Wir müssen alle unser Leben ändern
Recht, Psychologie, Krise
Wenn man in der letzten Zeit den rechtspolitischen Diskurs verfolgt, Gesetze und Urteile liest und juristische Posts und Podcasts, Artikel und Monografien rezipiert, drängt sich eine Beobachtung auf: eine Hinwendung zur Psychologie. Offensichtlich greifen wir in der ganzen Breite von Rechtspolitik, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis vermehrt auf psychologische Begriffe sowie verhaltenspsychologische und sozialtherapeutische Konzepte zurück: Achtsamkeit, Agilität, Adaptation, Aneignung, Coping, Distancing, Empowerment, Fragilität, Identität, Preparedness, Robustheit, Plastizität, Resilienz, Resonanz, Responsivität, Save Spaces, Selbst, Singularität, Vulnerabilität. Wir erleben einen psychologischen Turn im Rechtssystem.
Sicherlich, das Recht hat schon immer (sozial)psychologische Begriffe und verhaltensökonomische Konzepte rezipiert: Autonomie, Risiko, (Vor-)Sorge, Verantwortung und Vertrauen sind Beispiele dafür. Nudging wurde äußerst kontrovers diskutiert. Mediation und Scoping sind in die Gesetzgebung eingegangen. Zivilrechtliches Vertrags- und Verhandlungsmanagement kommen ebenso wenig ohne psychologische Begriffe und Konzepte aus wie das Strafrecht und vor allem die Kriminologie. Und es fällt uns schon gar nicht mehr auf, dass wir für die Erklärung der allgegenwärtigen juristischen Großkonzepte wie Staat und Markt letztlich sozialpsychologische Großgruppentheorien bzw. -experimente rezipiert haben: Eine körperfixierte Angstpsychologie verwandelt den Krieg aller gegen alle in einen Gesellschafts- und zugleich Staatsvertrag eines jeden mit jedem. Ein bodenloses Urvertrauen in die unsichtbare Hand des Marktes prägt heute freie Gesellschaften, was die Gewährleitung fast aller alltäglichen Güter angeht.
Interdisziplinäre Rezeptionswellen
Doch schon die schiere Zahl der psychologischen Begriffe und Konzepte, die derzeit in Rechtspolitik, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis einwandern, ist erstaunlich. Es ist aber nicht allein die schlichte Quantität, sondern zugleich auch die Qualität, mit der die Rezeption psychologischer Begriffe und Konzepte unsere Rechtsordnung aktuell verändert. Sie formulieren neue Rechtsparadigmen und Rechtsprinzipien, variieren juristische Abwägungen und bilden die Grundlage für die Veränderung bestehender und das Design neuer Rechtsformen und Rechtsinstrumente. Es sind die Quantität und die Qualität der Begriffs- und Konzeptrezeption, die eine interdisziplinäre Rezeptionswelle begründen und heute zu dem aktuellen psychologischen Turn in Rechtspolitik, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis führen.
Solche interdisziplinären Turns sind im Rechtssystem nicht ungewöhnlich. Sie zeigen, wie (leicht) wir Jurist*innen Begriffe und Konzepte anderer Lebensbereiche und Disziplinen rezipieren, um soziale Veränderungen auf der Augenhöhe des Zeitgeistes reflektieren können. Solche Turns kennzeichnet, dass sich unser interdisziplinäres Foreign-Shopping nicht auf einzelne Begriffe oder Konzepte beschränkt, sondern wir eine ganze Vielfalt von Begriffen und Konzepten einer anderen Disziplin in einer Vielzahl von Rechtsbereichen rezipieren. Ein Turn lässt sich also – metaphorisch gesprochen – als eine begriffliche und konzeptionelle Rezeptionswelle im Rechtssystem begreifen. Das Rechtssystem erlebt solche interdisziplinären Rezeptionswellen immer wieder. Sie bauen sich auf, verändern dadurch das Rechtssystem und laufen dann auch wieder aus, bevor sich sodann eine neue Rezeptionswelle ankündigt. Man muss sich nur an die ökonomische Rezeptionswelle der 1990er Jahre erinnern: „It’s the economy, stupid!“ galt auch für Rechtspolitik, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis; und dies vor allem auch in Rechtsbereichen, die mit „economy“ erst einmal gar nichts zu tun hatten, wie beispielsweise die Verwaltung und das Verwaltungsrecht. In der digitalen Rezeptionswelle ab den 2000er Jahren dominierten medienwissenschaftliche Begriffe und Konzepte – man denke nur an die ubiquitäre Entfaltung der Netzmetapher – die rechtswissenschaftliche Arbeit und Reflexion mit wiederum praktisch flächendeckenden Folgen für Rechtspolitik, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis.
Es versteht sich fast von selbst, dass diese interdisziplinären Rezeptionswellen, die einen Wandel im Rechtssystem auslösen, teilweise sehr kritisch gesehen werden: Die Autonomie des Rechts, so der Einwand, verbiete Rechtswissenschaft, Rechtsdogmatik und Rechtspraxis, dem „Zeitgeist“ hinterherzulaufen, der in interdisziplinär inspirierten Turns des Rechtssystems zum Ausdruck komme. Doch diese Kritik überschätzt die gesellschaftliche Autonomie des Rechtssystems und damit auch der Rechtswissenschaft. Interdisziplinäre Turns sind keine schlichten Modeerscheinungen, sondern sensibilisieren das Rechtssystem für grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen und Probleme. Da sie immer wieder stattfinden, bringt es der Rechtswissenschaft in einer funktionalen Perspektive auch nichts, sie schlicht zu leugnen oder abzulehnen. Deshalb sollten wir lieber nach den gesellschaftlichen Ursachen fragen, warum ein interdisziplinär inspirierter Turn eintritt. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann auch die rechtstheoretischen, rechtsdogmatischen und rechtspraktischen Möglichkeiten und Grenzen, die Risiken und Nebenwirkungen solcher interdisziplinären Rezeptionswellen kritisch diskutieren.
Warum erleben wir einen psychologischen Turn?
Wir befinden uns mitten in einer krisenbedingten Transformation unserer Gesellschaft, die in einer ganzen Reihe von Lebensbereichen und deshalb auch vielen Rechtsgebieten den Bürger*innen abverlangt, ihr individuelles und kollektives Verhalten nachhaltig zu verändern. Dies betrifft vor allem die Lebensbereiche, in denen individuelles Verhalten und die Gewährleistung öffentlicher Güter und kollektiver System unmittelbar rückgekoppelt sind und dies zu einer krisenhaften Gesellschaftsentwicklung führen kann: Das individuelle Verhalten aller Bürger*innen in der gegenseitigen Anerkennung individueller Identität entscheidet in der analogen und digitalen Kommunikation über die Kultur einer demokratischen Öffentlichkeit. Das individuelle Verhalten aller Bürger*innen ist in der Corona-Pandemie unmittelbar mit der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems rückgekoppelt. Das individuelle Verhalten aller Bürger*innen trägt in den aktuellen ökologischen Krisen unmittelbar zur Zerstörung der Natur bei: Artensterben, Klimakatastrophe und Globalvermüllung. Das individuelle Verhalten aller Bürger*innen entscheidet mit darüber, ob nicht nur die Verkehrs-, sondern vor allem auch die Energiewende in der aktuellen Energiekrise gelingen. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen, um doch nur immer wieder auf den gleichen Punkt zurückzukommen: Es sind individuelle Verhaltensänderungen von uns allen notwendig, um die Funktionsfähigkeit von öffentlichen Gütern und kollektiven Systemen in einer krisenhaften Transformation der Gesellschaft zu gewährleisten.
Damit steht das Recht vor einer der größten Herausforderungen der praktischen Philosophie und der politischen Praxis: „Du musst Dein Leben ändern“ ist in der Persistenz der Krisen zu einem „Wir müssen alle unser Leben ändern“ geworden. Hier kommt dem Recht die Aufgabe zu, individuelle Gewohnheiten und soziale Praxen zu verändern. Um die dabei weit klaffende Lücke zwischen Sein und Sollen mit Blick auf individuelles und kollektives Verhalten zu schließen, rezipiert das Rechtssystem psychologische Konzepte – und dies mit einer doppelten Zielrichtung: zum einen um die prekäre Situation und notwendige Motivation der einzelnen Bürger*innen in diesen krisenhaften Transformationsprozessen zu reflektieren; zum anderen um durch die Anwendung von psychologischen Begriffen und Kategorien auf menschliche Gruppen, öffentliche Güter und kollektive Systeme deren Fragilität, Plastizität und Vulnerabilität als Grundlage für ihre Transformation zu beschreiben. Diese individuelle und systemische Perspektive zeigt uns: Von der postbürgerlichen Selbstsicherheit der Daseinsvorsorge in einer für hyperstabil geglaubten Industriegesellschaft ist wenig übriggeblieben.
Wie vollzieht sich der psychologische Turn?
Die breite Erfahrung interdisziplinären Arbeitens in den Rechtswissenschaften zeigt zunächst: Es geht nicht um eine schlichte 1:1-Übernahme von psychologischen Begriffen und Konzepten in die Rechtswissenschaft. Umgekehrt besteht die Aufgabe aber auch nicht einfach darin, psychologische Begriffe und Konzepte „ins Juristische zu übersetzen“. Vielmehr handelt es sich um einen differenzierten Rezeptionsprozess, der sich auf den sehr unterschiedlichen Ebenen juristischen Argumentierens und Handelns auch sehr unterschiedlich vollzieht: von abstrakten Rechtsparadigmen über konkretisierende Rechtskonzepte und anwendungsorientierte Rechtsdogmatik bis zu spezifischen Rechtsinstrumenten.
In dieser Aufzählung nimmt der Anwendungsbezug immer stärker zu. Vor diesem Hintergrund gilt für die Gestaltung des interdisziplinären Dialogs zwischen Rechtswissenschaft und Psychologie der Grundsatz: Je näher wir der Praxis der Rechtsdogmatik und Rechtsinstrumente kommen, desto sachbezogener und intensiver muss der kritische interdisziplinärer Austausch erfolgen, damit die Rechtsinstrumente nicht ihre Wirkung in der Rechtspraxis verfehlen. Dies ist letztlich eine selbstverständliche Trivialität, sodass sich der Streit über die Möglichkeiten und Grenzen interdisziplinären Arbeitens vor allem auf die stärker theoriebetonten juristischen Argumentationsebenen – also Rechtsparadigmen und Rechtskonzepte – konzentriert.
Vor allem juristische Kritiker*innen werden nicht nur den Zweck dieser interdisziplinären Auseinandersetzung in Frage stellen, sondern vor allem auch klare Definitionen der verwendeten Begriffe anmahnen. Doch gerade das ist methodologisch keineswegs zielführend: Begriffe anderer Wissenschaften, die beispielsweise zur Beschreibung eines rechtswissenschaftlichen Paradigmenwechsels oder zur Entwicklung von Rechtskonzepten verwendet werden, müssen unscharf sein („fuzzy terms“), weil sie zwei Funktionen zu erfüllen haben: Sie sollen erstens als rechtstheoretische Kompaktbegriffe eine ganze Reihe heterogener Phänomene integrieren. Sie müssen zweitens fuzzy bleiben, um für den Austausch mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen über genügend begrifflichen und konzeptionellen Variationsspielraum zu verfügen. Denn der psychologische Turn, den wir in den Rechtswissenschaften erleben, vollzieht sich parallel auch in den Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften, mit denen die Rechtswissenschaft in einem sehr engen Austausch zur Beschreibung, Begleitung und Kritik der krisenhaften Transformation unserer Gesellschaft steht.
Beispiel: Industriegesellschaft → Risikogesellschaft → Vulnerable Gesellschaft
Ein Beispiel für den psychologischen Turn bildet der Begriff der „Vulnerabilität“, der das „Risiko“ für das Verständnis unserer Gesellschaft ersetzt hat: In den 1980er Jahren wurde das Selbstverständnis der Bundesrepublik als Industriegesellschaft von der neuen paradigmatischen Beschreibung als Risikogesellschaft abgelöst. Die neue Gesellschaftsformel lautete: Risikoprävention + Restrisiko = Risikogesellschaft. Doch mit der Persistenz der ökonomischen, ökologischen, pandemischen und nun auch militärischen Krisen zeigte sich, was selbst für die Kernenergie (Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima) eigentlich schon immer klar war: Risiken realisieren sich! Risiken sind verdrängte Gefahren! Deshalb genügt die Formel der Risikogesellschaft nicht mehr, um als rechtliches Paradigma das gesamtgesellschaftliche Krisenmanagement normativ zu steuern.
In der Konkurrenz der psychologischen Begriffe und Konzepte der Fragilität, Plastizität und Vulnerabilität hat sich vor allem im Zuge der Pandemie die Vulnerabilität als allgemeine Beschreibung unseres krisenbezogenen Gesellschaftsverständnisses durchgesetzt. So ist die „vulnerable Gesellschaft“ ist an die Stelle der „Risikogesellschaft“ getreten. Die konzeptionelle Entfaltung des Paradigmas der vulnerablen Gesellschaft im psychologischen Turn der Rechtswissenschaft, Rechtsdogmatik und Rechtspraxis steht dabei vor zwei Herausforderungen. Einerseits darf sie unser Gesellschafts- und Rechtsverständnis nicht defensiv introvertieren, sondern muss die (re)aktiven Gestaltungspotenziale von Gesellschaft und Recht in sich aktuell überlagernden Krisensituationen betonen. Andererseits darf sie unser Gesellschafts- und Rechtsverständnis aber auch nicht überschießend extrovertieren: Die vulnerable Gesellschaft ist keine schlichte Variation auf die konservative Anthropologie des Menschen als Mängelwesen, das aus seiner programmatischen Selbstviktimisierung einen normativ überschießenden sozialen, politischen, ökonomischen, ökologischen und militärischen Herrschaftsanspruch ableitet, um seine eingebildeten Mängel zu kompensieren. Deshalb lautet die zentrale Frage für die konzeptionelle Entfaltung unseres Verständnisses der vulnerablen Gesellschaft: Wie können wir defensiv-reflexive mit aktiv-gestalterischen Elementen so verbinden, dass sie uns eine angemessene Bewältigung der sich vielfältig überlagernden Krisen ermöglichen?
Vielleicht gelingt uns dies mit dem folgenden Verständnis: Vulnerable Gesellschaft = Preparedness + Resilienz. Wir vollziehen den Paradigmenwechsel zur vulnerablen Gesellschaft, indem wir Preparedness und Resilienz als Rechtskonzepte verstehen, die programmatisch aufeinander bezogen sind: Preparedness als ein evolutionärer Lernprozess, um auf befürchtete Schadensereignisse vorbereitet zu sein; und Resilienz als die Fähigkeit, in Krisensituationen zugleich Widerstandskraft und Anpassungsflexibilität zu entfalten. Diesen beiden Konzepten können jeweils rechtsdogmatische Grundsätze und Rechtsinstrumente zugeordnet werden, die wiederum jeweils defensiv-reflexive und aktiv-gestalterische Elemente miteinander verbinden. Auf der rechtsdogmatischen Ebene werden wir neue Abwägungsgrundsätze entwickeln müssen, um mittels der Kategorien Fragilität, Coping und Robustheit unterschiedliche Formen der krisenbezogenen Resonanzfähigkeit von öffentlichen Gütern und kollektiven Systemen in der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu reflektieren: Wie resonant, also „schwingfähig“ können, sollen und müssen sich öffentliche Güter und kollektive Systeme in einer konkreten Krise erweisen? Die Skala für die abwägende Bestimmung der rechtlich geforderten Resonanzfähigkeit öffentlicher Güter und kollektiver Systeme reicht in der normativen Würdigung von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit von ihrer funktionalen Rigidität über ihre flexible Variation bis zu ihrer nachhaltigen Transformation. Auf der Ebene der Rechtsinstrumente lassen sich alte und neue administrative Handlungsformen zur Gewährleistung von Preparedness und Resilienz ausdifferenzieren, indem man sie wiederum in einer typologischen Betrachtung beispielsweise den Funktionen von Adaptation, Coping, Empowerment und Responsivität von öffentlichen Gütern und kollektiven Systemen in krisenhaften Transformationen unserer Gesellschaft zuordnet.
Maximilian Steinbeis hat in seinem jüngsten Editorial vollkommen zu Recht darauf hingewiesen, dass wir uns angesichts der sozialen, politischen, ökonomischen, ökologischen und militärischen Krisen keinen rechtswissenschaftlichen Druckabfall leisten können. Vielmehr zeigt uns der psychologische Turn, vor welchen politischen und rechtlichen Aufgaben wir in den aktuellen Krisen stehen. Der krisenbedingte Druck auf die Rechtswissenschaft steigt …
Lieber Jens, die Kollektivierung des Apollo-Zitats von Rilke wirft die Frage nach der Qualität des “müssen” auf. Meinst Du damit juristischen Zwang, also ein strafbewehrtes rechtsverbindliches Müssen? Oder einen moralischen Appell, im Sinne von “wir müssen bessere Menschen sein”? Oder “müssen” nach Art der Kooperationslösung eines Gefangenendilemmas (Axelrod)? Angesichts des normativen Patchwork, das Coronaschutzverordnungen, Energiesparempfehlungen, Sanktionen gegen russische Oligarchen und vieLe andere Ad-hoc-ismen in den normativen Ordnungen angerichtet haben, wissen wahrscheinlich viele Menschen nicht mehr, was „müssen“ bedeutet (im Gegensatz zu rücksichtsvoll sein, sich sozialem Druck beugen, nach Schnäppchen jagen, die neue Folge Stranger Things nicht verpassen …).
Vielen Dank, lieber Ben, „müssen“ in der ganzen Bedeutungsvielfalt des Begriffs. „Nicht-Müssen“ erscheint mir keine Alternative mehr …
Vielen Dank für diesen bereichernden Beitrag. Interessant an dem von Ihnen diagnostizierten „psychologischen Turn“ ist m.E. vor allem, dass Vulnerabilität in der Selbstreflexion durch die (deutsche) Rechtswissenschaft bislang überwiegend als heuristisches Werkzeug auf die Gesellschaft und ihre Verfassung insgesamt angewandt wird. Demgegenüber stehen individuelle Rechte und Schutzpflichten im Zentrum der Vulnerabilitätserwägungen von Gerichten wie dem EGMR und auch der Einführung des Begriffs in das positive Recht durch den europäischen Gesetzgeber. Damit rührt der psychologische Turn an der (juristischen) Fiktion, welche eine -wenn nicht die- Grundlage westlicher, liberal verfasster Staaten bildet: der Existenz autonomer und gleichsam unverletzlicher Rechtssubjekte.
Sie spitzen, lieber Herr Rohmann, das Problem im letzten Satz treffend zu: das „gleichsam unverletzliche Rechtssubjekt“ muss sich plötzlich in kollektiv relevanten Situationen und solidarischen Konstellationen verhalten – und wird dadurch selbst verletzlich. Was tun? Ein psychologischer Turn eröffnet hier die notwendigen Reflexionsperspektiven, die auch einem autonomen Rechtssubjekt helfen können …
Vielen Dank für den Beitrag!
Ich würde mich Tim Rohmann gerne anschließen und ergänzend fragen, was es für die von Ihnen diagnostizierte, notwendige “fuzziness” der Begriffe, insbesondere des Vulnerabilitätsbegriffs, bedeutet, wenn er in positives (auch internationales, bindendes) Recht gegossen wird:
Wird, was eben noch psychologischer Turn war, verstetigt, oder ist das positive Recht in diesem Fall auch (nur) Ausdruck seiner Zeit? Wird der Begriff damit zum – unbestimmten – Rechtsbegriff? Also Einfallstor für Phänomene der vulnerablen Gesellschaft ins Recht und als solches klassisches Element im Baukasten der öffentlich-rechtlichen Regelungstechnik?
Ist die konstatierte “fuzziness” und der damit verbundene Variationsspielraum – insoweit würde ich den Kritiker*innen, die eine klare Definition fordern, zustimmen – gerade im Fall von Vulnerabilität, nicht deshalb problematisch, weil er das Recht für Zuschreibungen öffnet? Ist nicht denkbar, dass durch die Verwendung des Begriffs intendierte Schutzversprechen, gerade im menschenrechtlichen Bereich, durch diese Zuschreibungen konterkariert werden?
Die rechtliche Ausgestaltung von Paradigmen wie “klassischerweise” der “Industriegesellschaft” und der “Risikogesellschaft” und heute der “vulnerablen Gesellschaft”, aber auch der “Gesellschaft der Repräsentationen” erfolgt meinem Eindruck nach in unterschiedlichen kategorialen Formen, die in der Rechts- und Verfassungspraxis ineinandergreifen: Paradigmen, Konzepte, Prinzipien und Instrumente. Die Frage nach der “klaren” Definition der jeweils verwendeten Begriffe nimmt in dieser Aufzählung mit dem sich verstärkenden Praxisbezug zu, gerade um sie nicht nur rechtsstaatlich handhabar zu machen, sondern insbesondere auch grund- und menschenrechtlich kontrollieren zu können.
Ich kann einen solchen “Turn” bzw. “Paradigmenwechsel” aus zwei Gründen nicht erkennen.
Zum einen – der Bereich “Rechtspsychologie” ist in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft nicht neu. Er ist nur gedanklich abseits seines Stamms an Bearbeitern nicht besonders weit gewandert. In Ansätzen existiert er allerdings bereits seit den 1960er Jahren in Form der Beiträge von Robert Weimar sowie in den 1980er Jahren, ähnlich wie Herr Kersten es hier fordert, in Form von Vorschlägen des interdisziplinären Gebrauchs der Psychologie zur Klärung von Gerechtigkeitskonzeptionen in der Anwendung des Rechts. Dass sich diese Ansätze anscheinend gerade jetzt stark durchsetzen, führe ich auf Cass Sunstein zurück, dessen Strahlkraft als zweitmeistzitierter Mensch überhaupt wohl auch einiges an weiterer, mitunter wohl auch strategischer, Rezeption bedingt.
Zum anderen kann man so verwendeten psychologischen Ansätzen den gleichen Vorwurf machen, den Niklas Luhmann seinerzeit der Diskurstheorie in der Prägung von Jürgen Habermas gemacht hat – sie sind im Grunde ein “Ersatznaturrecht”, das in säkulärer Form als zwingend notwendig erachtete Postulate über die Natur des Menschen zu setzen versucht. Statt solche Postulate über idealisierte Diskurse zu finden, findet man sie nun durch die statistische Auswertung der Verhaltensweisen von Menschen beim Kartenspielen unter Laborbedingungen.
Abseits von Sunstein und der Behavioral Economics verweise ich auf schon länger geführte, pessimistischere Diskussionen in den sozialpsychologischen Mutterwissenschaften, die schon seit Jahren Probleme mit dem Design von Studien und der Zuverlässigkeit ihrer Aussagen diskutieren, siehe etwa der folgende informative Blogbeitrag aus dem Jahre 2015:
https://sometimesimwrong.typepad.com/wrong/2015/04/guest-post-check-yourself-before-you-wreck-yourself.html
Die rechtswissenschaftliche Beschäftigung könnte sich eher an der Methodologie der “Experimental Philosophy” orientieren, deren Studien zumindest eine höhere Reproduktionsrate haben als die erwähnte Sozialpsychologie, vgl. etwa Cova, Strickland et al, Review of Philosophy and Psychology 12 (2021), 9 ff.
Experimental Philosophy untersucht auch deontische Konzepte, also, wie ein Kelsenianer es ausdrücken würde, die “Sphäre des Sollens” und nicht die des Seins. Sie hätte damit zwar der Diskurstheorie voraus, dass man immerhin empirisch überprüfbare und statistisch auswertbare Zusammenfassungen moralischer Präferenzen sammeln kann, statt sie (im Grunde) nur zu postulieren. Allerdings hätte man, was im amerikanischen Diskurs von Kritikern immer noch angeführt wird, nicht den Beweis erbracht, wie so gesammelter “folk wisdom” über solche Konzepte sie in einer Frage der Rechtsanwendung oder, allgemeiner, der moralischen Bewertung einer Situation operabel macht. Letztlich klärt man nur, was Menschen über etwas denken, nicht jedoch, was etwas ist bzw. was sein sollte.
Insoweit bin ich konzeptuell pessimistisch.
Diesem Hinweis auf die rechtstheoretischen und interdisziplinären Grundlagen der aktuellen Debatte um die rechtswissenschaftliche und rechtspraktische Rezpetion psychologischer Begriffe und Konzepte in den aktuellen Krisen kann ich nur zustimmen. Es geht meiner Auffasung nach aus rechtswissenschaftlicher Perspektive darum, diesen Paradigmenwechsel analytisch, konstruktiv und kritisch zu begleiten. Dies ist umso wichtiger, als sich ab dem Herbst Corona-, Energie- und Lebensmittelkrise zuspitzen werden – und damit das Paradigma der “vulnerablen Gesellschaft” weiter an rechtspraktischer Bedeutung gewinnt.