Schlägt das Imperium zurück? Die Straßburger Reaktion auf das EuGH-Gutachten zum EMRK-Beitritt
Jahresberichte internationaler Gerichte sorgen selten für Kontroversen oder gar Konflikte zwischen Gerichten. Die scharf formulierte Antwort auf das Gutachten 2/13 des EuGH (hier) zum EMRK-Beitritt, zu finden im Jahresbericht des EGMR (eine vorläufige Version findet man hier), der am Donnerstag von Präsident Spielmann vorgestellt wurde, stellt sicherlich eine Ausnahme dar. Aus diesem Grund sind einige Bemerkungen dazu angebracht.
Wie den Lesern dieses Blogs sicherlich bekannt ist, entschied der EuGH, dass der Entwurf eines Beitrittsabkommens der EU zur EMRK aus mehreren Gründen als mit den Verträgen unvereinbar war. Die akademische Kritik folgte prompt, nicht zuletzt auf diesem Blog (hier). Die kurze Passage im Vorwort des Präsidenten zum Jahresbericht, die wahrscheinlich in letzter Minute eingefügt wurde, stellt die erste Reaktion der Institution dar, die von dem Gutachten am meisten betroffen war. Es ist sinnvoll die Passage in ihrer Gänze wiederzugeben:
The end of the year was also marked by the delivery on 18 December 2014 of the Court of Justice of the European Union’s (CJEU) eagerly awaited opinion on the draft agreement on the accession of the European Union to the European Convention on Human Rights. Bearing in mind that negotiations on European Union accession have been under way for more than thirty years, that accession is an obligation under the Lisbon Treaty and that all the member States along with the European institutions had already stated that they considered the draft agreement compatible with the Treaties on European Union and the Functioning of the European Union, the CJEU’s unfavourable opinion is a great disappointment. Let us not forget, however, that the principal victims will be those citizens whom this opinion (no. 2/13) deprives of the right to have acts of the European Union subjected to the same external scrutiny as regards respect for human rights as that which applies to each member State. More than ever, therefore, the onus will be on the Strasbourg Court to do what it can in cases before it to protect citizens from the negative effects of this situation.
Es ist wenig überraschend, dass das EuGH-Gutachten in Straßburg mit Enttäuschung aufgenommen wurde. Schließlich streut es erhebliche Mengen an Sand in das Getriebe zukünftiger Beitrittsverhandlungen, was dem als Experten für das Verhältnis der EMRK zur EU bekannten Präsidenten Spielmann sicherlich von Anfang an klar war. Ungewöhnlich für ein Dokument dieser Art ist jedoch die scharfe Formulierung. Der Präsident hält nicht mit den Gefühlen der Straßburger zurück, wenn er von „großer Enttäuschung“ und von den „Opfern“ des Gutachtens spricht.
Abgesehen von den zwischen beiden Gerichten wichtigen politischen Erwägungen, stellt sich die Frage, ob die oben zitierte Passage eine neue und frostigere Beziehung zwischen den beiden Gerichten einläuten könnte. Bis jetzt haben sich beide stets ihrer guten Beziehungen, die von regulären Treffen der Richter und einem „gerichtlichen Dialog“ geprägt waren, gebrüstet. Dieses spezielle Verhältnis zwischen den Gerichten wird versinnbildlicht durch die Bosphorus-Entscheidung, in der der EGMR entschieden hatte, dass der vom EuGH gewährte Menschenrechtsschutz dem von der EMRK verlangten Standard gleichwertig (equivalent) sei. Folglich profitieren die EU-Mitgliedstaaten, die andernfalls für Menschenrechtsverletzungen, die auf einer EU-rechtlichen Verpflichtung beruhten, verantwortlich wären (siehe die Matthews-Entscheidung), von einer Vermutung der Rechtfertigung ihres Handelns, vorausgesetzt, dass ihnen nach EU-Recht kein Ermessen zustand. Diese Vermutung kann widerlegt werden, wenn der Antragsteller zeigt, dass der Schutz im konkreten Fall offensichtlich unzureichend war.
In diesem Zusammenhang ist der letzte Satz der oben zitierten Passage instruktiv. Indem Straßburg als letzte Hoffnung für Opfer von Menschenrechtsverletzungen positioniert wird und indem deutlich gemacht wird, dass der status quo (d.h. die EU außerhalb der Konvention) negative Auswirkungen für diese Opfer hat, bahnt der Präsident den Weg für einen möglichen Gesinnungswechsel. Selbstverständlich handelt es sich nur um ein Vorwort zu einem Jahresbericht und nicht um ein Urteil. Auch stammt dieses nur von einem der 47 Richter am EGMR, der, obschon er Präsident dieses Gerichts ist, in keinster Weise den Ausgang künftiger Verfahren determinieren kann.
Trotzdem ist die Frage berechtigt, was das in der Praxis bedeuten könnte. Eine relativ drastische Möglichkeit bestünde in einem Widerruf der Bosphorus–Vermutung, aber das scheint unwahrscheinlich. Die Vermutung basiert auf einer Beurteilung des materiellen Grundrechtsschutzes durch den EuGH, der sicherlich seit Bosphorus nicht abgenommen hat. Wenn es hier überhaupt zu einer Veränderung gekommen sein sollte, dann zu Verbesserungen durch das Inkrafttreten der Grundrechtecharta und der neueren Grundrechtsrechtsprechung des EuGH. Hinzu kommt, dass ein solcher Schritt politisch sicherlich ein großer Knall wäre, den die Gerichte möglichst vermeiden sollten.
Vorstellbar ist jedoch eine strengere Anwendung der Bosphorus-Kriterien, so dass am Ende mehr Fälle von Straßburg als zulässig angesehen werden könnten. Zudem ist es möglich, dass Straßburg seine Connolly-Rechtsprechung aufgeben könnte, nach der für die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten nach Artikel 1 EMRK ein mitgliedstaatliches Handeln irgendwelcher Art nötig ist. Damit könnten rein EU-interne Situationen (zB im Wettbewerbsrecht) in Straßburg überprüfbar werden.
Noch subtiler wäre es vielleicht, wenn der EGMR den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens einer stärkeren Überprüfung unterzöge. Schließlich ist dies ein Bereich, der der Grundrechtskontrolle zum großen Teil entzogen ist. Zwar hat der ausführende Mitgliedstaat in der Regel kein Ermessen, so dass zu seinen Gunsten die Bosphorus-Vermutung eingreift. Jedoch könnte man argumentieren, dass in Fällen, in denen auf EU-Ebene keine Grundrechtskontrolle stattfindet, die Vermutung der Gleichwertigkeit des Grundrechtsschutzes wiederlegt ist, da der Grundrechtsschutz in solchen Fällen offensichtlich unzureichend wäre. In diesem Zusammenhang soll in Erinnerung gerufen werden, dass der EuGH das Versäumnis diesen Grundsatz im Beitrittsabkommen vor einer Überprüfung durch den EGMR zu schützen, als einen der Gründe zitiert hat, warum das Beitrittsabkommen mit den Verträgen unvereinbar war. Hierin könnte für Straßburg eine Gelegenheit bestehen, zurückzuschlagen und zu zeigen, dass der vollständige Ausschluss des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens von der Zuständigkeit des EGMR mit der Zielsetzung der Verbesserung des Grundrechtsschutzes in Europa unvereinbar wäre.
Selbstverständlich sollte man nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen. Man kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht viel mehr tun als spekulieren. Sicher ist aber, dass uns interessante Zeiten bevorstehen.