Holistisch, praktisch, gut?
Das Urteil gegen Yekatom und Ngaïssona als Wendepunkt in der Bewältigung riesiger Beweismengen
Am 24. Juli 2025 verkündete die Hauptverfahrenskammer V des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ihr Urteil im Verfahren gegen Alfred Yekatom und Patrice-Edouard Ngaïssona. Die beiden ehemaligen Anti-Balaka-Anführer wurden wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen – darunter Mord, Verfolgung, Folter und Angriffe auf Gotteshäuser –, begangen im Zuge der Gewaltkampagne gegen die muslimische Bevölkerung der Zentralafrikanischen Republik zwischen September 2013 und Anfang 2014.
Mit dem 1.600 Seiten starken Urteil endete eines der aufwendigsten Verfahren in der Geschichte des IStGH. Die Kammer stützte sich auf knapp 20.000 Beweisstücke, 174 Zeugenaussagen und eine immense Menge digitaler Dokumente – und schaffte es dennoch, die Urteilsberatungen innerhalb von sechs Monaten abzuschließen, weit unter der vom IStGH selbst auferlegten Zehn-Monats-Obergrenze (Chambers Practice Manual, Rn. 88). Möglich wurde das durch eine hochgradig strukturierte und auf Effizienz angelegte Verfahrensführung, bei der das Gericht seine prozessualen Spielräume konsequent nutzte, und die in ein Urteil mündete, das die Strafzumessungsentscheidung erstmals mitverkündete (Decision on Sentencing Procedure, Rn. 2).
Das Urteil ist somit ein Lehrstück dafür, wie sich internationale Strafverfahren – getrieben vom Effizienzdruck – zunehmend von starren dogmatischen Kategorien lösen. Statt etwa Zurechnung und Beweismaß in seine Einzelelemente zu zerlegen, setzte die Hauptverfahrenskammer hier auf eine flexible Gesamtschau: Zentrale Beweis- oder Zurechnungsregeln werden miteinander verschränkt, kontextbezogen bewertet und an den Einzelfall angepasst, indem die Grenze zwischen Tat- und Rechtsfrage verschwimmt. Das beschleunigt Verfahren und erlaubt es, komplexe Lagen differenziert zu erfassen – birgt aber zugleich das Risiko, klare Maßstäbe zu verwässern und Verteidigungsrechte zu beschneiden.
Zurechnung als Mosaik: Verantwortlichkeit im Spiegel der Gesamtschau
Besonders deutlich wird die Flexibilisierung im Umgang der Kammer mit den Regeln individueller Verantwortlichkeit: Wer wird für welche Taten einer bewaffneten Gruppe verantwortlich gemacht – und nach welchen Kriterien?
Wie stark Yekatom und Ngaïssona in die Aktionen der Anti-Balaka eingebunden waren, zählte zu den zentralen Streitpunkten im confirmation hearing wie auch in der Hauptverhandlung. Schon die Vorverfahrenskammer (Pre-Trial Chamber; PTC II) nahm eine bemerkenswert ambivalente Haltung gegenüber den Merkmalen von Art. 25 Abs. 3 lit. a IStGH-Statut, der maßgeblichen Regelung zur Täterschaft, ein (Kritik hier und hier). Ausführungen zum Element des gemeinsamen Tatplans und des wesentlichen Tatbeitrags blieben vage – mit der Begründung, solange eine Verbindung zwischen dem Angeklagten und den Taten irgendwie hergestellt werden könne, sei die Subsumtion unter einzelne Zurechnungsmerkmale reine Theorie (Confirmation Decision, Rn. 57, 60). In der Hauptverhandlung nahm die Verteidigung diese zurückhaltende Haltung der PTC II als Steilvorlage dankend an und versuchte, die Mittäterschaft nachträglich auszuschließen, letztlich jedoch erfolglos (Decision on Scope of Charges, Rn. 17).
Zurechnung als Kombi-Lösung
Im Urteil selbst bekannte sich die Hauptverfahrenskammer (Trial Chamber; TC V) beim Thema Täterschaft und Teilnahme zur etablierten Rechtsprechung (Judgment, Rn. 3868 ff.). und zeigte sich in deren Anwendung kreativ, indem sie mehrere Täterschaftsformen miteinander verzahnte. Yekatom sah sie aufgrund seiner Doppelrolle als aktiver Kämpfer und Befehlshaber teils als unmittelbaren und teils als mittelbaren Mittäter an (Judgment, Rn. 4013). Der Ansatz entspricht einem funktionalen sowie kontextabhängigen Verständnis von Art. 25 Abs. 3 IStGH-Statut und trägt dem Umstand Rechnung, dass Milizenführer häufig gleichzeitig Befehlsgewalt ausüben und selbst an Angriffen beteiligt sind.
Beihilfekriterien großzügig ausgelegt
Anders bei Ngaïssona: Die Kammer folgte nicht der Anklage, die ihm eine Beteiligung an den Taten in mittelbarer Mittäterschaft („indirect co-perpetration“) vorgeworfen hatte, sondern verurteilte ihn wegen Beihilfe (Judgment, Rn. 4029 ff.). Seine finanzielle, logistische und politische Unterstützung der Anti-Balaka wertete sie als wesentlichen Beitrag, der den Bangui-Angriff sowie weitere Operationen förderte (Judgment, Rn. 4037). Nach Auffassung der Kammer hatte Ngaïssonas Verhalten ausdrücklich den Zweck, die Angriffe der Anti-Balaka zu ermöglichen und voranzutreiben – im Wissen, dass deren Einheiten dabei regelmäßig schwere Verbrechen verübten (Judgment, Rn. 4037; 4042). Ob die Taten durch Ngaïssonas Verhalten tatsächlich begünstigt wurden, müsse nicht nachgewiesen werden (Judgment, Rn. 4037).
Bei Ngaïssona lässt sich somit par excellence nachvollziehen, wie die Kammer durch die extensive Auslegung der Beihilfe rechtliche Zurechnungsstandards flexibilisiert und welche rechtsdogmatischen Spannungen damit einhergehen. Das belegt auch das Sondervotum von Richter Kovács, der im Ergebnis gegenteilig entscheidet (Judgment, Rn. 4285–4286).
Ein weiterer Ausdruck der Flexibilität zeigt sich in der Handhabung des Kausalzusammenhangs: Zwar entspricht der Verzicht auf die Notwendigkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen Ngaïssonas Beitrag und den begangenen Straftaten (Judgment, Rn. 4038) der ständigen Rechtsprechung des IStGH. Wenn der daraus resultierende weite Anwendungsbereich der Beihilfe dann aber nicht wenigstens normativ wieder eingefangen wird (etwa über die Anforderung, das Risiko der Begehung von Straftaten zu erhöhen, so Ambos, Treatise I, S. 239), steigt die Rechtsunsicherheit.
In subjektiver Hinsicht genügte der Kammer die Kenntnis von der gewaltförmigen, antimuslimischen Agenda der Anti-Balaka. Ein zielgerichteter Wille zur Herbeiführung einzelner Taten oder detaillierte Tatkenntnis seien nicht erforderlich; das „Zweck“-Erfordernis beschränke sich auf die Förderung der Gesamtverbrechen (vgl. Bemba et al. TJ, Rn. 1327). Diesen Maßstab erachtete die Kammer insbesondere im Hinblick auf den makrokriminellen Kontext für gerechtfertigt (Judgment, Rn. 4038).
Keine Einschränkung bei neutralen Handlungen
Die Verteidigung argumentierte, dass die finanzielle Unterstützung durch Ngaïssona teilweise rein humanitäre Gründe hatte (Judgment, Rn. 4038) – implizit ein Hinweis auf das Problem neutraler Handlungen in der Beihilfedogmatik. Doch auch hier verzichtete die Kammer auf eine normative Begrenzung (Judgment, Rn. 4040), obwohl dies durch die in Art. 17 Abs. 1 lit. d und Art. 53 IStGH-Statut verkörperte Gravity-Schwelle nahegelegen hätte (siehe Ambos, Treatise I, S. 242).
Die rechtsdogmatischen Bedenken gegen diesen weiten Zurechnungsrahmen bringt auch das Sondervotum von Richter Kovács zum Ausdruck. Er kommt nämlich zum Ergebnis, dass bestimmte Folterhandlungen durch Ngaïssona gerade nicht vorhersehbar waren (Judgment, Rn. 4128, 4285). Letztlich zeigt sich: Durch eine Gesamtschau der ohnehin konturenarmen Zurechnungskriterien in Art. 25 Abs. 3 lit. a und c IStGH-Statut hat die Kammer ihren Subsumtionsspielraum erheblich erweitert.
Beweiswürdigung zwischen Verfahrensökonomie und Verteidigungsrechten
Gerade die Beweiswürdigung steht exemplarisch für den Ansatz der Kammer, Einzelaspekte stets im Licht des Gesamtgeschehens zu bewerten. Zahlreiche prozessuale Streitfragen, die das Verfahren maßgeblich prägten, finden im Urteil nur kursorische Erwähnung – etwa zur Zeugenvorbereitung und den Offenlegungspflichten.
Die klassische Vorbereitung von Zeugen lehnte die Kammer ausdrücklich ab und erlaubte stattdessen nur eine „Eingewöhnung“ auf die Vernehmungssituation, die sogenannte „familiarisation“. Die Kammer folgte der gängigen Praxis, verschiedene Eingewöhnungsregeln in einem Protokoll festzuhalten, wich von den Vorgängerprotokollen jedoch marginal ab (Decision on Protocols, Rn. 17–30). Im Urteil erscheint das Thema nur im Rahmen von Glaubwürdigkeitsprüfungen (Judgment, Rn. 3106–3118), eine vertiefte Auseinandersetzung bleibt aus.
Die Beweisoffenlegung – traditionell ein neuralgischer Punkt im IStGH-Verfahrensrecht und regelmäßig Mitursache für überlange Prozesse (vgl. Independent Expert Review Report, Rn. 481) – entwickelte sich zum zentralen Spannungsfeld des Verfahrens, weil ihre vielfachen Mängel Ablauf und Fairness erheblich belasteten: Zwischen September 2019 und Juni 2024 stellte die Kammer mehr als ein Dutzend Verstöße der Anklage fest (vgl. etwa Yekatom Motion for Finding of Disclosure Violation, Rn. 10–12). Statt zum schärfsten Mittel des Verfahrensabbruchs („stay of proceedings“) zu greifen, entschied sich die Kammer für abgestufte Sanktionen im Verlauf des Verfahrens: Verwertungsverbote, kurze Vertagungen oder Anordnungen zur vollständigen Überprüfung der OTP-Datenbank, das zentrale digitale Archiv der Anklagebehörde am IStGH (vgl. etwa Decision on Disclosure Violations, Rn. 17). Trotz dieser Verstöße verzichtete die Kammer darauf, diese im Urteil strafmindernd zu berücksichtigen (Judgment, Rn. 4461).
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage nach Authentizität und Integrität von Beweismitteln besondere Bedeutung. Dabei offenbart die Kammer eine bemerkenswerte Flexibilität, vor allem durch den Rückgriff auf den sogenannten submission approach.
Der submission approach als Türöffner
Der submission approach erlaubt es der Kammer über die Zulassung von Beweismitteln erst im Urteil im Rahmen der Beweiswürdigung zu entscheiden – es sei denn, deren Erlangung verstößt gegen das Statut oder international anerkannte Menschenrechte und wirft substanzielle Zweifel an der Verwertbarkeit nach Art. 69 Abs. 7 IStGH-Statut auf (Judgment, Rn. 132). Die recht lapidare Erklärung der Kammer, diesem approach zu folgen, ist mehr als bloße Praxisfrage. Sie reiht sich ein in einen institutionellen, seit Jahren schwelenden Streit: Lange galt am IStGH die Praxis, Beweismittel grundsätzlich zum Zeitpunkt ihrer Vorlage zuzulassen oder abzulehnen (admission approach). Einen Wendepunkt markierte das Ongwen-Verfahren (Ongwen, Rn. 237), ebenfalls unter Vorsitz von Schmitt, das den submission approach am IStGH wohl endgültig salongfähig machte (siehe dazu auch hier). Während dieser Umgang aus kontinentaleuropäischer Perspektive kaum überraschend erschien, stieß er im Common-Law-geprägten Prozessverständnis teils auf erheblichen Widerspruch. Dies zeigte sich besonders im Verfahren Gbagbo und Blé Goudé: Dort beantragte die Verteidigung, bestimmte Dokumente wegen fehlender Authentizität auszuschließen, worüber die Verfahrenskammer trotz eigener Zweifel an der Authentizität erst in ihrem Urteil entscheiden wollte. Richter Henderson widersprach diesem Ansatz in einem scharf formulierten Sondervotum:
„[T]his Trial Chamber did not make any admissibility rulings. This means that there has been absolutely no filter on what the parties were able to submit into the case record. This has resulted in the case record being flooded with documents of doubtful authenticity as well as documents containing significant anonymous hearsay” (Rn. 4).
Ganz von der Hand zu weisen sind diese Einwände nicht. Doch auch der admission approach überzeugt gerade bei Authentizitätsfragen kaum: Wie Gbagbo und Blé Goudé zeigt, lassen sich Echtheitszweifel oft nur durch ergänzende Beweise klären (Rn. 39). Genau hier setzt der submission approach an: Die Kammer berücksichtigt spätere Zusammenhänge im Rahmen der Beweiswürdigung. Umgekehrt entsteht das Problem, dass frühzeitig geäußerte Zweifel an der Authentizität in eine Beweiswürdigung umgedeutet werden könnten – was zu unnötigen Missverständnissen führt. In Gbagbo und Blé Goudé wollte die Verteidigung darin einen Verstoß der Kammer gegen ihren eigenen submission approach sehen.
Das Bekenntnis der Kammer im Verfahren von Alfred Yekatom und Patrice-Edouard Ngaïssona zum submission approach ist daher weit mehr als eine Formalie. Die Verteidigung verlor damit die Möglichkeit, Zulässigkeitseinwände frühzeitig geltend zu machen (vgl. Judgment, Rn. 134), wodurch eine zentrale Form der Einflussnahme eingeschränkt wird. Frühzeitige Einwendungen bergen stets das Risiko der Verfahrensverschleppung. Entscheidend ist daher, in welchem Umfang dieses Verzögerungsrisiko akzeptiert werden kann, ohne die verteidigungsrechtlichen Garantien unangemessen zu schwächen.
Direkte Konsequenz des im Verfahren angewandten submission approach ist der Urteilsabschnitt zu allgemeinen Beweisfragen, der sich wie eine Art Beweis-Credo der Kammer liest: Unwesentliche Beweise werden nicht automatisch ausgeschlossen, Hörensagen und Indizien sind zulässig und werden im Gesamtzusammenhang gewürdigt (Judgment, Rn. 135). Eine Bestätigung durch weitere Belege ist nicht erforderlich – ein einzelnes Beweismittel kann genügen (Judgment, Rn. 138). Zweifel an der Glaubwürdigkeit oder dem Beweiswert prüft die Kammer nicht vorab, sondern erst im Rahmen der Gesamtwürdigung (Judgment, Rn. 138). Was im deutschen Verfahrensrecht weitgehend als selbstverständlich gilt, ist vor dem IStGH nach wie vor umstritten und hängt entscheidend von der verfahrensleitenden Kammer ab.
Beweismanipulation im Gesamtbild
Schon früh im Hauptverfahren warf die Verteidigung der Anklagebehörde einen „deliberate and concerted effort to present false evidence” vor: Zeugen, intermediaries (Kontaktpersonen zur Beweisgewinnung), mutmaßliche ehemalige Kindersoldaten und weitere Personen hätten sich abgesprochen und so Beweise für den – letztlich nicht nachgewiesenen – Anklagepunkt der Rekrutierung von Kindersoldaten frei erfunden (Exclusion Request, Rn. 2–3; siehe auch hier). Die Verteidigung stützte sich auf mutmaßliche Verstöße gegen Art. 54 Abs. 1 sowie Art. 67 Abs. 1 lit. e und Abs. 2 IStGH-Statut. Danach hatten Ermittlungsdefizite und unzureichende Kontrolle über die intermediaries Beweismanipulationen geradezu heraufbeschworen. Die Anklagebehörde habe bewusst die Augen vor offenkundigen Zweifeln an der Glaubwürdigkeit von Zeugen verschlossen und durch protracted failures Verfahrensrechte verletzt (Exclusion Request, Rn. 4).
Anders gewendet: Die Verteidigung unterstellte der Anklagebehörde damit nicht bloß Unachtsamkeit, sondern konstruierte eine Wissenszurechnung. Ihre grob fahrlässige Unkenntnis gehe so weit, dass sie als Wissen gewertet werden müsse. Die TC V folgte dieser Argumentation nicht. Art. 69 Abs. 7 verlange mehr als spekulative Zusammenhänge zwischen Verfahrensverstößen und Beweisgewinnung. Auch die Übertragung des (in der deutschen Vorsatzdogmatik nur vereinzelt diskutierten) Konzepts der Tatsachenblindheit oder -gleichgültigkeit (willful blindness) überzeugte die Kammer nicht: Gefälschte Beweise vorzulegen ist nach Art. 70 IStGH-Statut nur bei Kenntnis der Manipulation strafbar und diese sei tatsächlich und nicht normativ zu verstehen; eine bloß unterstellte Gleichgültigkeit reiche also nicht aus (Exclusion Request, Rn. 29). Eine solche restriktive Lesart der Kenntnis lässt sich der Vorsatznorm des Art. 30 – die auch für Rechtspflegedelikte gilt – allerdings nicht entnehmen und sie ist auch im Zusammenhang mit Art. 69 Abs. 7 und der Frage der Beweisverwertung bei Beweismanipulation nicht zwangsläufig: Bei einer solchen fundamentalen Verletzung der Beschuldigtenrechte scheint es angebracht, auch bei Tatsachengleichgültigkeit den Beweis auszuschließen.
Auch wenn die Kammer die These einer gezielten „Beweisfabrikation“ („fabrication“) nicht übernahm, beeinflusste sie spürbar ihre Beweiswürdigung. Die in den Urteilen des IStGH ohnehin schon stark verfahrensökonomisch ausgerichtete Kategorisierung sämtlicher Zeugen wurde weiter ausdifferenziert: nach Kontakten zu intermediaries oder wiederkehrenden Unstimmigkeiten (Judgment, Rn. 194 ff.). Obwohl das Urteil den Begriff „fabricated“ meidet, reagierte die Kammer auf die Manipulationsvorwürfe: Sie unterscheidet klar zwischen Irrtum, Erinnerungslücke und Täuschung als Faktoren der Beweiskraft; und ein Kreuzverhör kann nicht nur die Glaubhaftigkeit der Aussage erhöhen, sondern auch den schweren Vorwurf einer Beweiserhebung unter Verletzung des Statuts oder international anerkannter Menschenrechte entkräften (Decision on Exclusion, Rn. 11).
Nicht zugelassen wurden trotz des flexiblen Ansatzes der Kammer die Beweise im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Rekrutierung von Kindersoldaten (Judgment, Rn. 506 ff.): Aufgrund widersprüchlicher Aussagen, gefälschter Dokumente sowie zeitlicher Unstimmigkeiten verwarf die Kammer deren Angaben als unglaubhaft. Richter Chung hielt diese Unstimmigkeiten jedoch für marginal (Sondervotum Chung, Judgment, Rn. 529); ein weiteres Beispiel für die Elastizität des holistischen Beweiswürdigungsansatzes. Die Zweifel der Kammer erfassten auch weitere Beweise, etwa NGO-Aussagen oder Demobilisierungslisten, die auf denselben Dokumenten beruhten.
Pionierhaft flexibel: Beweiswürdigung digitaler Beweismittel
Der Umgang der Kammer mit elektronischen Beweismitteln – insbesondere Facebook-Posts, Verbindungsdaten (Call Data Records, CDRs) und Ngaïssonas E-Mail-Korrespondenz – markiert einen Meilenstein in der IStGH-Praxis. Anders als in früheren Verfahren, in denen entsprechende Beweismittel entweder nie das Licht einer Hauptverhandlung erblickten (etwa in Al-Werfalli) oder kaum systematisch ausgewertet wurden (wie in Bemba et al.), unterzog die TC V das Material einer detaillierten rechtlichen Prüfung.
Facebook-Dokumente etwa ließ die Kammer in großer Zahl zu – ohne formelle Authentifizierung durch Plattformmitarbeitende, gestützt allein auf die Rechtmäßigkeit der Rechtshilfeersuchen (Judgment, Rn. 154). Auch den Versuch der Verteidigung, das gesamte Social-Media-Material pauschal als potenzielle „Fake News“ zu disqualifizieren (s. Ngaïssona Defence Closing Brief, Rn. 83), wies sie zurück. Ähnlich bei den CDRs: Als routinemäßig generierte Abrechnungsdaten galten sie als authentisch, sofern sie ordnungsgemäß übermittelt und sachkundig bestätigt wurden (Judgment, Rn. 180).
Im Fall der Yahoo-E-Mails zu Ngaïssona beanstandete die Verteidigung Formatierungsfehler und eine lückenhafte Dokumentation der sogenannten chain of custody (oder auch „Verwahrkette“, also die Nachvollziehbarkeit, wer wann Zugang zu den Daten hatte und wer wann welche Verarbeitungsschritte an den Daten vorgenommen hat, vgl. C. Rückert, S. 377). Doch auch hier hielt die Kammer an ihrem flexiblen Ansatz fest: Technische Unregelmäßigkeiten seien nur dann beachtlich, wenn sie die Gesamtzuverlässigkeit des Beweiskonvoluts ernsthaft erschüttern („The Chamber does not find the alleged processing errors or anomalies to be of such a degree that they show a pattern which affects the overall reliability of the collection“, Judgment, Rn. 869). Entscheidend blieb die Einbettung der E-Mails in den Gesamtzusammenhang, insbesondere durch Zeugenaussagen zum Entstehungskontext der Kommunikation.
Auch dieses Vorgehen spiegelt die beweisrechtliche Linie der Kammer wider: Technische Mängel allein führen nicht zur Beweisverwertungssperre, entscheidend ist vielmehr das Zusammenspiel von Authentizität, Kontext und inhaltlicher Konsistenz.
Grenzen im Umgang mit sexualisierter Gewalt
Als Paradebeispiel für die Verfolgung sexualisierter Gewalt taugt das Verfahren allerdings nicht: Das zeigte sich schon im Vorverfahren (zur Kritik hier und hier) und setzte sich im Urteil fort. Mehrere gravierende Anklagepunkte betrafen die Vergewaltigung einer 19-jährigen Frau während des Anti-Balaka-Angriffs auf Bossangoa am 5. Dezember 2013. Zwar bestätigte die Kammer, dass diese Taten stattfanden, doch ließ sich Ngaïssonas Schuld hierfür nicht zweifelsfrei begründen. Entscheidend war der fehlende Nachweis des subjektiven Tatbestands: Nach gefestigter Rechtsprechung ist erforderlich, dass der Täter bzw. Teilnehmer mit nahezu sicherem Wissen („virtual certainty“) davon ausgeht, dass der Erfolg im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse eintreten wird (Lubanga, Rn. 447; Katanga, Rn. 776 f.; Bemba et al., Rn. 29; Ongwen, Rn. 2695; Al Hassan, Rn. 1121). Für die Vergewaltigungen reichte dies im vorliegenden Fall nicht aus (Judgment, Rn. 4129), was angesichts der Betroffenensicht eine ernüchternde Konsequenz darstellt. Diese Entscheidung verdeutlicht damit die dogmatischen Grenzen und Herausforderungen einer flexiblen Verfahrenspraxis.
Am Ende zählt der Kontext
Das Urteil gegen Yekatom und Ngaïssona steht exemplarisch für die wachsende Bedeutung verfahrensleitender Entscheidungen im Völkerstrafrecht. Über vier Jahre hinweg prägte die Trial Chamber V das Verfahren durch eine aktive, auf Effizienz und Kontrolle ausgerichtete Führung. Ob bei der Zulassung und Gewichtung von Facebook-Posts, Call Data Records und E-Mails, bei der Differenzierung zwischen Erinnerungslücken und bewusster Täuschung oder der systematischen Glaubwürdigkeitsprüfung einzelner Zeugen – immer wieder war es die prozedurale Architektur, die den Ausschlag gab.
Kennzeichnend ist ein zunehmend flexibler, auf Kontext und Plausibilität fokussierter Bewertungsstil. Die sogenannte „Gesamtbetrachtung“ erlaubt es, komplexe Beweislagen zu integrieren, ohne sich auf starre Prüfschemata festzulegen. Diese Offenheit mag der Komplexität internationaler Strafverfahren angemessen sein, sie erschwert jedoch eine gezielte Auseinandersetzung mit konkreten Schwachstellen der Beweisführung. Was als differenzierte Bewertung beginnt, läuft Gefahr, in einer Blackbox der freien richterlichen Beweiswürdigung zu enden.
Damit setzt sich am IStGH ein Trend fort, den Puppe bereits für die deutsche Strafrechtsdogmatik diagnostizierte: die Abkehr von klaren Kriterien zugunsten eines wertenden Gesamtbildes, bei dem offenbleibt, welche Tatsachen aus welchen Gründen den Ausschlag geben (Puppe AT, S. 6). Nicht die Beweise allein, sondern ihre prozessuale Rahmung entscheidet über das Ergebnis – auch das ist eine Lehre aus einem der bislang umfangreichsten Verfahren der IStGH-Geschichte.
Vielen Dank für den Beitrag.
Wenn Sie eine Frage gestatten, leidet der IStGH nicht an einem offensichtlichem Strukturproblem und Legitimitätsdefizit, wenn bisher lediglich Afrikaner verurteilt wurden?