17 June 2022

Druckabfall

Müde, kurzatmig, chronisch erschöpft, benebelt. Die Symptome von Long COVID sind im Jahr 3 der Pandemie weitläufig bekannt, und eine substanzielle Zahl von Menschen leidet schwer an ihnen, über Wochen, Monate, Jahre. Die allgegenwärtige Erschöpfung scheint mir nicht allein ein klinisches Phänomen zu sein. So viele Leute verspüren sie, auch wenn sie gar kein COVID hatten. Man schleppt sich durch die Tage. Überlastet, überarbeitet, es ist zu viel: Man denkt, es ist die Arbeit. Dann fährt man in den Urlaub. Und kommt zurück, und sieh an, die Erschöpfung ist immer noch da.

Ein eigenartiger Druckabfall ist in diesen frühsommerlichen Wochen zu beobachten. An Dringlichkeit herrscht wahrhaftig kein Mangel: Teuerung, Krieg, Dürre und Pestilenz, ich kann mich in meinem ganzen Erwachsenenleben an keine so zum Zerreißen gespannte Zeit erinnern. Alle Hähne sind aufgedreht, armdick müsste es einem entgegen strömen. Aber nein. Es tröpfelt höchstens. Die sechste Welle kommt? Na, kommt sie eben. Der Kanzler fährt nach Kiew. Dann fährt er wieder heim.

Wir spüren diesen Druckabfall auch auf dem Verfassungsblog. Noch nie haben wir uns mit der Akquise von Texten so plagen müssen wie in der letzten Woche. Überlastet, überarbeitet, es ist zu viel: die Terminkalender unserer Autor_innen sind seit jeher meistens fürchterlich ausgebucht. Aber dann hat der Druck der Ereignisse doch meistens einigermaßen zuverlässig irgendwo eine Lücke freigespült. Das ist immer seltener so. (Liegt das vielleicht an uns? Wenn ja, bin ich für Hinweise dankbar.)

Was ist da los? Was hat es mit diesem Druckabfall auf sich? Meine These: das liegt nicht allein an Corona. Das ist nicht allein eine Frage der Rekonvaleszenz. Das geht tiefer.

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In Washington wird dem 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten nachgewiesen, am 6. Januar 2021 bewusst zu einem gewalttätigen Putschversuch aufgerufen zu haben. In London wird der Premierminister Ihrer Majestät überführt, das Parlament belogen und seine eigenen Gesetze gebrochen zu haben. Das wissen aber alle schon. Das ist seit langem wohl bekannt. Immer neue Details und Verästelungen werden enthüllt und ans Licht gebracht und immer neu zum Anlass genommen, zu betonen, wie atemberaubend, haarsträubend und unfassbar das doch alles ist. Aber der Vorgang selbst, den man da so unfassbar findet, sitzt die ganze Zeit breit und öffentlich da und grinst einem ins Gesicht. Kann doch alles gar nicht sein? Oh doch. Klar kann es. Siehst du doch.

Der autoritäre Populismus hat ein parasitäres Verhältnis zur liberalen Verfassungsordnung. Er sitzt auf ihr und nährt sich von ihr wie der Porenschwamm vom Baum, den er zersetzt und auf dessen Kosten er einen eigenständigen Organismus ausbildet. Das Bild stammt nicht von mir, sondern von Weronika Grzebalska und Andrea Petö und ist auf die illiberale Transformation in Polen und Ungarn gemünzt: Weder Fidesz noch PiS, so ihre Analyse, wollen eine neue Ordnung errichten und an die Stelle des bestehenden “europäischen liberal-demokratischen Projekts” setzen. Die illiberale Transformation macht sich stattdessen die Strukturen und finanziellen und politischen Möglichkeiten dieses europäischen Verfassungsprojekts zunutze, eignet sich Sprache und Institutionen der Menschenrechte und der Geschlechtergleichheit an, errichtet eine eigene, parallele Zivilgesellschaft, unterwirft die demokratischen Verfahren den Zwecken der herrschenden Eliten und ihrer Verbündeten (Grzebalska/Petö S. 5). Mit dieser Nahrung bildet er gewaltige Fruchtkörper aus. Längst hat der Pilz auch die EU befallen. Die polnische Regierung wird ihre Recovery-Funds-Milliarden kriegen. PiS-hörig gemachte Justiz? Verfassungsgericht schaltet auf Knopfdruck EU-Recht an und aus? Ja, ist dann halt jetzt so. Auch die ungarische Regierung trifft sich wieder mit der EU-Kommission. Da wird man sich doch verständigen können. Die Fruchtkörper, sie wachsen und gedeihen. Schwere, große Dinger. Sie strotzen nur so vor Kraft.

Die britische Innenministerin wollte in dieser Woche ein Flugzeug voller Geflüchteter nach Ruanda schicken. Das hat nicht geklappt, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das in letzter Minute gestoppt. Ein Sieg des europäischen liberal-demokratischen Projekts? Sicherlich. Er verschafft der Johnson-Regierung mitsamt der von ihr miternährten Presse die Gelegenheit, tagelang mit Inbrunst über die EMRK und über die Niedertracht von “leftwing lawyers” herumzuschäumen und die ganze Brexit-Gaudi wieder aufzubrühen, und man wird den Verdacht nicht los, dass das von vornherein der Zweck der ganzen Übung war.

In Österreich sind Sebastian Kurz und die FPÖ mittlerweile von der Macht vertrieben, einstweilen jedenfalls. Das ist ein Glücksfall, denn ebenfalls in dieser Woche hat der EuGH eins der vermeintlichen Paradeprojekte ihrer Koalition für rechtswidrig erklärt: Familiengeld nur für österreichische Familien. Schon damals wusste man gar nicht, was man dazu sagen sollte. Dass das europäische Wanderarbeitnehmer_innen diskriminiert? Dass das europarechtswidrig ist? Ja, natürlich, was denn sonst, das ist ja regelrecht trivial. Das wusste von Anfang jeder, dass das vor dem EuGH nie im Leben Bestand haben würde. Nicht viel anders als damals bei der PKW-Maut, nicht wahr, Markus Söder? Jahrelang saß er unter uns, dieser Vorgang. Ihn als rechtswidrig anprangern? Immer nur zu, sagte er mit breitem Grinsen. Make my day.

Seine parasitäre Nahrung bezieht der autoritäre Populismus aus dem Double-Bind, mit dem er das liberale europäische Verfassungsprojekt konfrontiert: Wehr dich gegen uns, dann bist du nicht mehr liberal, wir gewinnen und du verlierst. Wehr dich nicht gegen uns, und wir gewinnen und du verlierst sowieso. Wie in einer toxischen Beziehung verwickelt der eine Teil den anderen fortwährend in ein unauflösbares Paradoxon, das ihm selber den Anschein von Würde, Macht und Selbstbewusstsein verschafft, während der andere immer tiefer in Angst und Depression versinkt. Seit wann geht das jetzt schon so? Orbán wurde 2010 gewählt. Zwölf Jahre her. Lange, lange vor der Pandemie. Das muss ein Ende haben.

Wie das so ist mit Parasiten: Sie können auf sich gestellt nicht existieren. Sie leben mit ihrem Wirt und sie sterben mit ihm. Der autoritäre Populismus hat keine eigene, alternative Idee einer guten Gesellschaftsordnung. Ohne die liberale Demokratie ist er nichts.

Also Zeit, die Müdigkeit abzuschütteln, den Rücken zu strecken, den schlaffen Verdruss in heiße Wut zu tauschen, den Scheidungsanwalt einzubestellen und die Pumpmotoren anzuwerfen!

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:

Am 15. Juni 2022 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass Angela Merkels Äußerungen zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020 sowie die anschließende Veröffentlichung auf den Regierungswebsites die AfD in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt haben. FABIAN MICHL sieht in dem Urteil eine Fortsetzung der bisherigen Rechtsprechungslinie, die Äußerungen der Regierung wie eine administrative Tätigkeit behandelt. Das Sondervotum der Richterin Astrid Wallrabenstein begrüßt er mit der Hoffnung, dass zukünftig Position und Gegenposition wieder deutlicher gegenübergestellt und die Argumentationslinien geschärft werden. BENT STOHLMANN kritisiert, dass der Senat sich durch seine Anwendung von Verhältnismäßigkeitsmaßstäben auf staatsorganisationsrechtliche Konstellationen weiter von einer Berücksichtigung der politischen Dimension des Regierungshandeln entfernt. Für MEHRDAD PAYANDEH ist der interessanteste Teil der Entscheidung die Subsumtion der Senatsmehrheit, denn erst hier zeigt sich, welche Maßstäbe sie konkret an die Entscheidung anlegt, ob eine Äußerung in Wahrnehmung des Amtes erfolgt und welches Maß an Zurückhaltung dann erforderlich ist.

Im Februar dieses Jahres veröffentlichte die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine EU-weit verbindliche menschenrechtliche Sorgfaltspflicht für Unternehmen, die in ihren Geltungsbereich fallen. TINA ASGHARIAN, BETTINA BRAUN & ALLISON MILLER betonen, wie wichtig es für die Gesetzgebung zur Sorgfaltspflicht bei Menschenrechten ist, solches Recht gerade unter der ständigen Beteiligung der Rechteinhaber*innen selbst zu verankern, um diese in den Mittelpunkt zu stellen.

Nach der einstweiligen Verfügung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Abschiebung von Flüchtlingen nach Ruanda wurde diese Woche – erneut – der Ruf nach einem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EMRK laut, diesmal sogar von der Regierungsbank. EMILY REID untersucht die Auswirkungen, die ein Austritt auf das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich haben könnte.

Auch die Brexit-Saga geht weiter: mit dem Gesetz über das Nordirlandprotokoll will die Regierung des Vereinigten Königreichs große Teile des Protokolls einseitig außer Kraft setzen. Sie versucht, das Gesetz mit der Doktrin der Notwendigkeit zu rechtfertigen. MARK KONSTANTINIDIS scheint diese Rechtfertigung jedoch ein buchstäblicher, wenn auch nicht überzeugender Versuch zu sein, aus der Not eine Tugend zu machen.

Zwei Monate nach den Wahlen in Serbien hat lediglich der Präsident sein reguläres Mandat angetreten – die offiziellen Ergebnisse der Parlamentswahlen sind noch nicht verkündet, die neu zusammengesetzte Nationalversammlung ist noch nicht einberufen und die neue Regierung noch nicht gebildet. VIOLETA BEŠIREVIĆ berichtet über eine Demokratie in der Warteschleife, die vielleicht aber durch Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine aufgeweckt wird.

Dieses Editorial geht jetzt, apropos Druckabfall, in die Sommerpause für ein paar Wochen. Wir sehen uns im Spätsommer wieder! Bis dahin wünsche ich Ihnen gute Erholung, Kraft, Zuversicht und einen tollen, heißen, aber nicht zu heißen Sommer.

Und falls Sie uns auf Steady noch nicht unterstützen: jetzt wäre ein super Zeitpunkt! Wir können es gebrauchen.

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Druckabfall, VerfBlog, 2022/6/17, https://verfassungsblog.de/druckabfall/, DOI: 10.17176/20220618-033232-0.

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