06 February 2023

Zum Mythos des Direktmandates aus Sicht der Wählerinnen und Wähler

Am Montag, den 6. Februar befasst sich der Ausschuss für Inneres und Heimat in einer öffentlichen Anhörung mit dem Gesetzesentwurf der Ampelkoalition zur Reform des Bundestagswahlrecht. Der neue Entwurf hat einige Diskussionen hinsichtlich direkt gewählter Abgeordneter ausgelöst, denn er bricht mit der Tradition, dass Kandidierende, die eine relative Mehrheit im Wahlkreis gewinnen, automatisch ins Parlament einziehen, selbst wenn sie nur 20% der Erstimmen oder sogar weniger erhalten. Viele halten allerdings diese Tradition für unverzichtbar, da die Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern die Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie sichere. Obwohl es nach der Reform im Einzelfall sein kann, dass kein Kandidierender eines Wahlkreises in den Bundestag einzieht und man dann über Nachbarschaftsvertretungsregelungen sprechen wird, werden auch jetzt schon über Listenplätze regelmäßig mehrere Kandidierende eines Wahlkreises in den Bundestag gewählt. Warum sollte die Vertretung eines Wahlkreises also exklusiv beim Direktmandat liegen? Grund genug, sich die Erststimme näher anzuschauen.

Mythos Bürgernähe: Wie Bürgernähe zustande kommt

Direkt gewählte Abgeordnete werden in der öffentlichen Diskussion oftmals als die wahren Garanten für Bürgernähe des politischen Systems und daher als besonders legitimiert idealisiert. Wer hätte nicht selbst schon einmal diesem einleuchtend klingenden Argument vorschnell zugestimmt? Unbestritten ist, dass Bürgernähe an sich zentral ist, damit Repräsentation und letztlich unser politisches System funktioniert. Durch die Wahl von Abgeordneten in Wahlkreisen wird eine Vielfalt von spezifischen, auch regionalen Interessen in die parlamentarische Arbeit eingespeist. Umgekehrt wird die Arbeit des Bundestages durch die Wahl von Abgeordneten in Wahlkreisen weniger abstrakt. Sie wird durch konkrete, vor Ort erfahrbare Stimmen und Gesichter vermittelt, die sich von der Wahrnehmung von Polit-Promis in Talkshows unterscheidet.

Was würde passieren, wenn wir die Anreize für Abgeordnete abschaffen würden, im Wahlkreis möglicherweise unabhängiger von der eigenen Partei wiedergewählt zu werden? Warum sollten Abgeordneten dann noch in die Wahlkreise gehen, dort wohnen, Politik erklären, Kontakte mit lokalen Akteuren pflegen und Abgeordnetenbüros betreiben? Stattdessen würden sie vermutlich ganz nach oder in die Umgebung von Berlin ziehen. Die Konsequenz wäre eine noch bedeutendere Berliner Politik-Bubble, von der sich viele Bürgerinnen und Bürger nicht vertreten fühlen würden. Aus meiner Erfahrung als Experte in einer Wahlrechtskommission in den Niederlanden weiß ich, dass die mangelnde Repräsentation in der Fläche in einem solchem System, also gerade ohne die Wahl in Wahlkreisen, als ein großes Problem gesehen wird. Die Wahl von Abgeordneten in Wahlkreisen erleichtert es, die Politik im fernen Berlin für Bürgerinnen und Bürger vor der eigenen Haustüre erfahrbar zu machen.

Wer allerdings behauptet, es seien exklusiv direkt gewählte Abgeordnete, die für lokale Bürgernähe verantwortlich sind, während sogenannte Listenabgeordnete im bürgerfernen Berlin verweilen, macht es sich deutlich zu einfach. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist es weder theoretisch noch empirisch nachvollziehbar, warum dies der Fall sein sollte. Die Realität ist komplexer: Wem Bürgernähe wichtig ist, der sollte zuallererst nicht darauf schauen, wie ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete zu ihrem Amt kam. Entscheidend ist vielmehr, wie sich diese Abgeordnete in ihrer täglichen Arbeit im Spannungsfeld von möglicherweise divergierender Partei- und Wahlkreisinteressen verhalten.

Es gibt keine Abgeordneten erster und zweiter Klasse

Es ist ein Fehlschluss zu behaupten, dass nur direkt gewählte Abgeordnete ein Interesse daran haben, sich lokalen Wahlkreisthemen zu widmen. Im Gegenteil: Alle Parteien und damit auch alle Abgeordnete haben ein Interesse daran, vor Ort präsent zu sein. Lokale Präsenz dient dabei nicht nur dazu, die eigene Politik zu vermitteln. Populäre Wahlkreiskandidierende helfen, Zweitstimmen für die eigene Partei zu gewinnen: Aus der repräsentativen Wahlstatistik wissen wir, dass für je vier Erststimmen, die Kandidierende einer Partei erhalten, etwa drei Zweitstimmen an ihre Partei gehen. Zudem gibt es Studien, die zeigen, dass Parteien mehr Zweitstimmen in Wahlkreisen erhalten, in denen sie mit eigenen Kandidierenden aufwarten können. Gerade bei kleinen Parteien, deren Kandidierende wenig Chancen haben in einem Wahlkreis die relative Mehrheit der Stimmen zu erhalten, ist die eigene Wahlkreiskandidatur oft sogar eine notwendige Bedingung, um auf einen aussichtsreichen Listenplatz zu kommen. Natürlich können umgekehrt Wahlkreiskandidierende auch von der Popularität ihrer Parteien profitieren. Es gibt immerhin eine Studie, die zumindest für die Wahl 2013 zeigen konnte, dass Wählerinnen und Wähler – wenn überhaupt – schneller wissen, welche Partei sie wählen und mehr Mühe haben, für wen sie sich mit ihrer Erststimme entscheiden. Nach dem bisherigen Stand der Forschung sind also beide Kausalrichtungen möglich: Parteien können von ihren lokal populären Kandidierenden profitieren. Umgekehrt profitieren Kandidierende in Wahlkreisen von ihren populären Parteien.

Dazu passt, dass wir im Bundestag im Wesentlichen zwei Typen von Abgeordneten vorfinden. Beim ersten Typ handelt es sich um Abgeordnete mit einem Direktmandat, die in ihrem Wahlkreis die relative Mehrheit der Erstimmen gewonnen haben. Beim zweiten Typ handelt es sich entgegen weitverbreiteten Wahrnehmungen nicht um Abgeordnete mit Listenmandat, die keinerlei Verbindung zu Wahlkreisen haben. Nein, beim zweiten Typ handelt es sich um Abgeordnete mit einem Listenmandat, die genau wie der erste Typ in einem Wahlkreis angetreten sind, dort aber die Mehrheit verpasst haben, und anschließend über die Landesliste ihrer Partei eingezogen sind. Strenggenommen gibt es noch einen dritten Typ, sogenannte reine Listenabgeordnete, die in keinem Wahlkreis antreten und nur über einen vorderen Platz auf einer Landesliste ihrer Partei ins Parlament einziehen. Zahlenmäßig spielen diese Abgeordneten jedoch mittlerweile keine Rolle mehr. Wer sich also zur Wiederwahl stellt und sich möglicherweise nicht nur auf einem ausreichenden Listenplatz verlassen will, wird auch in einem Wahlkreis antreten, und sich daher stärker um die Bürgerinnen und Bürger und ihre Anliegen vor Ort kümmern. Diese Verhaltensanreize, die durch die Wahl im Wahlkreis vermittelt werden, hängen also nicht am gewonnenen Direktmandat.

Die politikwissenschaftliche Forschung zeigt vielleicht überraschend eindeutig, dass von einem arbeitsteiligen Verhältnis der Abgeordneten im Bundestag – Abgeordneten mit Direktmandat kümmern sich um die Interessen ihres Wahlkreises, während die im Wahlkreis unterlegenen, aber über die Parteiliste gewählten Abgeordneten sich als Repräsentant ihrer Partei vermehrt um Parteipolitik kümmern – nicht die Rede sein kann. Wer als Listenabgeordnete im Wahlkreis antritt, und sich insbesondere Hoffnungen macht eine Mehrheit dort zu gewinnen, verhält sich genauso wie Abgeordnete, die beim letzten Mal eine Mehrheit im Wahlkreis gewonnen haben. Sie pflegen Kontakte, sind präsent vor Ort, halten Sprechstunden in ihrem Wahlkreisbüro ab und vertreten Interessen des Wahlkreises im Bundestag. Daher ist es für Bürgerinnen und Bürger schwer zu erkennen, um welchen Typ von Abgeordneten es sich im konkreten Fall handelt. Von offizieller Seite her wird auch kein Unterschied gemacht. Nehmen wir zum Beispiel die zahlreichen Neujahrsempfänge in den Städten und Gemeinden. Dort werden etwa nicht nur exklusiv Abgeordnete mit einem Direktmandat eingeladen, sondern natürlich alle Abgeordnete des Wahlkreises, ob sie nun eine relative Mehrheit an Erstimmen erhalten haben oder nicht. Es gibt schlicht keine Abgeordneten erster und zweiter Klasse.

Was Ausschussmitgliedschaften, namentliche Abstimmungen und der Gebrauch von Fragerechten offenbaren

Nehmen wir aber einmal hypothetisch an, die obenstehenden Argumente würden nicht zutreffen und ein Direktmandat ist etwas Besonderes, nicht nur für Abgeordnete selbst, sondern auch in den Augen der Bürgerinnen und Bürger. Was müsste zu beobachten sein, um etwa von einer stärkeren Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürger eines Wahlkreises zu ihrem jeweiligen direkt gewählten Abgeordneten sprechen zu können – was gerade in politischen Diskussionen leider häufig fälschlicherweise so behauptet wird?

Aufgrund der Anreize durch die Wahl in Wahlkreisen ist es plausibel anzunehmen, dass direkt gewählte Abgeordnete durch ihre Arbeit im Bundestag versuchen im Wahlkreis zu glänzen, um so etwa ihre Wiederwahlchancen zu erhöhen. Fallen Abgeordnete mit Direktmandat etwa durch besonderes Verhalten im Parlament eher den Leuten im Wahlkreis auf als andere? Um das herauszufinden, blickt die politikwissenschaftliche Forschung etwa auf Ausschussmitgliedschaften, auf sogenannte namentliche Abstimmungen und untersucht den Gebrauch von Fragerechten im Parlament als strategisches Signal an den Wahlkreis.

Die Zuweisung von Abgeordneten zu bestimmten Parlamentsausschüssen ist nicht zufällig. Durch die Mitarbeit von Abgeordneten im Auswärtigen Ausschuss, also womöglich einem der wichtigsten Ausschüsse des Deutschen Bundestages, lassen sich weniger wahrscheinlich vorteilhafte Projekte für den Wahlkreis fördern wie etwa im Ausschuss für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen oder dem Ausschuss für Tourismus. Zusammen mit Thomas Zittel konnten wir zeigen, dass in Ausschüssen, die sich dafür anbieten, vorteilhafte Projekte für den eigenen Wahlkreis zu fördern, eher Abgeordnete sitzen, die auch lokal stärker verwurzelt sind. Allerdings finden wir gerade nicht, dass eher direkt gewählte Abgeordnete in solchen Ausschüssen sitzen.

Nehmen wir als nächstes Beispiel namentliche Abstimmungen im Bundestag. Wenn es so ist, dass direkt gewählte Abgeordnete gerade diejenigen wären, die für die Interessen ihres Wahlkreises besonders einstehen, dann sollte man erwarten, dass direkt gewählte Abgeordnete eher in namentlichen Abstimmungen von der Parteilinie abweichen als Abgeordnete, die ihren Sitz über die Parteiliste erhalten. Diese Erwartung erfüllt sich ebenfalls nicht. Im Gegenteil: Neuere Forschung von Ulrich Sieberer und Tamaki Ohmura zeigt, dass direkt gewählte Abgeordnete im Allgemeinen eher nicht gegen die eigene Partei stimmen.

Vielleicht ist es auch zu viel verlangt, das Abgeordneten sich offen gegen ihre Partei stellen, wenn es zum Schwur kommt, um Interessen des Wahlkreises zu vertreten. Daher schauen wir uns die Forschung zu schriftliche und mündliche Frageverhalten von Abgeordneten im Bundestag an. Diese bestimmten Fragerechte erlauben es Abgeordneten, Aufmerksamkeit auf Interessen des Wahlkreises zu richten, ohne dabei von einer Parteilinie abweichen zu müssen. Thomas Zittel, Dominic Nyhuis und Markus Baumann konnten mit quantitativen Inhaltsanalysen zeigen, dass gerade lokal stark verwurzelte Abgeordnete und solche, die in volatilen Wahlkreisen kandidieren, eher ihre Fragen mit lokalen Referenzen versehen. Doch auch hier zeigt sich: Solche Abgeordnete sind nicht notwendigerweise direkt gewählte Abgeordnete.

Systematische Verhaltensunterschiede zwischen beiden Typen von Abgeordneten können eine scheinbar stärkere Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürger eines Wahlkreises zu ihren jeweiligen direkt gewählten Abgeordneten jedenfalls nicht erklären. Denkbar wäre, dass Bürgerinnen und Bürger sich nicht die Mühe machen, das unterschiedliche Auftreten der Abgeordneten in Berlin genauer zu analysieren. Viel einfacher wäre es, diese scheinbar exklusive Beziehung zum direkt gewählten Abgeordneten auf Basis von Information aufzubauen, die ursächlich im Wahlkreis zu finden ist.

Die vermeintlich besondere Beziehung zwischen Elektorat und Direktmandat

Wir könnten also abschließend vermuten, dass – sofern es eine stärkere Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürger eines Wahlkreises zu ihren jeweiligen direkt gewählten Abgeordneten gibt – sie sich in besseren Wiederwahlergebnissen manifestieren sollte. Zumindest sollten diese Abgeordneten Bürgerinnen und Bürger eher namentlich bekannt sein. Sie ahnen vermutlich bereits, was empirisch zu finden ist, aber der Reihe nach.

Es ist in der Forschung unstrittig, dass Amtsinhaber einen Stimmenvorteil bei Wahlen genießen. Das ist auch in der Bundesrepublik so, insbesondere auf Wahlkreisebene. Allerdings müssen wir nun präzise bleiben. Denn auf den Wahlplakaten steht vielleicht, dass eine Kandidatin „Unsere Abgeordnete für den Wahlkreis“ sei; das Kürzel „MdB“ signalisiert ein Übriges. Allerdings ist nicht klar, welcher Typ Amtsinhaber hier um die Erstimmen mit der „Erfahrung in Berlin“ wirbt. Ist das nun eine Abgeordnete als Amtsinhaberin, die die relative Mehrheit der Erststimmen beim letzten Mal errungen hat oder ist es eine Abgeordnete, die diese Mehrheit verpasst hat und über die Landesliste in den Bundestag eingezogen ist? Beide sind Mitglieder des Bundestages und bewerben sich als Amtsinhaber um eine Wiederwahl. Interessierte müssen schon in den Wahlergebnissen vom letzten Mal nachschauen, wer denn jetzt genau die relative Mehrheit im Wahlkreis errungen hat. Nicht unmöglich, aber für politisch weniger Interessierte keine Option.

Gäbe es also so eine spezielle Beziehung zwischen Bürgerinnen und Bürgern eines Wahlkreises zum direkt gewählten Amtsinhaber, dann sollte doch dieser Amtsinhabereffekt wichtiger sein und daher für mehr Erststimmen bei der Wiederwahl sorgen als der Effekt von Amtsinhabern, die im Wahlkreis antreten, aber das letzte Mal dort unterlegen waren. Am saubersten können wir einen möglicherweise exklusiven Amtsinhaberbonus für Direktgewählte identifizieren, wenn wir die Erststimmenanteile bei der Wiederwahl vergleichen: von denen, die das letzte Mal den Wahlkreis knapp gewonnen haben, mit denen, die ihn knapp verloren haben. Beide Kandidierende sind in den Augen der Wählerschaft des Wahlkreises ähnlich qualifiziert und populär, da sie praktisch den gleichen Erststimmenanteil bekommen haben. Sie unterscheiden sich nur darin, dass die eine beim letzten Mal gerade noch das Direktmandat gewonnen hat und die andere eben gerade nicht. Eine solche Studie war Teil der von mir betreuten Masterarbeit von Marie-Lou Sohnius, die derzeit noch nicht veröffentlicht ist. Auch hier zeigte sich aber, dass direkt gewählte Wahlkreisabgeordnete bei der Wiederwahl als Amtsinhaber systematisch nicht mehr Erststimmen bekommen als per Liste gewählte Abgeordnete.

Schließlich sollte man erwarten, dass wenn Bürgerinnen und Bürger eine spezielle Beziehung zu direkt gewählten Wahlreisabgeordneten aufbauen, diese auch namentlich vor der Wahl leichter erinnern als die Abgeordneten, die über eine Landesliste ins Parlament gekommen sind. Die German Longitudinal Election Study (GLES), das zentrale Umfrageprogramm der Wahlforschung in Deutschland, fragt vor einer Wahl nach dem Namen und der Partei von Wahlkreiskandidaten der jeweiligen Befragten. Zusammen mit Oliver Rittmann und Marie-Lou Sohnius haben wir in einer noch in der Begutachtung befindlichen Studie entsprechende Daten der Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017 untersucht. Wir finden, dass generell Amtsinhaber, also Kandidierende, die bereits Abgeordnete sind und zur Wiederwahl antreten, deutlich bekannter sind als neue Kandidierende. Allerdings zeigt sich eben auch, dass es nicht entscheidend ist, wie diese Abgeordnete ins Parlament gewählt wurden. Insbesondere sind Abgeordnete, die im Wahlkreis direkt gewählt wurden, nicht bekannter als Abgeordnete, die zwar im Wahlkreis das letzte Mal verloren haben, aber trotzdem per Liste ins Parlament eingezogen sind.

Hauptsache, es wird in Wahlkreisen gewählt

Es zeigt sich also, dass man schwerlich von einer stärkeren Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürger eines Wahlkreises zu ihrem jeweiligen direkt gewählten Abgeordneten sprechen kann. Wäre diese Hypothese korrekt, sollte man die hier vorgestellten Ergebnisse damit in Einklang bringen können. Weder unterscheiden sich direkt gewählte Abgeordnete in ihrem Verhalten hinsichtlich der Mitarbeit in bestimmten Ausschüssen, bei namentlichen Abstimmungen oder im Gebrauch ihrer Fragerechte gegenüber Abgeordneten, die über eine Landesliste ins Parlament eingezogen sind. Bei der Wiederwahl haben Abgeordnete, die bei der letzten Wahl eine relative Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis bekommen haben, keinen Bonus gegenüber Abgeordneten, die diese Mehrheit knapp verfehlt haben. Schließlich erinnern Befragte den Namen der Abgeordneten mit Direktmandat nicht häufiger im Vergleich zu den anderen im Wahlkreis zur Wiederwahl antretenden Abgeordneten. Es scheint daher vernünftiger, davon auszugehen, dass es keine besondere Beziehung zu den jeweiligen direkt gewählten Abgeordneten gibt. Jedenfalls sollte sie wenigstens in politischen Diskussionen nicht künstlich überhöht werden.

Im Übrigen trägt auch das Argument nicht, dass eine Verringerung der Anzahl der Wahlkreise zu weniger Bürgernähe führen könnte. Zusammen mit Marie-Lou Sohnius und Oliver Rittmann konnten wir zeigen, dass selbst bei einer Verringerung der Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 180 nicht mit einer systematischen Verschlechterung der Demokratiezufriedenheit in der Bevölkerung zu rechnen ist. Entscheidend ist die Tatsache, dass überhaupt in Wahlkreisen gewählt wird. Das sorgt dafür, dass Abgeordnete, ob sie nun bereits mit 20 % der Erstimmen eine relative Mehrheit in einem Wahlkreis gewinnen können oder nicht, sich um den Wahlkreis kümmern und als Ansprechpersonen fungieren. Das erhöht entweder die eigene Wiederwahlchancen oder die Chancen, mehr Stimmen für ihre jeweilige Partei gewinnen zu können. Bürgerinnen und Bürger werden das entsprechende Angebot nutzen, sich an die zu wenden, die vor Ort sind.


SUGGESTED CITATION  Gschwend, Thomas: Zum Mythos des Direktmandates aus Sicht der Wählerinnen und Wähler, VerfBlog, 2023/2/06, https://verfassungsblog.de/zum-mythos-des-direktmandates/, DOI: 10.17176/20230206-233150-0.

9 Comments

  1. Jendrk Wüstenberg Wed 8 Feb 2023 at 14:09 - Reply

    Was der Artikel leider etwas übersieht ist der Umstand, dass Parteien angesichts immer weiter sinkenden Mitgliederzahlen, Überalterung und politischem Desinteresse intern negative Entwicklungen aufweisen, die diejenigen begünstigen, die lange genug “Stallgeruch” haben und der Parteiführung ergeben sind, da diese einen erheblichen realpolitischen Einfluss auf die Listenzusammensetzung hat. Entwertet man das Direktmandat, egal ob nun durch Reduzierung der Wahlkreise oder deren Entwertung auf andere Weise, so mag dies vielleicht zunächst nicht die Betreuungssituation im Wahlkreis vor Ort beeinträchtigen, doch aber auf Sicht die gesamte politische Kultur im Lande. Der Reiz des Direktmandates ist es ja, dass auch “Außenseiter”, Quereinsteiger und “Querköpfe” (im positiven Sinne) eine reale Chance haben. Direkt gewählte Kandidaten weichen üblicherweise öfter von der eigenen Parteilinie ab als bloße Listenkandidaten, die um einen guten Listenplatz bei der nächsten Wahl fürchten müssen und sich daher tendenziell konformistisch verhalten. Folge einer Entwertung des Direktmandates wird also eine weitere Fokussierung auf die Parteien, insbesondere ihre Führungen und eine intellektuelle und programmatische Einigelung derselben sein – eigentlich ein Umstand, der dem Gedanken des Art. 38 GG, wonach die Abgeordneten nicht ihrer Partei verpflichtet sein sollen, sondern dem ganzen deutschen Volke frei von Aufträgen und Weisungen, ganz real entgegensteht. Das wird hier leider komplett ausgeblendet.

    • Carl Alexander Wed 8 Feb 2023 at 16:31 - Reply

      Der von Ihnen kommentierte Beitrag nimmt auf neuere empirische Forschung Bezug, nach der direkt gewählte Abgeordnete gerade nicht häufiger gegen die Parteilinie abstimmen als Listenabgeordnete. Wie kommen Sie also darauf, dass das Gegenteil der Fall sei?

      Zu Ihrem Argument, dass die geplante Reform des Wahlrechts zu einer Einigelung der Parteiführungen führen würde, sei angemerkt, dass sich das Verhältnis im Bundestag bei Anwendung der geplanten Wahlrechtsändung zugunsten der Direktkandidaten auswirken wird – diese werden in den Fraktionen mithin ein größeres Gewicht besitzen als unter jetzt geltendem Recht.

  2. Jens Wed 8 Feb 2023 at 23:15 - Reply

    Interessante Ergebnisse. Ich finde auch den Schwerpunkt des Wahlkreises erfreulich.

    Was mich ein bisschen wundert, ist der Umstand, dass die Kausalität zwischen den Institutionen Wahlkreis, Erststimme und Direktmandat nicht beleuchtet wird. Aber das liegt vielleicht auch an der schwierigen Beobachtbarkeit.Der Text tut ein bisschen so, als hätte das alles nichts miteinander zu tun.

    Warum bemüht man sich denn als Kandidat um seinen Wahlkreis ? Weshalb stehen auf den Listen vor allem Wahlkreiskandidaten ? Warum spielt der Wettbewerb in einem Wahlkreis überhaupt eine große Rolle, auch wenn man ihn verliert ?

    Ein bisschen erinnert mich das alles an jemanden, der behauptet, es wäre ja egal wer Weltmeister wird, alle die ins Halbfinale (in die Endrunde) kommen spielten ja guten Fußball. Der gute Fußball wird vlt gespielt, weil es einen Weltmeister gibt (Naja, um ehrlich zu sein – wegen der Kohle, aber ich will nicht abschweifen).

    Ohne die Kausalitäten zu verstehen kann man nicht an so einem System drehen, ohne dass einen ggfs die langfristigen Folgen überraschen. Warum soll es gesellschaftlich wichtig bleiben, dass in Wahlkreise gewählt wird, wenn das keine Rolle mehr spielt ? Und dann landen wir u.U. halt doch bei der totalen Berliner Bubble. Und wer will die schon haben ? 🙂

    • Mittelwert Fri 10 Feb 2023 at 11:29 - Reply

      Tatsächlich wird die Bedeutung der Wahlkreismandate durch die geplante Wahlrechtsänderung entgegen populärer Annahme nicht verringert. Ebenso wie die Parteien gleichermaßen proportional von der Verkleinerung des Bundestages betroffen sind, wird sich auch der Anteil der über den Wahlkreis qualifizierten Abgeordneten durch die Reform gegenüber dem aktuellen Zustand nicht verringern.

      (In einem dpa-basierten Artikel ist mir das verbreitete Fehlverständnis besonders aufgefallen: Es könne sein, war dort zu lesen, dass der Kandidat mit relativer Mehrheit im Wahlkreis ggf. nicht in den Bundestag einziehe, sofern er nicht über die Landesliste abgesichert sei.
      Dabei ist die Kappung von Wahlkreismandaten natürlich nur im Fall des Überhangs vorgesehen, sodass für die Landesliste dann ohnehin keine Mandate übrig bleiben – eine Absicherung wäre höchstens über die Liste eines anderen Bundeslandes möglich!)

      Als Resultat der Reform ergibt sich nur für die Wahlkreiskandidaten einer Landespartei mit Überhang eine über die bloße relative Mehrheit hinausgehende zusätzliche Hürde, um tatsächlich ins Parlament gewählt zu werden. Für diese Landesparteien gewinnen also die genaueren Wahlkreisergebnisse noch an Bedeutung, während die Liste eben keine Rolle spielt.

  3. Gerhard Wed 22 Mar 2023 at 10:58 - Reply

    Hallo.

    Bin nicht vom Fach, weder juristisch noch politisch. Bitte also um Nachsicht dafür, dass mir mögliche “verfassungsrechtliche Fallstricke” des intuitiven Models, das ich hier zur Diskussion stelle nicht bekannt sind. Kurz und knapp: Was stimmt mit dem folgenden Modell nicht:

    Alle 299 Gewinner ihres Wahlkreises kommen in den Bundestag. Punkt. Und dann wird anhand der Zweitstimmen auf 500 Abgeordnete aufgefüllt. Punkt und Schluß.

    Was genau würde sich für die normalen Bürger damit verschlechtern, im Vergleich zu heute?

    Intuitiv passt das Modell für mich. Aber da muss ja irgendwo eine “Ungerechtigkeit” drinstecken, sonst gäbe es ja nicht die Konstruktion mit Überhang- und Ausgleichsmandaten. Wikipedia sagt dazu:

    “Wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach den erzielten Parteistimmen zustehen, kommt es zu Überhangmandaten.”

    Knackpunkt ist für mich das Wort “zustehen”. Wer gesteht hier wem was zu und warum? Bildet das entsprechende gesetzliche Regelwerk Bürgerinteresse ab, naiv gesprochen? Oder macht es nur innerhalb der (nicht immer ganz selbstlosen) Parteienlogik Sinn, und wäre dem Bürger im Grunde Wurscht?

    Danke für eine Einordnung, in möglichst einfachen Worten.

    • Thomas Gschwend Fri 24 Mar 2023 at 10:03 - Reply

      „Alle 299 Gewinner ihres Wahlkreises kommen in den Bundestag. Punkt. Und dann wird anhand der Zweitstimmen auf 500 Abgeordnete aufgefüllt.“

      Es ist jetzt nicht ganz klar, wie die restlichen 201 Sitze „aufgefüllt“ werden sollen. Nehmen wir an, dass sie nach dem Verhältnis der Zweitstimmen auf die Parteien verteilt werden.

      Der Vorschlag hätte Charme, da er eine feste Sitzzahl garantiert, nämlich 500, und dass alle erfolgreichsten Kandidierenden eines Wahlkreises automatisch in den Bundestag einziehen. Problem ist allerdings, dass es dem intuitiven Gerechtigkeitsverständnis widerspricht, dass eine Partei mit mehr Sitzen im Bundestag vertreten ist als ihr nach gewonnen Zweitstimmen zusteht – und das wird so sein, weil insbesondere die Union deutlich mehr Sitze gewinnen würde, wie das „Bürgerinteresse“ (operationalisiert der Einfachheit halber mal durch die Verteilung der Zweitstimmen zwischen den Parteien) nahelegen würde.

      Vermutlich sind sich sehr viele Leute einig, dass wir gerne folgenden drei Eigenschaften von einem Wahlrecht haben wollen: (1) Alle 299 erfolgreichsten kommen in den Bundestag, (2) feste Größe des Bundestages und (3) Sitzverteilung im Bundestag entspricht der Zweitstimmenverteilung der Parteien. Wie auch immer man darüber nachdenken möchte, man kommt aus dem Zielkonflikt nicht heraus, dass man zwangsläufig nicht alle drei Dinge gemeinsam unter einen Hut bekommt. Mindestens auf eine Bedingung muss verzichtet werden. Im Wesentlichen dreht sich die Diskussion darum, um welche Bedingung es sich handeln soll.

      • mq86mq Fri 24 Mar 2023 at 14:06 - Reply

        »Auffüllen« heißt normalerweise Additional Member System wie in Schottland: Die untere Ebene hat Priorität, und dann wird richtung Verhältniswahl korrigiert, soweit es die Gesamtsitzzahl noch zulässt. Dieses Prinzip ist generell der internationale Standard bei Anrechnungssystemen, aber meistens sind sie so konstruiert, dass volle Proportionalität nur ausnahmsweise verfehlt wird. Bei 3-stufigen Systemen wie in Deutschland hängt es halt auch noch entscheidend davon ab, ob schon auf der Landesebene Proporz angestrebt wird (mit der Folge, dass er bundesweit noch weiter verfehlt wird). Aber 201 Zusatzsitze würden praktisch jedenfalls auch nicht weiter reichen als in Schottland.

        Ob sowas vor dem BVerfG Bestand haben könnte, wär eine interessante Frage. Zumindest dürfte man es wohl nicht als Verhältniswahl verkaufen. Aber praktisch ziemlich irrelevant, nachdem nicht ersichtlich ist, woher eine Mehrheit für so ein System kommen sollte.

      • Gerhard Tue 28 Mar 2023 at 11:49 - Reply

        “Problem ist allerdings, dass es dem intuitiven Gerechtigkeitsverständnis widerspricht, dass eine Partei mit mehr Sitzen im Bundestag vertreten ist als ihr nach gewonnen Zweitstimmen zusteht …”

        Naja, da ist es wieder, das Wörtchen “zustehen”. Das intuitive Gerechtigkeitsverständnis könnte ja auch einfach die Erststimme höher priorisieren. Und wenn die CSU nun mal jede Menge Wahlkreise gewinnt, dann sollen sie eben auch ihre Wähler im Bundestag vertreten können. Ob man die Bayern mag oder nicht. Also etwa so, wie es “mq86mq” erklärt: Erststimme hat Priorität, Zweitstimme dient zum Ausgleichen “der Verhältnisse”. “Bestmöglich” wäre das anzuwendende Prinzip, nicht bis zur dritten Nachkommastelle.

        Und wenn die FDP dooferweise keine Wahlkreise gewinnt und nur 4.9% bekommt, ist sie eben raus. Klar, CSU (bundesweit) evtl. auch nur 4.9% Zweitstimme und trotzdem 40+ Abgeordnete (und FDP = 0) – das erscheint vielleicht manchem ungerecht. Ist es aber ja nur, wenn die Zweitstimme als Maß genommen wird. Und wer hat das so bestimmt? Zudem kriegt ja die CDU in Bayern nix, kann ja als “Trost” in Betracht gezogen werden.

        Müsste die FDP sich halt bemühen, lokal B ü r g e r mehrheiten zu bekommen (äh, warum nennt man sie nochmal Klientelpartei?).

        Vielen Wählern ist dieses “Ausgleichen” womöglich weniger wichtig als den Parteien. Bzw. “bestmöglich” gut genug. Diskussion von Vor- und (besonders) Nachteilen der “Parteiendemokratie” wäre wohl ein interessantes (anderes) Thema. Erst recht angesichts der hohen Zahl der Nichtwähler. Je mehr Nichtwähler, desto weniger Parteienrelevanz, könnte ein Standpunkt sein.

        Um etwaige Härten abzumildern und einen Kompromiss zu erlauben, könnte man a) die 5%-Hürde auf 4% oder 3% absenken – macht die FDP happy und könnte der Linken zumindest ein paar mehr Sitze als durch Direktmandate ermöglichen. Und b) von mir aus auch 598 statt 500 FIXE Abgeordnete akzeptieren, um den “CSU-Effekt” noch weiter abzumildern. 50% durch Erststimme, 50% durch Zweitstimme. Klingt das so irre?

        Danke für die Antworten, übrigens!

  4. Dr. rer. nat. Herbert Müller Mon 22 Jan 2024 at 11:25 - Reply

    Meinen Titel habe ich angeführt, um zu zeigen, dass ich mit Sozialwissenschaften nichts zu tun habe.

    Das deutsache Wahlrecht mit Erst- und Zweitstimmen ist eine Missgeburt. Verhältniswahl und Personenwahl können auch mit einer Stimme für den Wähler mit einander kombiniert werden. Auf der Website http://www.neuschreibung.de
    wird angelehnt an das Bundeswahlgesetz mit der Neufassung einiger Paragraphen ein entsprechender Vorschlag gemacht.

    Zitat aus diesem Vorschlag:
    § 1 Zusammensetzung des Deutschen Bundestages und Wahlrechtsgrundsätze
    (1) Der Deutsche Bundestag besteht aus 599 Abgeordneten. Sie werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl von den wahlberechtigten Deutschen gewählt.
    (2) Für die Wahl zum Deutschen Bundestag gelten die Grundsätze der Verhältniswahl. Jeder Wähler hat eine Stimme für die Wahl nach Kreiswahlvorschlägen, auf denen die zur Wahl zugelassenen Parteien aus ihrer Landesliste einen Bewerber benennen.
    (3) Die Stimme für einen Bewerber ist gleichzeitig eine Stimme für die Landesliste, auf der er gelistet ist.

    § 6 Vergabe der Sitze an Bewerber
    (1) Aus den Landeslisten werden alle Bewerber gestrichen, die keine Stimmen erhalten haben.
    (2) Die Reihenfolge der Bewerber auf den Landeslisten wird nach deren Stimmenzahlen neu geordnet.
    (3) Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los. Es ist vom Landeswahlleiter zu ziehen.
    (4) Ein Bewerber auf der Landesliste ist als Abgeordneter gewählt, wenn er bei der Vergabe der Sitze der Landesliste (§ 4 Absatz 3) einen Sitz erhält; die Vergabe erfolgt in der Reihenfolge der Landesliste. Entfallen auf die Landesliste mehr Sitze als Bewerber benannt sind, so bleiben diese Sitze unbesetzt.

    Alle anderen Paragraphen des BWG sind leicht anzupassen.

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