09 April 2021

Zwischen Chefberater und freiem Meinungsmarkt

Pandemie-Politikberatung im Vergleich

Die Krise wird oft als „die Stunde der Exekutive“ bezeichnet. Das gilt umso mehr für akute (im Gegensatz zu schleichenden) Krisen. Wenn rasch entschieden werden muss, um Gefahr von einem Gemeinwesen abzuwenden, dann müssen die Regierenden Verantwortung übernehmen und handeln. Doch in jeglicher Form von Krise muss man dann auch wissen, wie zu handeln und was zu tun ist. Dafür ist Wissen nötig – egal, ob es um eine Hochwasserkrise geht (in der man Kenntnis über sich über die Zeit aufbauende Überflutungswellen und die bedrohten Flächen benötigt), eine Finanz- oder Bankenkrise (in der man Informationen über die Exponiertheit und Verflechtung von Finanzinstitutionen sowie Einschätzungen über die Reaktionen von Marktakteuren und Konsumenten braucht) oder um eine Pandemiekrise (in der man wissen muss, welche Parameter die Ausbreitung eines Erregers beeinflussen und welche Schutzmechanismen den größten Erfolg versprechen).

Oft halten staatliche Kernexekutiven (welche die Entscheidungen zumeist zu treffen haben) das in der Krise benötigte Spezialwissen nicht in der gewünschten Detailliertheit selbst vor. Sie sind dann auf Mechanismen der Politikberatung angewiesen, die sowohl innerhalb des gesamtstaatlichen Apparats existieren wie auch außerhalb.1) Die seit Ende des ersten Quartals 2020 anhaltende Pandemiekrise ist ein Paradebeispiel für die Wichtigkeit solcher Mechanismen. Es ist offenkundig, dass das zur Pandemiebekämpfung notwendige medizinische und epidemiologische Spezialwissen in Kernexekutiven nicht vorhanden ist und deshalb von außen dem Entscheidungsprozess zugeführt werden muss. Dies passiert in unterschiedlichen politischen Systemen auf sehr verschiedene Weise. Politikberatungssysteme funktionieren in unterschiedlichen Systemen nicht nur unterschiedlich (und beinhalten damit eigene Problembewältigungslogiken), sondern stellen auch lediglich Möglichkeitsstrukturen bereit, deren Umsetzung von politischem Willen und politischem Geschick abhängt. Politische Entscheidungsträger bekommen demnach von Seiten der Politikberatung nur Angebote, deren Realisierung einem ihnen obliegenden Entscheidungsvorbehalt unterliegt und zudem von der Fähigkeit der staatlichen Strukturen zur korrekten Implementation abhängt.

Aber wie sehen die Beratungsstrukturen grundsätzlich aus und wie agierten sie in der Pandemiekrise der letzten 12 Monate? Diese Frage soll im folgenden aus vergleichender Perspektive mit einem Blick auf die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten beantwortet werden. Als wohlhabende Demokratien mit hoch leistungsfähigen Wissenschaftssystemen weisen sie viele offenkundige Gemeinsamkeiten auf. Doch zeigen sich in der Funktionsweise wie in der Handhabung von Politikberatung während der Pandemie auch deutliche Unterschiede.2)

Großbritannien: Geschlossenes Beratungssystem, späte Reaktion, Gefahr des groupthink

Unter den hier betrachteten Ländern hat Großbritannien das wohl am klarsten strukturierte Beratungssystem. Mit den illustren Positionen des Government Chief Scientific Adviser (seit 2018: Sir Patrick Vallance) und des Chief Medical Officer (seit 2019: Prof. Chris Whitty) verfügt es über hochrangige Experten in der zentralen Verwaltung des Staates, deren hauptamtliche Aufgabe es ist, die Regierung zu beraten (s. dazu Guidance for government Chief Scientific Advisers and their Officials). Der Chief Scientific Adviser leitet unter anderem die Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE), die offizielle Beratungsgruppe der Regierung für Notfälle, die mit Experten aus Universitäten, Industrie und Regierung besetzt ist. Andere Expertengruppen wie die Scientific Pandemic Influenza Group on Modelling (SPI-M) und die New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group (NERVTAG) berichten ihrerseits an SAGE.

Wie es für die britische Verwaltungstradition typisch ist, waren die Beratungsprotokolle und sogar die Zusammensetzung vieler dieser Gruppen geheim. Erst im Lauf der Pandemie und unter Druck der Öffentlichkeit wurde das geändert – zuvor waren lediglich die Ergebnisse der Beratungen bekannt gemacht worden. So stufte NERVTAG bei der Sitzung am 13. Januar 2020 die Risikosituation als „sehr gering“ ein. Am 21. Januar wurde die Einstufung auf „niedrig“ und am 30. Januar auf „moderat“ angehoben, was am 21. Februar bestätigt wurde – drei Wochen nach dem Auftreten der ersten Infektionen in Großbritannien und am selben Tag, an dem der erste COVID-19-Todesfall in Italien auftrat.

Das führende wissenschaftliche Gremium reagierte also eher zögerlich auf die Bedrohung. Allerdings ist die Reaktion von politischer Seite als noch zögerlicher einzustufen. Premierminister Johnson nahm an mehreren Sitzungen des zentralen Krisenstabs (COBRA-Sitzungen) nicht teil. Im Vergleich zum „Brexit“ am 31. Januar hatte das Thema geringe Priorität.3) Noch Anfang März spielte Johnson die Pandemie bei einer Pressekonferenz herunter – er habe bei einem Besuch in einem Krankenhaus mit infizierten Patienten allen die Hand geschüttelt und „werde dies auch weiterhin tun“. Schließungsmaßnahmen (von Großveranstaltungen über Schulen bis hin zu Restaurants und Geschäften) ergriff Großbritannien erst deutlich später als andere europäische Länder.

Premierminister Johnson, der sich Ende März selbst infizierte und im April sogar mehrere Tage auf der Intensivstation eines Krankenhauses verbringen musste, betonte in seinen Äußerungen zur Corona-Pandemie ständig, dass die Regierung mit ihren Maßnahmen wissenschaftlichem Rat folge („we follow the science“). Das Beratungssystem, durch das die Regierung wissenschaftlichen Rat aufnahm, war durch hohe Exekutivnähe, formale Ernennung, geringe Offenheit und wenig Routen zur Aufnahme von Kritik von außen gekennzeichnet. Der direkte Zugang eines kleinen Kreises von Beratern zum Entscheidungszentrum und die Geschlossenheit gegenüber Nicht-Mitgliedern erleichterten zwar eine gemeinsame Einschätzung der Lage, trugen aber auch dazu bei, dass die (relativ zögerlichen) Reaktionen nicht in Frage gestellt wurden.

USA: Bewährte Beratungsstruktur, aber weitgehend ignoriert

In den Vereinigten Staaten wird die Beratung der Exekutive im Bereich der Seuchenbekämpfung – verglichen mit Großbritannien – durch erhebliche eigene Forschungskapazitäten ergänzt. Mit den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und dem National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID; einem von 27 Bestandteilen der National Institutes of Health (NIH)) verfügt das US-amerikanische Regierungssystem über etablierte und hochqualifizierte Institutionen im Bereich der öffentlichen Gesundheitsvorsorge auf Bundesebene. Einen formellen Chief Medical Advisor to the President gibt es im amerikanischen Regierungssystem erst seit Februar 2019, als die Position neu geschaffen und mit dem früheren persönlichen Arzt des damaligen Präsidenten Donald Trump, Ronny Jackson, besetzt wurde. Nach dessen Ausscheiden im Dezember 2019 bliebt die Position vakant und wurde erst mit Amtsantritt von Präsident Biden durch den (seit 1984 amtierenden) Direktor des NIAID, Dr. Anthony Fauci, besetzt. Während der gesamten Phase vom Ausbruch der COVID-19-Pandemie bis zum Ende der Amtszeit von Präsident Trump – also knappe 12 Monate – war die Position mithin unbesetzt.

Eine Politisierung der Pandemie – Präsident Trump selbst schwankte zwischen einem Herunterspielen der Pandemie-Gefahr und dem Bemühen, sich als Kämpfer gegen sie darzustellen – bedeutete, dass die Regierung Trump die etablierten Beratungsstrukturen kaum bzw. nur unsystematisch nutzte. Trotz der vom Global Health Security Index als exzellent bewerteten Pandemiebereitschaft der USA (Center for Health Security/The Economist Intelligence Unit 2019) kam es zu einer im Vergleich sehr hohen Anzahl von COVID-19-Infektionen und hohen Mortalität in vielen Teilen des Landes. Erfahrungen und Empfehlungen vergangener Regierungen wie auch die Folgerungen hinsichtlich einer mangelhaften Versorgung mit Schutzkleidung und Beatmungsgeräten, auf die das Planspiel Crimson Contagion im Herbst 2019 aufmerksam gemacht hatte, wurden weitgehend ignoriert. Zudem schränkten massive finanzielle Kürzungen etwa im Bereich der Früherkennung gefährlicher Viren (Programm PREDICT) das Funktionieren des Beratungs- und Bewältigungssystems stark ein.

Die Ende Januar 2020 gegründete Coronavirus Task Force des Weißen Hauses (unter Leitung von Vizepräsident Pence) umfasste zwar viele hochrangige Regierungs- und Behördenvertreter, wurde in ihren Handlungsversuchen jedoch durch die Auftritte von Präsident Trump dominiert, dessen oft kontroverse Aussagen die täglichen Pressekonferenzen zwischen Mitte März und Ende April beherrschten. Als NIAID-Direktor Anthony Fauci Anfang Juli 2020 berichtete, er habe den Präsidenten mindestens zwei Monate lang nicht gebrieft, wurde das geringe Interesse des Präsidenten an wissenschaftlicher Beratung auch öffentlich deutlich.

Eine etablierte und wahrscheinlich weltweit führende Infrastruktur zur Bekämpfung der Pandemie wurde mithin von der politischen Führung in den USA kaum genutzt. Das hohe Maß an politischer Polarisierung und ein wachsendes Misstrauen gegenüber Experten machten z.B. aus der Verwendung oder Nichtverwendung von Gesichtsmasken ein politisches Symbol, was der bevorstehende Präsidentschaftswahlkampf noch verstärkte. Nach Kursänderung beim Amtsantritt von Präsident Biden sind die Probleme des Beratungssystems weitgehend beseitigt.

Bundesrepublik Deutschland: Offenes System, viele Akteure, “Beratungsmarkt” mit Tendenz zur Kakophonie

Verglichen mit den Strukturen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten ist die Struktur des Beratungssystems in der Bundesrepublik durch ein vergleichsweise hohes Maß an Offenheit gekennzeichnet. Es gibt keine formalen „Chefberater“, sondern eine Reihe von Institutionen (auf Bundes- und Landesebene) und Personen mit hoher wissenschaftlicher Reputation, die um Rat gefragt werden oder ihn von sich aus anbieten. Eine herausragende Rolle spielt das Robert Koch-Institut (RKI), eine dem Bundesministerium für Gesundheit nachgeordnete Bundesoberbehörde, die als zentrale Einrichtung des Bundes im Bereich der Krankheitsüberwachung und -prävention fungiert und auch aktiv Forschung betreibt. Darüber hinaus sind die Leopoldina (seit 2008 Nationale Akademie der Wissenschaften), die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft und die Helmholtz-Gemeinschaft zu nennen, die wiederum enge Verbindungen zu vielen führenden Universitäten haben.

Insbesondere die Leopoldina trat relativ früh in der Pandemie durch eigene Initiative in Form von mehreren „Ad-hoc-Stellungnahmen“ in Erscheinung, in denen unterschiedlich zusammengesetzte Arbeitsgruppen von Mitgliedern Analysen und Handlungsvorschläge für die Pandemie-Situation anboten. In ihnen dominierte – der Herkunft der Leopoldina als „Akademie der Naturforscher“ entsprechend – zunächst medizinischer und naturwissenschaftlicher Sachverstand. Mit der dritten „Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina am 13. April 2020 wurde der Blick über die medizinischen Herausforderungen hinaus geweitet und unter Einbeziehung von Ökonomen, Historikern, Rechtsphilosophen und Soziologen wurden Überlegungen angestellt, wie die Krise „nachhaltig überwunden“ werden könne. Ende April 2020 präsentierten die Präsidenten der vier großen Forschungsgemeinschaften (Leibniz, Max Planck, Fraunhofer und Helmholtz) eine gemeinsame Stellungnahme mit Eindämmungsstrategien für die Pandemie auf Basis mathematischer Analysen.

Das bundesdeutsche Beratungssystem erscheint durch die Abwesenheit formeller Beratungspositionen in der Exekutive, forscherische Unterstützung durch das RKI und eine große Offenheit hinsichtlich mehr eingehenden als eingeholten Rats gekennzeichnet. Eine durch Bereitschaft zur Annahme wissenschaftlicher Beratung gekennzeichnete politische Führung wurde allerdings auch mit dem Vorwurf mangelnder politischer Diskussion und Transparenz konfrontiert. Ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Einrichtung eines unabhängigen Pandemierats kann wohl als Kritik am informellen Beratungssystem verstanden werden. Zudem entwickelte das System aufgrund der mangelnden Strukturen und Hierarchien sowie dem praktizierten Selbsteintrittsrecht großer Wissenschaftsorganisationen in die Beratung eine Tendenz zur Vielstimmigkeit, die im Verlauf der Zeit eine zunehmend ratlosere Öffentlichkeit zurückließ. Die Fluidität des Expertenmarktes bewirkte einen Mangel an Orientierung, den die Unterschiedlichkeit der Interessen im Föderalismus (jeweils durch landeseigene Expertengremien argumentativ unterfüttert) noch verstärkte.

Das ideale System

Die vergleichende Betrachtung macht unterschiedliche Strukturen, Stärken und Schwächen von Beratungssystemen deutlich. Das britische System verweist auf die Vorteile von Beratungskapazitäten, die in die Exekutive integriert sind und sich durch raschen Zugang zum Entscheidungszentrum auszeichnen. Ihre Geschlossenheit erleichtert das Finden gemeinsamer Positionen, läuft aber eben deshalb auch Gefahr, berechtigte Kritik nicht aufzunehmen und durch frühe Schließung relevante Alternativen nicht in Betracht zu ziehen. Das amerikanische System macht am vorgelegten Beispiel deutlich, wie sehr auch die beste Beratung nur angeboten werden kann und auf politische Nachfrage und Unterstützung angewiesen ist, soll sie ihre Zwecke erreichen. Und das bundesdeutsche Beratungssystem, dessen Kontrast zum britischen vielleicht am stärksten erscheint, produziert entsprechend komplementäre Stärken (Flexibilität bei der Auswahl der Stimmen, die Gehör finden; Offenheit der Diskussion), aber auch Schwächen (Uneindeutigkeit der message, Pfadänderungen, Gefahr der Verwirrung des Publikums).

Was alle drei hier nur kurz gestreiften Fälle jedoch gemeinsam deutlich machen: Wir wissen zu wenig über Politikberatung im Vergleich, ihre Mechanismen und ihre Umsetzungsweisen, um eine Vorstellung davon zu haben, wie ein ideales System aufgebaut sein müsste, um das zu leisten, was man sich von ihm erhofft: zuverlässige Beratung für Entscheidungsträger in der Krise. Die häufig gebrauchte Floskel ist in diesem Fall angebracht: Further research is needed!

References

References
1 Zur Expansion von Politikberatung generell als Folge der Ausweitung von Staatsfunktionen sowie zunehmender Komplexität von Politik siehe Weingart, Wissensgesellschaft und wissenschaftliche Politikberatung, in: Falk/Glaab/Römmele/Schober u. a. (Hrsg.), Handbuch Politikberatung (2019), 67–78.
2 Die folgenden Ausführungen greifen Überlegungen auf aus Busch, Wissen allein genügt nicht: Die Nutzung von politikberatenden Institutionen während der Corona-Pandemie im Vergleich, in: Florack/Korte/Schwanholz (Hrsg.), Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten (2021), 283–293.
3 Siehe für eine ähnliche Einschätzung der Priorisierung das neue Buch von Calvert/Arbuthnot, Failures of State. The Inside Story of Britain’s Battle with Coronavirus (2021).