18 September 2021

Rubinhochzeit zwischen Rechtsstaat und Sanktionensystem

40 Jahre Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich

Frankreich feiert dieser Tage die 40-jährige Abschaffung der Todesstrafe. Am 18. September 1981 wurde die loi n°310 portant abolition de la peine de mort mit 363 Parlamentarier-Stimmen gegen 117 angenommen. Am 9. Oktober 1981 trat das Gesetz in Kraft – seit 2007 hat die Abschaffung der Todesstrafe Verfassungsrang. Man könnte der Auffassung sein, dass es zur Feier einer französischen Rubinhochzeit zwischen Rechtsstaat und Sanktionensystem zumindest für den deutschen Diskurs keinen allzu großen Anlass gibt.

Die Todesstrafe ist tabu – oder?

Vielleicht ist dieses Jubiläum aber doch ein guter Anlass sich noch einmal mit der Todesstrafe zu beschäftigen. „Tabus“ entbehren typischerweise einer Begründung – sie sind kulturell überformte Übereinkünfte, die jenen selbstverständlich erscheinen, die sie akzeptieren. Tabus kaschieren aber nicht selten die hinter ihnen stehenden Gründe. Verlässt man sich allzu sehr auf das „Tabu Todesstrafe“ könnte in den Hintergrund geraten, dass im Falle schockierender Verbrechen an Kindern einige insgeheim doch vom Tabu abrücken. Manchem Studierenden der Strafrechtswissenschaften scheint es jedenfalls so zu gehen, wie die seit Langem durchgeführten Befragungen an deutschen Universitäten nachweisen, welche eine zuletzt starke Befürwortung der Todesstrafe (32 % der Befragten!) ausweisen.

Verlässt man sich allzu sehr auf die gesellschaftliche Übereinkunft einer in Europa endgültig abgeschafften Todesstrafe gerät womöglich auch in Vergessenheit, dass die Forderung nach ihrer Wiedereinführung kaum mehr als Ausnahmephänomen am rechten Rand anzusehen ist. So haben Ungarns Premierminister Orbán im Jahr 2015 sowie der türkische Präsident Erdoğan und die französische Präsidentschaftskandidatin Le Pen im Jahr 2017 jeweils breiten Zuspruch für ebendiese Forderung erhalten.

2019 setzte der AfD-Bundestagsabgeordnete Seitz aus Anlass der Wiedereinreise eines an Ausschreitungen in einem Asylbewerberheim beteiligten Kameruners den Tweet ab: „Für solche Fälle braucht es einer wirksamen Abschreckung. Dafür darf eine Änderung von Art. 102 GG kein Tabu sein.“ Er war bis zu seiner vor wenigen Wochen erstinstanzlich bestätigten Entlassung aus dem Beamtenverhältnis Staatsanwalt.

Warum waren wir nochmal gegen die Todesstrafe?

In Art. 102 des Grundgesetzes steht schlicht „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Dass diese vier Worte überhaupt in der Verfassung stehen ist einem langwierigen argumentativen (und tatsächlichen) Ringen vergangener Generationen zu verdanken. Nur drei Jahre nach Inkrafttreten dieser Worte am 24. Mai 1949 stellte die Deutsche Partei (DP) den Antrag auf Aufhebung des Art. 102 GG. Dass diese vier Worte heute immer noch im Grundgesetz stehen dürfte nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, dass die kritische Masse in Gesellschaft und Bundestag den omnipräsenten, restaurativen Tendenzen stets mit normativen und moralischen Argumenten die Stirn bieten konnte.

In Europa ist die Todesstrafe – trotz gegenteiliger populistischer Äußerungen – nicht so einfach wiedereinzuführen. Die Staaten der Europäischen Union sind hier schon durch Art. 2 der EU-Grundrechte-Charta gebunden, nach dessen Absatz 2 niemand zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden darf.

Doch auch bei einer EU-skeptischen Politik stehen bereits geschlossene völkerrechtliche Vereinbarungen, wie in erster Linie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), einer Wiedereinführung im Wege. Das mag sich zwar erst auf den zweiten Blick aus der EMRK ergeben – in Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK sind Todesurteile vom Tötungsverbot explizit ausgenommen – jedoch nicht minder klar aus den Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13, die von Deutschland ratifiziert wurden und eine vollständige Abschaffung der Todesstrafe vorsehen.

Doch selbst wenn Deutschland aus der EU und der EMRK austreten würde, könnte die Todesstrafe nach überzeugender Ansicht nicht wiedereingeführt werden, da sie nach Ansicht des Bundesgerichtshofs mit der Menschenwürdegarantie nicht in Einklang zu bringen ist. Zudem verstößt sie gegen das Rechtsstaatsprinzip in seinem grundgesetzlichen Verständnis und unterfällt insofern dem Schutz der „Ewigkeitsgarantie“ gem. Art. 79 Abs. 3 GG, d.h. der zusätzlichen Sicherung des Grundgesetzes, wonach ihre Abschaffung gerade nicht durch ein parlamentarisches Gesetz rückgängig gemacht werden kann, sondern einer unabänderlichen Bestandsgarantie unterfällt.

Doch was ist, wenn dieses normative Gefüge in Zweifel gezogen wird und selbst absolute Setzungen relativiert werden?

Die abschreckende Wirkung leuchtet manchem erst einmal ein. Was könnte schon stärker motivieren, von einer Straftat abzusehen, als der eigene Tod als Konsequenz hieraus? Und doch: die propagierte, abschreckende Wirkung konnte bislang von keiner wissenschaftlichen Untersuchung bestätigt werden. Nicht nur das: Es spricht aus kriminologischer Perspektive sogar einiges für die sog. „brutalization hypothesis“, also dafür, dass die Todesstrafe eher zur Durchbrechung des Tötungstabus denn zu dessen Bekräftigung führt. Zudem ist schon lange strafrechtswissenschaftlich plausibilisiert, dass die Entdeckungswahrscheinlichkeit im Vergleich zur Strafhöhe eine viel größere Bedeutung für die Tatbegehung hat und zudem deliktspezifische Unterschiede sowie Interaktionen der Strafvariablen mit anderen Faktoren zu berücksichtigen sind. Sog. Affekttäter oder ein sexuell-triebhaft oder suchtstoffabhängiger Täter werden durch die Androhung der Todesstrafe kaum erreicht. All dies ist nicht neu – es liegt für den historisch Bewanderten bereits seit 1886 nahe, da eine unter der Geltung der Todesstrafe in England geführte Statistik zeigt, dass von 167 zum Tode Verurteilten (mindestens) 164 Zeuge einer Hinrichtung waren.

Es ist also gerade keine wirksamere Abschreckung durch die Todesstrafe zu erwarten und dies scheint – zumindest als kontingentes Wissen – innerhalb der diese Strafe praktizierenden Gesellschaften hinterlegt zu sein, da der Vollzug fast immer hinter verschlossenen Türen stattfindet. Vielleicht, weil die konkrete Praxis der Todesstrafe zu ihrer Ablehnung beitragen würde. Camus jedenfalls war dieser Auffassung. Er beschreibt in den einführenden Worten seiner Betrachtungen zur Todesstrafe seinen Vater, der – empört über ein „ungewöhnlich scheußliches Verbrechen“ (der Mörder hatte eine ganze Bauernfamilie im Blutrausch getötet und sie zudem beklaut) – sich frühen Morgens aufmachte zu einer, ihm verdient erscheinenden Hinrichtung und von dieser, für ihn ersten, unmittelbaren Erfahrung der Todesstrafe „mit verstörtem Gesicht überstürzt nach Hause kam, sich ohne ein Wort der Erklärung auf sein Bett setzte und sich plötzlich erbrach“.

Von der Unmöglichkeit der Humanität staatlichen Tötens

Auch das viel gepriesene „humane Töten“ ist unmöglich – die konkrete Praxis der Durchführung der Todesstrafe führt uns seit jeher ihre gravierenden Probleme vor Augen. Wir wissen von technischen Störungen, die zu Bränden am zu Tode Verurteilten führen. Und womöglich haben wir seit April 2014 Clayton Lockett vor Augen, der sich nach Injektion der Giftspritze 47 Minuten unter Schmerzen wand bis er schließlich an einem Herzinfarkt starb.

Und doch wird die Todesstrafe derzeit noch in 56 Staaten praktiziert. Letztes Jahr wurden 483 Exekutionen in 18 Ländern durchgeführt. Mindestens 28.567 Menschen warteten Ende des Jahres 2020 in Todeszellen auf Ihre Hinrichtung. Viele von ihnen sind unschuldig – auch das wissen wir.

Die Irreparabilität von Justizirrtümern ist wohl das geläufigste Argument gegen die Todesstrafe. Dass Justizirrtümer unvermeidbar sind, belegen Studien seit langer Zeit, insbesondere solche aus den USA. Nach plausiblen Schätzungen sind 4% der zum Tode verurteilten Häftlinge in den USA unschuldig. Ein solcher Justizirrtum ist ein Justizmord – für Euphemismen ist da kein Platz.

Warum also kommen wir immer wieder darauf zurück? Ist es immer noch der Vergeltungsgedanke, der bei besonders gravierenden Rechtsgutsverletzungen traditionell als Legitimation der Todesstrafe eine besondere Überzeugungskraft hat? Das Talionsprinzip ist vielen religiösen Texten immanent und auch Kant legitimierte bekanntlich die Todesstrafe auf säkularer Argumentationsgrundlage mit dem Vergeltungsgedanken – „Hat er aber gemordet, so muß er sterben. Es giebt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit.“

Doch auch hier könnten wir uns an die Gegenargumente erinnern, wonach die Legitimation der Todesstrafe auf gesellschaftsvertraglicher Ebene nicht möglich ist, da das für den Menschen Kostbarste – das Leben – nicht disponibel ist und insofern bei Aushandlung des fiktiven Gesellschaftsvertrages niemals einer Vernichtung dieses Lebens zugestimmt werden könne; jedenfalls nicht zu Repressionszwecken. Zudem ist zu erinnern, dass Kant – wie viele Vergeltungstheoretiker – gerade nicht vertrat, dass dem Täter bezüglich aller Delikte stets genau dasselbe anzutun sei wie das, was dieser seinem Opfer angetan hat. Warum also im Fall der Todesstrafe darauf beharren, wenn es durchaus möglich erscheint, die „Gleichheit zwischen Tat und Strafe“ durch eine gleichwertige Strafe (z.B. die lebenslange Freiheitsstrafe) zu erzielen? Die Behauptung, dass ansonsten „keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung“ möglich sei, ist noch kein Argument für die Notwendigkeit und Legitimität einer vergeltenden Strafe, also für den Standpunkt, dass auf eine begangene (und nicht mehr zu ändernde) Tötung eine weitere Tötung folgen muss.

Sofern schließlich für die Todesstrafe das ebenso utilitaristische wie zynische Argument der Kosten des Umgangs mit Delinquenz vorgebracht wird, ist darauf hinzuweisen, dass es keineswegs „günstiger“ ist, einen Mörder „zu beseitigen“ als ihn lebenslänglich zu verwahren. Vielmehr folgt aus langjährigen Kostenanalysen der US-amerikanischen Hinrichtungspraxis, dass die Kosten bis zur Vollstreckung der Todesstrafe pro Verurteiltem wesentlich höher sind als die Kosten für lebenslange Haft (sogar bei 40 Jahren in Einzelhaft auf höchster Sicherheitsstufe), da Kosten für – im Hinblick auf die Unabänderlichkeit dieser Strafe zwingend notwendige – Berufungsverfahren, angemessene Verteidigung sowie spezielle Haftbedingungen gegen Ende der Verwahrung zur Verhinderung eines der Todesstrafe vorgreifenden Suizids mit einberechnet werden müssen.

Un combat qui n’est pas terminé – Ein nicht abgeschlossener Kampf

Robert Badinter, eine der zentralen französischen Figuren im Kampf gegen die Todesstrafe und Justizminister Frankreichs im Jahre 1981, betonte in seinem Festvortrag vom 15. September 2021 vor allem, dass der Kampf nicht abgeschlossen sei. Fast genau 40 Jahre nach seiner berühmten Rede vor der französischen Nationalversammlung zeigt er sich aber voller Hoffnung, da über 100 der 198 Staaten der Vereinten Nationen die Todesstrafe gesetzlich abgeschafft haben und 36 Staaten sie nicht mehr praktizieren, wenn ihnen auch der politische Wille der normativen Fixierung fehlt.

Doch zu den 56 Staaten, die die Todesstrafe gesetzlich vorsehen und anwenden, zählen politisch und wirtschaftlich mächtige Staaten sowie ein Nachbar der Europäischen Union: Weißrussland. In Anbetracht dessen können wir uns auf ein Tabu nicht verlassen.

Es spricht kein rationaler Grund für die Todesstrafe. Sie leistet für die Bekämpfung von Verbrechen nichts, was nicht andere Strafen ebenso gut leisten – und sie richtet tiefgreifenden Schaden im normativen und gesellschaftlichen Gefüge an. Der Staat, der zur Durchsetzung des Tötungsverbots tötet, setzt sich schon grundsätzlich in einen Selbstwiderspruch. Er unterminiert seine rechtsstaatlichen Fundamente zudem durch irreparable Justizirrtümer und eine Vollstreckungspraxis, die erwiesenermaßen nie ein „humanes Töten“ darstellte.

Und schließlich bedeutet die Todesstrafe eine Desavouierung des Staates, weil sie letztlich über das Töten hinausgeht: Die Todesstrafe verbindet, wie Camus eindrücklich beschreibt, den Tod „mit einer Organisation, die für sich allein eine Quelle seelischen, den Tod an Schrecken weit übertreffenden Leidens darstellt.“ Dem Verurteilen wird angekündigt, dass er sterben wird. Er wird über Umstände und konkreten Zeitpunkt seines Todes in Kenntnis gesetzt und dann in eine Zelle gesperrt, um ihn darauf warten zu lassen.


SUGGESTED CITATION  Schmitt-Leonardy, Charlotte: Rubinhochzeit zwischen Rechtsstaat und Sanktionensystem: 40 Jahre Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich, VerfBlog, 2021/9/18, https://verfassungsblog.de/rubinhochzeit-zwischen-rechtsstaat-und-sanktionensystem/, DOI: 10.17176/20210918-195518-0.

One Comment

  1. Johannes Klug Sun 19 Sep 2021 at 00:50 - Reply

    Ein sehr schöner Beitrag, dem nichts hinzuzufügen ist.
    Die katholische Kirche ächtet übrigens seit 2017 ausdrücklich die Todesstrafe (KKK Nr. 2267) – gegen den Willen mancher Traditionalisten. Auch wenn die Macht der Kirche verblasst, ist dies ein Beitrag zu den Voraussetzungen unseres Staates, die der Staat nicht selbst schaffen kann.

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