Lügen-Verfassungsrichter in Thüringen? So weit kommt’s noch…
Das ist ein Vorgang, der über die Landesgrenzen des Freistaats Thüringen hinaus Beachtung finden sollte: Ein namhaftes Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofs, der Erfurter Staatsrechtslehrer Manfred Baldus, hat in einem heute verkündeten Urteil seinen Kolleg_innen auf der Richterbank kaum verhohlen vorgeworfen, die Gesetze der Logik, wenn nicht gar des Rechts zu verbiegen, um der Thüringer AfD its day in court vorenthalten zu können.
Worum geht es? Die AfD-Landtagsfraktion hatte vor dem Verfassungsgerichtshof beantragt, den so genannten Winterabschiebestopp für verfassungswidrig zu erklären. Die rot-rot-grüne Landesregierung hatte am 9. Dezember 2014 angeordnet, Flüchtlinge aus einer Reihe osteuropäischer und nahöstlicher Staaten während der Wintermonate bis März 2015 nicht mehr abzuschieben, da ihnen im dortigen Winter keine “Aufnahme in Sicherheit und Würde” bevorstünde. Dies, so die AfD-Fraktion und ihr Prozessvertreter Karl Albrecht Schachtschneider, verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip und gegen das Willkürverbot. Die Mehrheit am Verfassungsgerichtshof ließ sich auf eine Prüfung nicht ein, sondern wies den Antrag als unzulässig ab: Die Anordnung sei eine rein ermessensleitende Verfügung ohne Rechtsnormcharakter, die auf dem Weg der abstrakten Normenkontrolle nicht angegriffen werden könne.
Ich kann das nicht abschließend beurteilen, daher bitte ich die folgenden Überlegungen als Diskussionsanstoß zu verstehen. Aber wenn ich recht habe, dann wäre es gut, wenn dem von Herrn Baldus (dem ich im Übrigen keine Nähe zur AfD unterstellen möchte) aufgeworfenen Zweifel an der Rechtschaffenheit seiner acht Verfassungshüterkolleg_innen von Seiten der Rechtswissenschaft möglichst schnell und möglichst unmissverständlich widersprochen würde. Lügen-Verfassungsrichter – so weit kommt’s noch…
Das Mehrheitsvotum argumentiert so: Der Winterabschiebungsstopp beruht auf § 60a AufenthG, der besagt, dass die oberste Landesbehörde die Abschiebung von Ausländern ohne Aufenthaltsrecht insbesondere aus humanitären Gründen für eine bestimmte Zeit aussetzen könne. Wenn sie von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, so die Mehrheit, sei das kein Verwaltungsakt und keine Rechtsverordnung, die die Rechtssituation dort draußen verändert, sondern bloßes “Innenrecht” der Verwaltung, eine Ansage von oben nach unten, wie die Ausländerbehörden ihr Ermessen auszuüben habe. Dafür spreche schon die Tatsache, dass diese Ansage als “Anordnung” bezeichnet und nirgends als formeller Rechtsakt veröffentlicht worden sei.
Aber es gebe auch materielle Gründe, das so zu sehen: Ausländer ohne Aufenthaltsrecht, so die Mehrheit, sind und bleiben zur Ausreise verpflichtet, und diese Pflicht ist und bleibt vollziehbar. Es gebe kein Ermessen der Ausländerbehörden zum “Ob” der Abschiebung, wohl aber zum “Wann” und zum “Wie”: Und wie sie dieses Ermessen ausübt, das reguliere die oberste Landesbehörde, wenn sie nach § 60a Abs. 1 AufenthG per Anordnung die Pflicht zur Abschiebung für bestimmte Leute und eine bestimmte Zeit suspendiert.
Hilfsweise stützt sich die Mehrheit auch noch auf die Rechtsprechung des BVerwG, das die Weisung nach § 23 Abs. 1 AufenthG, aus humanitären Gründen bestimmten Ausländern eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen, als bloßes Verwaltungs-Innenrecht qualifiziert. Zu § 60a AufenthG gebe es eine solch eindeutige Ansage aus Leipzig zwar nicht, aber dass das BVerwG in diesem Zusammenhang das Wort “Erlass” verwende, sei doch immerhin ein Indiz.
Und was sagt Richter Baldus? Den empört zunächst, dass sich seine acht Kollegen an die Auslegung des BVerwG so strikt gebunden fühlen. Offenbar gab es im Beratungszimmer einen Riesenstreit über die zweifellos akademisch höchst interessante Verfassungsfrage, inwieweit und aus welchen Gründen die Bundestreue von Landesverfassungsgerichten verlangt, Bundesrecht stets und überall genauso auszulegen wie die dazu berufenen Bundesgerichte (nicht einschlafen!), zumal die Mehrheit eine Veröffentlichung eines ihrer Mitglieder zitiert, des Präsidenten des OVG Thüringen Hartmut Schwan, eine Veröffentlichung, die wiederum Richter Baldus als “Solitär” bezeichnet, voller falscher Zitate und widersprüchlicher Argumente und “in dieser kruden und differenzierungslosen Gestalt kaum mehr vertreten”, kurzum: hier balgen sich zwei Rechtsgelehrte um die nicht alternativlose Begründung einer nicht entscheidungserheblichen Argumentationslinie, was man wohl auch einfach mal hätte bleiben lassen können.
Wichtiger ist die Frage, wie es denn nun aussieht mit Innen- und Außenwirkung der Anordnung eines Abschiebestopps. Was das formelle Argument betrifft, die Anordnung sei als solche bezeichnet und nach außen nicht kommuniziert worden, sagt Baldus mit einer gewissen Berechtigung, dann bräuchte ja die Exekutive nur immer “Anordnung” draufschreiben und sich so jeder Bindung an Art. 80 GG entziehen. Entscheidend ist aber das materielle Argument, und das bezeichnet Baldus als “mehr als nur überraschend, sondern schlicht unverständlich”, da auf einem “a-logischen Sprung” beruhend.
Wie das? Wenn ich das richtig deute, was Baldus schreibt, hat die Ausländerbehörde, wenn ein Abschiebestopp verhängt ist, gar kein Ermessen mehr hinsichtlich des “Wie” und des “Wann”, sondern sie darf nicht mehr abschieben lassen und Punkt. Das, so Baldus, sei doch “offenkundig”, und dass die Mehrheit trotzdem noch mit dem “Wie” und “Wann” herummache, findet er “mysteriös”.
Vielleicht liegt das daran, dass ich genauso wenig Jura kann wie Hartmut Schwan… aber ich verstehe das nicht. Darum geht es doch gar nicht, oder? Die Ausländerbehörde, wenn sie jemanden abschieben lassen muss, hat zu entscheiden, wie und wann das geschehen soll, und die oberste Landesbehörde weist sie an, das jedenfalls nicht vor dem 31. März 2015 zu tun. Wo da der “a-logische Sprung” liegen soll, sehe ich nicht. Wenn ihn jemand sieht, bin ich um Aufklärung dankbar.
Außerdem, so Baldus, wolle die Mehrheit partout nicht sehen, dass die Anordnung sehr wohl unmittelbare rechtliche Außenwirkung nach sich zieht und die Rechtsposition der betroffenen Ausländer verändert, die nämlich einen Anspruch auf eine Duldung bekommen, nicht mehr abgeschoben werden dürfen, nicht mehr wegen unerlaubten Aufenthalts strafrechtlich belangt werden können – und all dies ohne weitere administrative Entscheidung, also unmittelbar. Alles richtig – aber formell ist es doch die Ausländerbehörde, wenngleich gebunden an die Weisung der obersten Landesbehörde und dann ohne Ermessensspielraum, die über die Duldung entscheidet, oder nicht? Und das ist dann der Rechtsakt mit Außenwirkung, oder nicht?
Wie gesagt, vielleicht liege ich ganz falsch, und Baldus hat völlig Recht, wenn er mit der Linie der Mehrheit nicht einverstanden ist. Das mögen Kundigere entscheiden. Was ich aber wirklich einen Hammer finde, ist der letzte Absatz seines Minderheitsvotums. Dort “fragt” sich Baldus kopfkratzend, warum die Mehrheit, anstatt sich der “doch durchaus leicht zu gewinnenden Erkenntnis” der Richtigkeit seiner Position zu öffnen, “sich statt dessen auf eine nur äußerst schwach untermauerte Literaturmeinung stützt, ein offenkundig a-logisches Argument präsentiert und vor allem aber den entscheidenden Aspekt der unmittelbaren Außenwirkung ausblendet”. Ja, warum nur?
Auf diese von ihm selbst gestellt Frage hin macht Baldus, wenn ich das so sagen darf, den Böhmermann:
Möglicherweise sollte vermieden werden, weitere Zulässigkeitsfragen entscheiden und gegebenenfalls in die Prüfung der Begründetheit eintreten zu müssen. Als Mitglied des Verfassungsgerichtshofs steht es mir jedoch nicht an, dazu hier in an diesem Ort weiter Stellung zu nehmen. Ich erlaube mir jedoch den abschließenden Hinweis auf die Vermutung eines der namhaftesten deutschen Rechtssoziologen, wonach die Entscheidungsgründe wohl „immer nur vorletzte Gründe“ sind (vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 406).
Das ist sehr nobel von Baldus, solcherart der Versuchung, seine Kolleg_innen niedriger Beweggründe zu verdächtigen, zu entsagen. Die werden ihm diese vornehme Zurückhaltung bestimmt hoch anrechnen. Noch dazu mit Luhmann-Zitat!
Aber da fällt natürlich niemand drauf rein. Tatsächlich sagt Baldus, dass diese Entscheidung nur zustande gekommen ist, um der Regierung zu helfen und deren politischen Gegner um sein gutes Recht zu bringen. Eine schlimmere Anschuldigung gegen ein Verfassungsgericht gibt es kaum.
So oder so scheint mir diese Entscheidung all jenen Argumentationsmaterial zu liefern, die die Veröffentlichung von abweichenden Meinungen schon immer skeptisch sahen (den EuGH zum Beispiel). Ich bin ja eigentlich ein großer Fan davon: um keinen Preis würde ich die Sondervoten von Gertrude Lübbe-Wolff beim BVerfG missen wollen, und auch beim EGMR gibt es jeden Tag Belege genug, wie belebend und informativ und letztlich rechtsbefriedend es sein kann, offen zu legen, dass man bestimmte Rechtsfragen völlig legitimermaßen so oder auch anders sehen kann und sieht. Wenn aber wie hier das Sondervotum eingesetzt wird, um die juristische Qualifikation oder gar die politische Motivation der anderen Seite in Zweifel zu ziehen, dann delegitimiert das das Gericht – wenn diese Behauptung falsch ist, dann sowieso, und wenn sie, behüte!, richtig ist, dann um so mehr.
Für die AfD und alle, die den Institutionen des Verfassungsstaat nicht mehr trauen, ist das jedenfalls supergut gelaufen. Gratuliere, Björn Höcke. So macht Verlieren Spaß.
Update: Aus gegebenem Anlass – die Aussage, dass ich vielleicht so wenig Jura kann wie Hartmut Schwan, war natürlich sarkastisch gemeint. Ironiefalle… Ich habe nicht den geringsten Anlass zu zweifeln, dass Hartmut Schwan ein ausgezeichneter Jurist ist. Außerdem habe ich in the heat of the moment leider seinen Vornamen verwechselt und Herbert Schwan geschrieben (jetzt korrigiert), wofür ich mich entschuldige.
Klingt nach dem alten Falschfahrerwitz: “Ein Falschfahrer ist auf der A8 Richtung Salzburg unterwegs” – dröhnt es aus dem Radio. Daraufhin der Fahrer: “Einer? Hunderte!”.
Wenn sich ein Richter derart über die Mehrheitsmeinung ereifert – auf wen lässt das Rückschlüsse zu?
Mich beschleicht unabhängig von der gut vertretbaren Meinung der Mehrheit die Ahnung, dass seine persönliche Meinung zur Flüchtlingspolitik den Richter zu einem revoltierenden Akt motiviert hat, die er nur mühsam im Gewand einer rechtlichen Begründung zu zwängen mag.
Andere Ansicht natürlich wie immer vertretbar – aber nicht so begründet wie von Herrn Baldus.
Sondervoten sind eine Spielwiese für Richter/innen mit verfehltem Geltungsbedürfnis. Ich halte nichts davon.
http://klagefall.antville.org/stories/2225636/
Ich glaub, der ist Sozialdemokrat.
http://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/politik/detail/-/specific/Es-sollte-ein-Grundbeduerfnis-sein-mitentscheiden-zu-wollen-319575299
Rechtlich stellt sich hier doch die Frage, wie eine Weisung zu verstehen ist, die de facto eine Änderung Außenwirkung besitzt, weil die VA-schaffende Behörde nun keinen anderen Spielraum mehr hat. Aber das sehe ich wie Sie: derVA stammt von der Ausländerbehörde. Punkt. Müsste man da nicht eher darauf pochen, dass diese die Flüchtlinge abschiebt, und derweil inzident die Rechtmäßigkeit besagter Anordnung prüfen? Frage nur ich mich, ob da die Anwälte einfach eine falsche Klage für Ihr Ziel eingereicht haben? (Mal abgesehen davon, dass ich für letztgenannte keine Klagenefugnjs erkennen kann). Sieht für mich aus, als wenn Herr Baldus eine politische Streitfrage über eine an den Haaren herbeigezogene rechtliche Argumentation für sich zu entschieden versucht.
Soviel zu meinem Gedanken. Ich lasse mich natürlich gerne eines Besseren belehren.
Möglicherweise sollte man Sondervoten eben nur dort zulassen, wo Leute sitzen, die das Format haben, dieses Recht auszuüben.
Zu diesem Votum hier fällt mir, neben dem im Text Aufgeführten, manches anderes auf, auch an der Zitierweise (die Herr Baldus ja bei “den anderen” genüsslich auseinanderzunehmen meint). Ich sage nur: “Dienelt in: Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage, 2010, § 60a AufenthG” (S. 22) – was bitte ist das für ein Zitat? Davon abgesehen, dass Herr Baldus hier die Uraltvorvorauflage benutzt – hatte die keine Randnummern?
Lieber Max,
ich verstehe warum Prof. Baldus einen „a-logischen Sprung“ feststellt. Allerdings kann er ihn nur feststellen, weil er die Rechtslage und daran anknüpfend die Argumentation der Mehrheit missversteht:
Der a-logische Sprung soll nach Baldus in Bezug auf die Frage auftreten, ob die Anordnung materiell als Innen- oder Außenrecht anzusehen ist.
Für eine Qualifizierung als Innenrecht würde es sprechen, wenn die Anordnung unmittelbare Wirkung für die betroffenen Ausländer hätte. Dazu stellt die Mehrheit zunächst – richtigerweise – fest, dass die Ausländerbehörde aufgrund der Gesetzeslage (!) kein Ermessen hinsichtlich des „Ob“ der Abschiebung hat. Die Ausländerbehörde darf nach dem Gesetz (!) nur entscheiden, wie und wann die Abschiebung erfolgt. Die Anordnung kommt bei der Argumentation der Mehrheit erst danach ins Spiel: Sie, die Anordnung, gibt nämlich nun vor, wie das gesetzlich eingeräumte Ermessen hinsichtlich des „Wann“ auszuüben ist, indem sie bestimmt, dass während der Wintermonate nicht abgeschoben werden darf. Die Anordnung, so die Argumentation, hat also unmittelbare Wirkung nur in Bezug auf die Behörden, während erst die dauernde Anwendung der Anordnung (Verwaltungspraxis) irgendwann in Verbindung mit dem Gleichheitssatz Bindungs- und damit – nur mittelbare – Außenwirkung entfaltet.
So weit, so logisch!
Prof. Baldus hält diese Argumentation für a-logisch, weil er offenbar schon die Gesetzeslage und darauf aufbauend den Regelungsgehalt der Anordnung – und damit schließlich die Argumentation der Mehrheit – missversteht. Dementsprechend zitiert er die Mehrheit falsch, wenn er auf S. 20 des Urteils schreibt, diese habe angeführt: „Die Ausländerbehörde habe IM FALLE EINER SOLCHEN ANORDNUNG zwar kein Ermessen hinsichtlich des ‚Ob‘ der Abschiebung, wohl aber hinsichtlich des ‚Wie‘ und ‚Wann‘. (Hervorhebung nur hier).“ Aufgrund dieses Missverständnisses kommt er dann zu seinem harten – und falschen – Urteil: „Diese Argumentation ist indessen mehr als nur überraschend, sie ist sogar schlicht unverständlich.“ (Stimmt nicht). Und weiter: „Denn es ist doch offenkundig, dass es während der Geltungsdauer einer Aussetzungsanordnung gar kein ‚Wie‘ und ‚Wann‘ von Abschiebungen geben kann.“ (Stimmt, sieht aber auch die Mehrheit nicht anders.) Anschließend (S. 21) stellt er fest, dass die Argumentation der Mehrheit „mysteriös“ anmutet, denn: „Für den Zeitraum einer solchen Anordnung ist also nicht abzuschieben – nicht mehr und nicht weniger, ohne wenn und ohne aber.“ (Stimmt, auch das hat die Mehrheit aber gar nicht bestritten). Und weiter (ebenfalls S. 21): „Warum die Mehrheit dann jedoch, wenn es gar keine Abschiebungen in diesem Zeitraum geben darf, weil diese eben ausgesetzt sind, dennoch die Frage des ‚Wie‘ und ‚Wann‘ von Abschiebungen stellt, mutet mysteriös an.“ (Tut es nicht, wenn man Rechtslage und Argumentation richtig verstanden hat.)
Insgesamt spricht jedenfalls dieser Punkt also dafür, dass Prof. Baldus rechtlich-inhaltlich im Unrecht ist.
Viele Grüße!
Okay, vielen Dank, das deckt sich mit meiner Analyse. Von der falschen Prämisse kommt man nicht zur richtigen Schlussfolgerung, es sei denn per “a-logischem Sprung”. Jedenfalls festigt sich das Bild, dass wir es beim Thüringer Verfassungsgerichtshof mit Zuständen zu tun haben, die jeder Beschreibung spotten.
Ich glaube eigentlich nicht, dass die Verfassungsrechtswissenschaft das auf sich beruhen lassen kann. Staatsrechtslehrer haben das Privileg, als Verfassungsrichter an der Schnittstelle zwischen Recht und Politik eine eminent mächtige Funktion auszuüben. Wenn einer der Ihren damit einen derartigen Missbrauch treibt und so halsbrecherisch mit seiner Verantwortung für dieses Amt und die Institution, der er angehört, umgeht – dann muss die Verfassungsrechtswissenschaft insgesamt Position beziehen. Zu sagen, gut, ist ja bloß Thüringen, reicht da nicht, hier geht es um die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit selbst. Wie könnte das aussehen? Ein offener Brief an das Thüringer Justizministerium? An Herrn Baldus himself? Mit möglichst vielen gewichtigen Unterschriften? Wenn das auf Resonanz stieße, wäre ich gern bereit, da die Initiative zu übernehmen.
Lieber Max, m.E. sollte man – schon aus Respekt vor der richterlichen Unabhängigkeit – die Kirche in Weimar lassen. Eine kritische Blog-Diskussion reicht hier völlig aus; und Beispiele für sehr viel gravierende und weitaus unverständlichere höchstrichterliche Meinungsbildungen gäbe es aus der Praxis leider sehr viel mehr zu berichten. Der ThürVerfGH ist insbes. von seinem letzten, der Parteipolitik und dem seinerzeitigen Justizminister (nicht nur beim Skat) nahe stehenden, Präsidenten Harald Graef lange Zeit in Mitleidenschaft gezogen worden (s. dazu etwa BVerfG 2 BvR 2470/06 Rn. 26-28). Eine Verhandlung vor diesem Gericht gehört zu den lustigsten Live-Erlebnissen meines Juristenlebens (RiVerfGH Bertram zu PräsVerfGH Graef nach 3 Stunden Verhandlung: “Herr Präsident, ich beantrage jetzt Sitzungsunterbrechung und werde beantragen, Sie von der Verhandlungsführung zu suspendieren!”). Wenn sich nun eine satte Mehrheit einschl. des Präsidenten findet, die sich von einer unsauberen und überheblich vorgetragenen juristischen Argumentation eines ihrer Richter (vielleicht war es der überstimmte Berichterstatter) nicht überzeugen lässt, ist das doch eigentlich ein gutes und kein Alarmzeichen. Viele Grüße
Sehe ich wie der Vorkommentator. Es ist im Übrigen kein neues Phänomen, dass manche Rechtslehrer beim richtigen Anlass freudig alle Zwänge der Sprachlogik und der juristischen Methodenlehre abschütteln, um nicht nur zu “anspruchsvollen” Rechtsbehauptungen zu kommen, sondern auch andere Meinungen als offensichtlich dumm, verrückt oder korrupt zu qualifizieren. Siehe die hinlänglich bekannten – und teils auch hier veröffentlichten – Beiträge zu Eurorettung, TTIP, Flüchtlingen etc. Misslich, wenn die betreffenden Personen dann zufällig in einem Gericht sitzen.
@JLP ad 1: Misslich? Quite an understatement, don’t you think? Das macht für mich den entscheidenden Unterschied, ob jemand einfach nur so irgendwas findet oder in Ausübung seines Richteramts.
@Max: Es ist übrigens eine unglaubliche Herabsetzung eines genialen Satirikers, hier zu behaupten, Baldus mache “den Böhmermann”. Die zitierte Passage erinnert eher an das klassische “Ich bin ja kein xyz, aber…”.
@JLP ad 2: Ui. War Schmähkritik. Tschuldigung!
Nein, im Ernst, ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Aber hast natürlich recht.
Ohne dass im Einzelnen gelesen zu haben, beruht die Argumentation in der abweichenden Meinung letztlich wohl doch darauf, dass für alle Betroffenen die Frage des „Wann“ (genauer: „Wann nicht“) durch die Anordnung abschließend entschieden worden ist, selbst wenn es zur Umsetzung noch eines weiteren (außenwirksamen) Rechtsaktes bedarf. Die in Rede stehende Anordnung entfaltet damit faktisch Außenwirkung, was zu dem (Fehl-) Schluss verleiten kann, sie sei selbst schon eine außenwirksame Regelung. Indes ist jede (einzelfallbezogene) Anordnung wie auch jede die Einzelfallentscheidung abschließend determinierende Verwaltungsvorschrift mit faktischer Außenwirkung ausgestattet. Rechtliche Außenwirkung kommt ihr aber solange nicht zu, wie der Adressat (nachgeordneter Beamter, nachgeordnete Dienststelle) ebenfalls dem verwaltungsinternen Bereich angehört. Hier ist schlicht eine formale Betrachtung angezeigt, die an den Adressaten anknüpft.
Nicht uninteressant ist zudem die Frage, ob überhaupt eine Rechtsnorm vorläge, wenn man Außenwirkung unterstellt. Materiell-rechtlich ist insoweit die abstrakt-generelle Regelung (Norm) zu unterscheiden von abstrakt-individuellen, konkret-individuellen und konkret-generellen Regelungen (alle Verwaltungsakt). Die hier in Rede Anordnung dürfte aber den konkret-generellen Regelungen zuzuordnen sein (ein Abschiebestopp bei unbestimmtem, aber bestimmbaren Adressatenkreis), die als Allgemeinverfügungen und damit Verwaltungsakte zu qualifizieren sind. Selbst bei unterstellter Außenwirkung käme dann aber eine Normenkontrolle nicht in Betracht.
An meine Vorkommentatorin: Ich glaube, hier geht es nicht um “den Böhmermann” im Allgemeinen, sondern um die Lesung seines Gedichtes im ZDF vor einigen Tagen: “Ich darf ja nicht, aber ich tue trotzdem”. Dass das vom Niveau und von der Intention her alles andere als gleichwertig ist, ist aber wohl unstrittig.
Anordnungen der Exekutive zur Nicht-Abschiebung ausreispflichtiger Ausländer scheinen derzeit ganz grundsätzlich ein äußerst beliebter Streitgegenstand zu sein. In vier Tagen muss sich auch der US Supreme Court mit diesem Thema beschäftigen.
[vgl. diesen Link zu Eurem Schwesterblog in den USA: http://www.scotusblog.com/2016/04/argument-preview-a-big-or-not-so-big-ruling-due-on-immigration/%5D.
Es würde mich daher auch nicht wundern, wenn sich die AFD die Idee von dort abgeschaut hätte… was man aber von Herrn Baldus wohl leider nicht behaupten kann.
Hätte der doch auch lieber mal in den USA nachgesehen, wie man eine “dissenting opinion” in ähnlich hartem Ton aber mit ungleich höherer Brillianz schreibt. Der kürzlich verstorbene Justice Scalia hat da einige schöne Beispiele hinterlassen…
http://www.scotusblog.com/2016/04/argument-preview-a-big-or-not-so-big-ruling-due-on-immigration/
“[](dem ich im Übrigen keine Nähe zur AfD unterstellen möchte)[]”
warum macht der herr baldus dann das pipi-langstrumpf-spielchen der afd mit?
diese oberflächliche und populistisch immer wieder ausgenutze lesart von gesetzen ist doch bei der afd programm und sich vor diesen karren spannen zu lassen absolut unwürdig.
@ Vorredner: Ich sag’ ja, fehlendes Format…
Das Ermessen bleibt selbstverständlich bestehen, es wird halt nur – wie immer bei ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften – von der übergeordneten Behörde für eine ganze Reihe von Fällen gleichzeitig ausgeübt. Von außen betrachtet ist das freilich egal, welche der Behörden, das Ermessen tatsächlich ausübt, weil die Verwaltung dem Bürger als Einheit gegenübertritt.
Im Übrigen kann bspw. auch das gemeindliche Einvernehmen nach § 36 BauGB – wenn es verweigert wird – die Entscheidung der Baubehörde vollständig determinieren, ohne dass es dadurch Außenwirkung bekäme.
Was die Bindung an die Rspr. des BVerwG angeht: Ich sehe nicht, warum diese Auslegung des AufenthG die Rechtsnatur dieser Anordnung betreffend “spezifisches Verfassungsrecht” sein soll (jedenfalls müsste man es dann anders aufziehen: Publizität von Rechtsvorschriften, Rechtsstaatsprinzip oder so ähnlich). Insofern spricht einiges dafür, die Frage tatsächlich den FACHgerichten – unabhängig davon, ob die Bundes- oder Landesgerichte sind – zu überlassen.
BTW: Spezifisches Landesverfassungsrecht ist dem Bundesgesetzesrecht ohnehin egal, spezifisches Bundesverfassungsrecht in Thüringen kein Prüfungsmaßstab.
Besteht das Problem nicht darin, dass es nach dem nachvollziehbaren Mehrheitsvotum mangels Rechtsnorm kein Rechtsmittel der Opposition gegen einen nach ihrer Ansicht gesetzeswidrige – die Ausreisepflichtigen begünstigenden – Vollzug des Aufenthaltsgesetzes durch die Regierung gibt? Da hat dann vielleicht das daraus resultierende Stöhrgefühl derart überhand genommen, dass übersehen wurde, dass es möglicherweise in Thüringen verfassungsrechtlich einfach so ist, dass ein Parlament – vorbehaltlich Haushaltsuntreue, in denen jeder Abgeordnete Strafanzeige stellen kann – nur “parlamentsintern” (kleine Anfragen, U-Ausschuss, usw.) etwas gegen den vermeintlich rechtswidrigen Gesetzesvollzug eines Bundesgesetz tun kann.
Möglicherweise kam das Stöhrgefühl auch daher, dass – wegen der Begünstigung einzelner ohne hinreichend indivuelle Benachteiligung anderer – auch sonst niemand berechtigt sein dürfte, gegen ein ggf. rechtswidrigen Abschiebestopp Klage (z. B. vor dem VG) zu erheben. Allerdings kommt in Betracht, dass der Bund berechtigt gewesen wäre, den (angeblich) gesetzeswidrigen Vollzug des Aufenthaltsgesetz vor dem BVerfG geltend zu machen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG).
Zuletzt: Die anklingende Kritik an der Möglichkeit von Sondervoten teile ich nicht. Sondervoten zu Rechtsfragen verdeutlichen häufig das senatsinterne Ringen um die richtige Auslegung der Gesetzes und sollten daher für die Revisionsgerichte (oder zumindest die obersten Bundesgerichte) ermöglicht werden (für die als “Tatrichter” tätigen Spruchkörper hingegen nicht, weil mir Sondervoten zur Feststellung des Sachverhalt fragwürdig erscheinen).
Wenn die Anordnung tatsächlich nur eine ermessenslenkende Weisung ist, dann dürfte sie nur regeln worüber der Behörde bereits Ermessen zusteht.
D.h. die Behörde hätte bereits vorher und ohne Anordnung die Möglichkeit haben müssen, solche Vollstreckungspausen nach eigenem Ermessen zu bewirken.
Allerdings finde ich im Aufenthaltsgesetz keine Vorschrift, die der Behörde erlaubt mehrere Monate zu auszusetzen. Vorschläge?
Abgesehen davon wirkt diese “Anordnungsermächtigung” auf mich wie eine typische Verordnungsermächtigung und es geht auch um Fragen die typischerweise per RV geregelt werden. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Anordnung keine sofortige Aussenwirkung hat. Kein Gericht würde doch eine Abschiebung erlauben, die klar unter eine solche Anordnung fällt, selbst wenn es sich um den ersten Fall handelt.
[…] und für verfassungswidrig erklären zu lassen, der in Thüringen bereits 2016 erfolglos im Fall des Winterabschiebungsstopps versucht wurde, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Er bietet, vermutlich nicht […]