18 July 2022

Zur Reform der Verfassungsschutzkontrolle

Warum die Reformpläne der Bundesregierung begrüßenswert sind und dennoch ausgeweitet werden müssen

Der Inlandsgeheimdienst stehe „vor den größten Änderungen seiner Geschichte“, schreibt Ronen Steinke unter Berufung auf Informationen aus dem Innenministerium. Aus der neuesten Verfassungsrechtsprechung ergibt sich, dass bei vielen nachrichtendienstlichen Eingriffsbefugnissen eine unabhängige Vorabkontrolle zwingend ist. Die Reformideen, die unter anderem vorsehen, den Unabhängigen Kontrollrat damit zu beauftragen, sind grundsätzlich positiv zu bewerten. Allerdings gehen die Pläne nicht weit genug: Erstens ist das für die Bundesländer kein Best Practice-Modell, zweitens ergibt sich aus dem Urteil auch Änderungsbedarf bei der Datenschutzaufsicht und drittens sind die Rechtsprechungsvorgaben auf die anderen Nachrichtendienste übertragbar.

Vorabkontrollen bei eingriffsintensiven Maßnahmen

In dem Grundsatzurteil zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz (Urteil v. 26.4.2022, 1 BvR 1619/17) hat sich das Bundesverfassungsgericht erstmals zu einer Vielzahl nachrichtendienstlicher Befugnisse geäußert. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde waren zwar „nur“ Normen des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes. Trotzdem ergeben sich aus dem Urteil Anforderungen für den Bundes- und die Landesgesetzgeber, weil das Bundesverfassungsgericht vor der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einzelner Befugnisse „allgemeine Maßstäbe“ formuliert hat (Rn. 148 ff.). Es hat klargestellt, dass sich die Anforderungen an die Ausgestaltung der Befugnisse auch im Nachrichtendienstrecht aus der Verhältnismäßigkeit ergeben und mit zunehmender Eingriffsintensität ansteigen (Rn. 152, 174). Bei eingriffsintensiven Maßnahmen, die geheim erfolgen und potenziell vertrauliche Informationen erfassen, sei grundsätzlich eine unabhängige Vorabkontrolle notwendig (Rn. 214). Die Vorabkontrolle soll darüber entscheiden, ob die Voraussetzungen der Befugnisnorm gegeben sind. Dabei habe der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum: Entweder könne er eine richterliche Anordnung vorschreiben oder eine andere neutrale Stelle etablieren (Rn. 214, 224). Wichtig sei, dass die unabhängige Stelle „eigenverantwortlich“ darüber entscheidet, ob die beantragte Maßnahme rechtmäßig ist, wofür die „notwendigen sachlichen und personellen Voraussetzungen zu schaffen“ seien (Rn. 215). Explizit gefordert hat das Bundesverfassungsgericht unabhängige Vorabkontrollen nicht nur bei der Wohnraumüberwachung und der Online-Durchsuchung, sondern unter anderem auch bei längerfristigen Observationen sowie dem Einsatz von Vertrauenspersonen und Verdeckten Mitarbeiter*innen (Rn. 218 f.).

Wenn eine Wohnung überwacht werden soll, ergibt sich schon aus der Verfassung, dass ein Gericht die Maßnahme vorher genehmigen muss (Art. 13 Abs. 4 GG). Den Richtervorbehalt könnte der Gesetzgeber einfach-rechtlich auf weitere Befugnisse erstrecken. Das Bundesverfassungsgericht hatte in der Vergangenheit in vergleichbaren Kontexten keinen Hehl daraus gemacht, dass es Kontrollen durch Gerichte aufgrund ihrer institutionalisierten Unabhängigkeit präferiert (BVerfGE 120, 274 Rn. 259, 260: “Richter können (…) die Rechte des Betroffenen im Einzelfall am besten und sichersten wahren“; 125, 260 Rn. 248). Als Vorabkontrollinstitutionen kämen grundsätzlich auch die G 10-Kommissionen in Betracht, die aber insbesondere auf der Länderebene professionalisiert werden müssten. Bisher sind die G 10-Kommissionen unter anderem dafür zuständig, nachrichtendienstliche Maßnahmen zu genehmigen, die in den Anwendungsbereich von Art. 10 GG fallen, etwa die Telekommunikationsüberwachung.

Auf der Bundesebene könnte der Gesetzgeber zudem eine neue Kontrollinstitution schaffen, oder den Unabhängigen Kontrollrat (UKr) zur Vorabkontrolle der Maßnahmen verpflichten, der aktuell vor allem für die Kontrolle der Strategischen Ausland-Fernmeldeaufklärung des BND zuständig ist. Dazu tendieren die Expert*innen in den Innenministerien. Der UKr ist eine Institution, die vom Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 154, 152 entwickelt und in den §§ 40 ff. BNDG einfach-rechtlich umgesetzt wurde.1) Er besteht aus zwei Organen, einem gerichtsähnlichen und einem administrativen. Wenn von „dem Unabhängigen Kontrollrat“ gesprochen wird, der mit der Vorabkontrolle betraut werden soll, ist federführend das gerichtsähnliche Organ gemeint, das bereits de lege lata für die Vorabkontrollen zuständig ist.

Professionalität und richterliche Expertise sind Vorteile des Unabhängigen Kontrollrats

Gegen Richtervorbehalte im Nachrichtendienstrecht wird angeführt, dass es schwierig sei, an den Gerichten mit vielen beteiligten Richter*innen und ihren Mitarbeiter*innen die notwendige Vertraulichkeit und Geheimhaltung sicherzustellen.2) Auch müssten mit erheblichen finanziellen Ressourcen Abschirmungsmöglichkeiten für Gebäude geschaffen werden.3) Das Bundesverfassungsgericht entgegnet diesen Bedenken, es sei dem Gesetzgeber möglich, Kontrollinstitutionen zu schaffen, die die Vertraulichkeit wahren; das beweise schon die  G 10-Kommission (Rn. 224, § 15 Abs. 2 G 10-G). Für den UKr gilt nichts anderes. Die Räumlichkeiten beider Institutionen sind gegen Spionage abgeschirmt. Darüber hinaus haben der UKr und die G 10-Kommission den Vorteil, dass sie mit den für die Aufgabenerfüllung notwendigen Mitteln und technischem Sachverstand ausgestattet sind (§ 15 Abs. 2 S. 3 G 10-G, BVerfGE 154, 152 Rn. 284). Da sie bereits existieren, ist der konzeptionelle, finanzielle und organisatorische Aufwand ungleich geringer als bei einer neu zu schaffenden Kontrollinstitution.

Dafür, den UKr einzubeziehen, spricht vor allem, dass er auf große personelle Ressourcen zurückgreifen kann. Damit wäre eine zentrale Anforderung des Bundesverfassungsgerichts erfüllt (s.o.). Außerdem ist der UKr hochprofessionalisiert: Alle sechs Mitglieder des gerichtsähnlichen Kontrollgremiums müssen über langjährige Erfahrung als Richter*innen am Bundesgerichtshof oder am Bundesverwaltungsgericht verfügen4). Sie werden zu Beamt*innen auf Zeit ernannt und für insgesamt zwölf Jahre gewählt, weshalb sie sich vertieft einarbeiten und erhebliches Erfahrungswissen anhäufen können. Bedenken, wonach die Kontrolleure nicht über ausreichend nachrichtendienstliche Expertise verfügen, können dadurch entkräftet werden. Mit diesem hohen Professionalisierungsgrad ist der UKr der G 10- Kommission des Bundes überlegen, bei der zwar mindestens drei von fünf ordentlichen Mitgliedern Richter*innen sein müssen, die allerdings nur ehrenamtlich tätig sind und für einen erheblich kürzeren Zeitraum gewählt werden (§ 15 Abs. 1 G 10-G, für eine Wahlperiode).5)

G 10-Komission vor dem Bedeutungsverlust?

Anscheinend erwägt die Bundesregierung, dem UKr auch die Genehmigung von Telekommunikationsüberwachungen (TKÜ) des Verfassungsschutzes zu übertragen. Das würde die Bedeutung der G 10-Kommission massiv schwächen. Sie entscheidet „über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen“ nach dem G 10-Gesetz, kontrolliert die gesamte Verarbeitung der nach dem G 10-G erhobenen Daten und legt fest, ob Betroffene benachrichtigt werden. Die TKÜ ist der Hauptanwendungsfall der Beschränkungen gemäß § 3 G 10-G. Aus dem Zeitungsbericht von Ronen Steinke geht nicht hervor, ob auch individuellen Beschränkungen des MAD gem. § 3 G 10-G sowie die individuellen und strategischen Beschränkungen des BND gem. § 3, 5 G 10-G zukünftig durch den UKr genehmigt werden sollen. In der Überlegung der Bundesregierung wäre es folgerichtig, diese Aufgaben dem UKr zu übertragen – zumindest ist kein Grund ersichtlich, wieso nur die Individualbeschränkungen des Verfassungsschutzes einer anderen Kontrollinstitution übertragen werden sollten. Dafür spricht zudem, dass der UKR bereits die Strategische Ausland-Fernmeldeaufklärung des BND kontrolliert. Verfassungsrechtlich wäre das unproblematisch, weil Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG zwar eine Kontrollinstitution vorschreibt, das Bundesverfassungsgericht sich aber nie auf die G 10-Kommission festgelegt hat. Das Gericht fordert lediglich eine Kontrollinstanz, die der gerichtlichen Kontrolle „gleichwertig“ ist6) – was der UKr nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist.

Kein Best Practice-Modell für die Länder

Sollte sich der Bundesgesetzgeber für den UKr als Vorabkontrollinstitution entscheiden, kann dieses Modell von den Landesgesetzgebern nicht ohne Weiteres zum Vorbild genommen werden. In den Bundesländern existieren zwar G 10-Kommissionen, aber keine Unabhängigen Kontrollräte. Allerdings hat der Erste Senat in der mündlichen Verhandlung zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz betont, dass dem Kopieren aus bundesrechtlichen Normen schon aus Gründen des Demokratieprinzips Grenzen gesetzt sind, weil es sich beim Verfassungsschutz um eine Materie handelt, für die – mit Ausnahme der Zusammenarbeit von Bund und Ländern – eine Landesgesetzgebungskompetenz besteht.7) Mit den Reformideen, an denen auch Landesinnenministerien mitzuarbeiten scheinen, ist den Bundesländern also nicht geholfen. Sie könnten stattdessen ihre G 10-Kommissionen beauftragen, müssten diese aber professionalisieren. Möglich wäre zudem, in den Bundesländern eigene, dem UKr ähnliche Institutionen zu schaffen, was jedoch mit erheblichem finanziellen Aufwand verbunden wäre.

Nachbesserungsbedarf bei der Datenschutzaufsicht

Neben den Vorabkontrollen äußert sich das Bundesverfassungsgericht unter anderem zur aufsichtlichen Kontrolle, deren Aufgabe es ist, stichprobenartig zu kontrollieren, ob die Datenverarbeitung rechtmäßig ist (Rn. 290 m. w. N.). Hier enthält das Urteil eine bedeutende Neuerung: Grundsätzlich sei es für eine effektive Kontrolle notwendig, dass die „kontrollierende Stelle jedenfalls alle Überwachungsmaßnahmen, denen eine Person durch eine Behörde ausgesetzt ist, in den Blick nehmen kann“ (Rn. 290). Bemerkenswert ist, dass das Bundesverfassungsgericht die bayerischen Rechtsgrundlagen anschließend nicht dahingehend überprüft, womöglich, weil die Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde bezogen auf diese Normen für erledigt erklärt hatten. Aktuell verhindert § 28 Abs. 2 BVerfSchG auf Bundesebene, dass die mit der Aufsicht betraute Institution, der Bundesdatenschutzbeauftragte, alle Überwachungsmaßnahmen in den Blick nehmen kann, denen eine Person ausgesetzt ist. Gemäß dieser Norm ist der Bundesdatenschutzbeauftragte für die Aufsicht grundsätzlich nicht zuständig, wenn es sich um Verarbeitungen handelt, die die G 10-Kommission kontrolliert. Den vom Bundesverfassungsgericht geforderten vollständigen Überblick haben damit weder der Bundesdatenschutzbeauftragte noch die G 10-Kommission. Daher besteht auch bei § 28 Abs. 2 BVerfSchG Handlungsbedarf.

Wir brauchen mehr Reform

Die bekanntgewordenen Reformideen sind begrüßenswert, denn für die Beauftragung des UKr als Vorabkontrollinstitution gibt es auf der Bundesebene gute Gründe. Offenbar sollen die Vorabkontrollen in den anderen Nachrichtendienstgesetzen aber nicht ausgeweitet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat seine allgemeinen Maßstäbe jedoch nicht nur auf die „Verfassungsschutzbehörden“, sondern die „Nachrichtendienste“ bezogen (vgl. Rn. 216, 217). Da die Notwendigkeit der Vorabkontrolle an die Eingriffsintensität der Maßnahme geknüpft ist und die anderen Nachrichtendienste ähnliche Befugnisse haben, deren abstrakte Eingriffsintensität vergleichbar ist, gibt es keinen überzeugenden Grund, die Vorabkontrollen nicht auch im MAD-G und im BND-G auszuweiten.

References

References
1 Graulich, GSZ (3) 2021, S. 121, 127 f.
2 Weisser, DöV 2014, S. 831, 835; Gärditz, EuGRZ 2018, S. 6, 17.
3 Weisser (Fn. 2), S. 831, 835.
4 Zur Beschränkung auf diese Personengruppe zu Recht kritisch: Graulich (Fn. 1) S. 121, 128.
5 Unabhängig davon verfügt beispielsweise Bertold Huber als Vorsitzender der G 10-Kommission aufgrund seiner Wiederwahl und jahrelanger Erfahrung faktisch über eine mindestens vergleichbare Expertise.
6 Vgl. grundlegend BVerfGE 30,1.
7 BVerfGE 113, 63 (79), juris, Rn. 62.

SUGGESTED CITATION  Michel, Anna: Zur Reform der Verfassungsschutzkontrolle: Warum die Reformpläne der Bundesregierung begrüßenswert sind und dennoch ausgeweitet werden müssen, VerfBlog, 2022/7/18, https://verfassungsblog.de/zur-reform-der-verfassungsschutzkontrolle/, DOI: 10.17176/20220718-233716-0.

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