgen bedeuten eine Zeit des Umbruchs, eine Situation die von der Gesellschaft wie auch den Einzelnen fordert, alles in Frage zu stellen und neu zu denken, neu zu leben. Nun ist es hier gerade von Vorteil, dass es jüngeren Menschen leichter fällt, Innovationen anzustoßen, neu zu denken, weniger stark in Gewohnheiten verhaftet zu sein. Es ist eine Art „positive Kehrseite“ der oben beschriebenen besonderen Vulnerabilität qua Risikofreude. Genau dieser Zustand führt dazu, dass sich große Teile der Bevölkerung eben trotz aller drohenden kognitiven Dissonanz damit auseinandersetzen, was die Klimawandelfolgen für unsere Erde bedeuten. Sie erkennen jedenfalls die ökologische Dimension der Krise in ihrer ganzen Existentialität. (Nur nebenbei: es gibt auch eine soziale Existentialität, weil Klimafolgen ungleich verteilt sind und nach unten durchgereicht werden.)

Beobachtet man die Maßnahmen der Regierungen, so muss man derzeit feststellen, dass diese – im zur Verfügung stehenden Zeitfenster – nicht ausreichen werden, um die Krise zu bewältigen. Wir können insofern für den status quo ein Bild aus der Anomietheorie (Merton/Durkheim) entlehnen: Man möchte gute Lebensumstände erreichen (und dazu gehört freilich ein Leben auf einem nicht kollabierten Planeten) und die zur Umsetzung nötigen Mittel stehen nicht zur Verfügung, weil diese – jedenfalls ganz zentral auch – auf der Meta-Ebene (Staat, große Unternehmen) getroffen werden müssen. Die Anomietheorie sieht nun bekanntermaßen fünf mögliche Reaktionsweisen vor: Konformität, Innovation, Ritualismus, Eskapismus (Rückzug)14) und Rebellion15). Während nun Großteile der zentralen Handlungsfiguren im Wirtschaftsleben in Ritualismus und Konformität verharren, finden wir eben auch Verhaltensweisen an der Grenze von Rebellion und Innovation. Diese beiden Reaktionsweisen werden üblicherweise dadurch voneinander abgegrenzt, dass bei Innovation die gesellschaftlich anerkannten Ziele noch weiterhin verfolgt werden (nur durch neue Mittel), während bei der Rebellion auch die Ziele ausgetauscht werden. Und genau an dieser Stelle zeigt sich ein ganz grundsätzlicher Punkt des derzeitigen Konfliktes: der gesellschaftliche Konsens bezüglich der Ziele verändert sich gegenwärtig; während ein Teil der Menschen noch das Aufhalten des Klimawandels unter die Bedingung des Funktionierens der freien Marktwirtschaft beziehungsweise des Kapitalismus stellt, sieht der andere Teil der Menschen das Ziel „Aufhalten des Klimawandels“ absolut, und zwar weil die Alternativlosigkeit erkannt und nicht länger ausgeblendet wurde. Nun mag es zwar auf die Perspektive der jeweils Analysierenden ankommen, allerdings ist in die Untersuchung der Umstand einzustellen, dass ein „funktionierender“ Planet die Lebensgrundlage von uns Menschen ist, und daher immer Vorbedingung für alles Folgende ist: so unter anderem für die gesellschaftlichen Systeme von Wirtschaft über Politik bis hin zum Recht. Diese Erkenntnis kann im ersten Schritt angesichts der Trägheit der Politik und Wirtschaft zu einer empfundenen Ohnmacht führen, ein Zustand, der wiederum als sehr unangenehm empfunden wird. Jeder Mensch sehnt sich nach Selbstwirksamkeit, so dass dann eben eine innovative beziehungsweise rebellische Reaktion gewählt wird, um diesen Ohnmachtszustand zu beenden.

Hinzu kommt unter Umständen auch, dass wir gerade alle, aber die jüngeren Generationen besonders eindrücklich, erlebt haben, dass doch alles plötzlich radikal anders gemacht werden kann, wenn es nur gewollt ist, Stichwort „Lockdown“, und vieles in besonderen politischen Lagen finanziert werden kann, Stichwort „Sondervermögen Bundeswehr“. Daher scheint es wohl gerade für jüngere Menschen besonders unbegreiflich, wenn die Dringlichkeit des Klimawandels nicht verstanden wird. Die Politik verliert derzeit aus dem Blick, dass sich unter jungen Menschen, die im Grundsatz doch sehr verantwortungsbewusst sind (sie wollen den Planeten retten!), zunehmend die Frage breit macht, ob der Staat der Aufgabe gewachsen ist, ihre und unser aller Lebensgrundlage zu sichern.

Under Pressure: Anomischer Druck durch Kriminalpolitik16)

Die Situation kann nun durch eine fehlgeleitete Kriminalpolitik verschärft werden: Wenn die Kriminalpolitik die Protestformen dem Terrorismus gleichstellt17) und noch schärfere Strafen einführen würde, dann kann dies dazu führen, dass sich die rebellierenden Menschen noch stärker ausgegrenzt fühlen, ohnmächtiger, was dann wiederum auch dazu führen kann, dass die Rebellion sich in ihren Mitteln verschärft, in einer Art Fatalismus.

Aber das wäre freilich ein absolutes Versagen des Staates. Denn es gehört doch zu einem demokratischen Zusammenleben, dass der Diskurs mit seinen Mitgliedern immer aufrechterhalten wird. Hierzu gehört eben, die jungen Protestierenden als das anzusehen, was sie sind: Menschen, die unseren Planeten retten möchten. Zumal die von ihnen angewandte Protestform bereits seit Jahrzehnten praktiziert wird und damit längst eine etablierte Form der politischen Kommunikation und Aktion im demokratischen Diskurs ist. Die Reaktion muss also sein, diese Stimmen zu hören, anstatt sie zu Sündenböcken (Mitscherlich 1963; Ostermeyer 1972) zu machen, sich auf die strafende Gesellschaft zurückzuziehen, die ihre eigene Ohnmacht (über die Komplexität der Aufgabe, den Klimawandel abzumildern) dadurch kaschiert, dass sie die Protestierenden abstraft.

Labeling

Die Rufe Dobrindts und Söders, Titulierungen wie „Klima-RAF“ sind keine bloßen Polemiken, sondern gefährliche Zuschreibungen, die zu einer Vertiefung der empfundenen Exklusion, zu einer weiteren Entfremdung führen können– und zeitgleich tief blicken lassen auf Hysterie und Straflust in einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung. Der anlässlich eines dringlichen Ziels (Klimawandel anhalten) strafende Staat, der Gewaltformen durch diese Bezeichnung gleichstellt, die phänomenologisch stark differieren, ist nicht integrativ, schafft kein Vertrauen in die eigene Stärke, die Klimakrise zu meistern, sondern wirkt seinerseits ohnmächtig. Das Regeln der Staus ist doch nicht die zentrale Herausforderung, sondern das Regeln der Klimawandelfolgen.

Zu bedenken ist zudem, dass die Protestierenden ihre eigenen Körper in ihrer höchstureigenen Verletzlichkeit mithineingeben, dieses Sinnbild ist bei der Interpretation der Gewalt und bei der Wahl der darauffolgenden staatlichen Reaktion – neben der Motivation: Rettung des Planeten – zu berücksichtigen.

Wenn der Staat nun überlegt sein schärfstes Schwert, das Strafrecht, sogar noch zu schärfen, speziell für Klima-Protestierende, dann sei ihm zu gerufen: Mercy Mercy Me18). Kann der Staat nicht eine echte, inhaltliche Auseinandersetzung angehen, die dazu führt, dass sich die Proteste nicht verschärfen, sondern ein Miteinander-nach-Lösungen-Suchen ermöglicht wird?19)

Straftheoretische Bedenken

Denn, und das sei ganz rational angemerkt: Die Hoffnung auf Abschreckung durch höhere Strafdrohungen wird nicht erfüllt werden; es ist ein bekannter Befund der Generalpräventionsforschung, dass nicht die Höhe der drohenden Strafen den Abschreckungscharakter der Strafe stärken, sondern wenn, dann nur ein erhöhtes Entdeckungs- und Verurteilungsrisiko, und das auch nur in geringem Maß. Es liegt wohl hoffentlich für die in Frage stehenden Fälle auf der Hand, dass sich das Risiko der Entdeckung der “Täter*innen” nicht mehr steigern lässt.

Im konkreten Feld könnte es zudem sogar in das Gegenteil umschlagen: Das (aktive) Erzeugen von Strafverfahren (durch die Aktionen) im Kontext der Rebellion kann ein Mittel ihrer selbst werden.