24 January 2022

Ohne Anhörung ins Gefängnis

Wie durch eine Kombination von Strafbefehl und Ersatzfreiheitsstrafe der Richtervorbehalt ausgehebelt wird

Die Ersatzfreiheitsstrafe wird derzeit wieder kontrovers diskutiert und bekam zuletzt größere Aufmerksamkeit durch eine Reportage von Ronen Steinke und die Recherchen von FragdenStaat und ZDF Magazin Royale. Besonders brisant ist die Kombination der Ersatzfreiheitsstrafe mit dem Strafbefehlsverfahren, bei dem eine Hauptverhandlung nicht zwingend stattfindet. In der Folge müssen Menschen eine Freiheitsstrafe absitzen, ohne jemals einem Richter gegenübergestanden zu haben. Eine generelle Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe mag rechtspolitisch wünschenswert sein. Unserer Ansicht nach ist aber jedenfalls eine vorherige Anhörung durch eine Richterin verfassungsrechtlich geboten.

Eine fatale Kombination

Die Kombination von Ersatzfreiheitsstrafe und Strafbefehlsverfahren ist kein seltener Sonderfall. Seit Jahren verbüßen schätzungsweise 10 % der Insassen deutscher JVAs Ersatzfreiheitsstrafen. Die Staatsanwaltschaft schließt Ermittlungsverfahren häufiger durch Antrag auf Strafbefehl als durch Anklage ab. Ersatzfreiheitsstrafe und Strafbefehl kommen beide nur im Bereich der niedrigen und mittleren Kriminalität zur Anwendung. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Ersatzfreiheitsstrafen häufig auf Strafbefehlen beruhen.

Von der Ersatzfreiheitsstrafe sind überwiegend sozial benachteiligte Menschen, wie wohnungslose, drogenabhängige oder psychisch kranke Menschen betroffen – kurzum: Personen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sind, sich regelmäßig um ihre Post (einschließlich der gelben Gerichtsumschläge) zu kümmern. Dadurch können sie ihre Verfahrensrechte nicht wahrnehmen. Die Folge: Bei einigen Inhaftierten wurden möglicherweise schuldmildernde Umstände übersehen, bei demenzkranken Inhaftierten gar eine Schuldunfähigkeit.

In einem Rechtsstaat obliegt es der Richterin, sich ein persönliches Bild vom Angeklagten zu machen und darauf basierend eine Entscheidung über dessen Freiheitsentziehung zu treffen; verfassungsrechtlich ist dies in Art. 104 II 1 GG vorgeschrieben. In den geschilderten Fällen wird dieser Richtervorbehalt durch die Kombination von Strafbefehl und Ersatzfreiheitsstrafe ausgehöhlt.

Wie geraten Menschen ohne persönliche Anhörung in Haft?

Strafbefehl im summarischen Verfahren

Kernstück des Strafverfahrens ist eigentlich die Hauptverhandlung, in der das Gericht die Schuld des Angeklagten öffentlich und mündlich ermittelt und dabei von Amts wegen die materielle Wahrheit erforscht. Im Strafbefehlsverfahren findet dagegen grundsätzlich keine mündliche Hauptverhandlung statt (§ 407 I 1 StPO).

Staatsanwältin und Richter sind verpflichtet, einen Strafbefehl zu beantragen bzw. zu erlassen, wenn sie eine Hauptverhandlung für verzichtbar halten. Das ist bei Massenverfahren und eindeutiger Beweislage häufig der Fall. Dabei bestimmt die Staatsanwältin nach Aktenlage eine schuldangemessene Anzahl von Tagessätzen und eine einkommensangemessene Tagessatzhöhe. Legt der Angeklagte binnen zwei Wochen ab Zustellung Einspruch ein, wird ein Termin zur Hauptverhandlung anberaumt. Ohne Einspruch steht der Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil gleich (§ 410 I 1, III StPO). So kann eine strafrechtliche Verurteilung zustandekommen, ohne dass der Verurteilte zuvor mit Staatsanwaltschaft oder Gericht persönlich in Kontakt gekommen ist. Auch die Polizei vernimmt Beschuldigte im Ermittlungsverfahren bei einfachen Verfahren nicht persönlich (§ 163a I 2 StPO).

Eine Freiheitsstrafe kann im Strafbefehlsverfahren zwar nur bei verteidigten Angeklagten und nur bei einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe bis ein Jahr festgesetzt werden (§ 407 II StPO). Allerdings können auch Geldstrafen ins Gefängnis führen: Wird eine solche nicht bezahlt, tritt an ihre Stelle von Gesetzes wegen die Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 S. 1 StGB).

Wie wird aus einer Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe?

Eine Geldstrafe kann wie ein zivilrechtlicher Titel zwangsvollstreckt werden, also durch Pfändung von Wertgegenständen, Konten, Arbeitslohn oder anderen Forderungen der Verurteilten. Der bei der Staatsanwaltschaft zuständige Rechtspfleger sieht davon ab, wenn dies nicht aussichtsreich erscheint, weil zum Beispiel kein Vermögen vorhanden ist (§ 459c II StPO).

Im nächsten Schritt kann der Rechtspfleger die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe anordnen (§ 459e I StPO). Dabei prüft er zum einen, ob Zahlungserleichterungen, also Stundung oder Ratenzahlung, gewährleistet werden können (§ 459a I StPO). Zum anderen, ob im konkreten Fall eine unbillige Härte vorliegt, bei der er eine gerichtliche Anordnung zum Unterbleiben der Vollstreckung nach § 459f StPO anregt (§ 49 II 1 StrVollstrO). Unverschuldete Vermögenslosigkeit wird dabei nicht als unbillige Härte anerkannt, was das BVerfG für verfassungsgemäß hält.

Die Verurteilte erfährt von der anstehenden Ersatzfreiheitsstrafe oftmals erst durch die Ladung zum Strafantritt – in der Regel per einfachem Brief (§ 27 StrVollstrO). Dabei wird sie darauf hingewiesen, dass sie die Ersatzfreiheitsstrafe durch Erbringung freier Arbeit abwenden kann, d.h. durch unentgeltliche, gemeinnützige Arbeit (“Schwitzen statt Sitzen”, Art. 293 EGStGB i.V.m. § 2 I TilgV Bln). Bei fruchtlosem Ablauf der Ladungsfrist erlässt die Staatsanwaltschaft einen Vorführungs- oder Haftbefehl. Auch nach Haftantritt kann die Verurteilte die Haft noch durch Erbringung freier Arbeit oder nachträgliche Zahlung abwenden.

Menschen mit vielfältigen sozialen Belastungen können Zahlungserleichterungen oder Ersatzarbeit jedoch oft nicht in Anspruch nehmen und müssen daher die Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, beispielsweise weil sie arbeitsunfähig sind.

Was sagt das Grundgesetz?

Die Haftstrafe stellt das schärfste Schwert des strafenden Staates, den härtesten Eingriff in die von Art. 2 II 2 GG geschützte persönliche Freiheit dar. Im Strafrecht allgemein – und bei der Anordnung einer Freiheitsstrafe umso mehr – ist das Ultima-ratio-Prinzip zu beachten. Deswegen sieht Art. 104 II 1 GG bei Freiheitsentziehungen einen Richtervorbehalt vor: Nur die Richterin hat über deren Zulässigkeit und Fortdauer zu entscheiden. Als neutrale Kontrollinstanz soll sie das Rechtsgut der persönlichen Freiheit vor unverhältnismäßigen Einschränkungen schützen.

Im Zentrum steht also die eigenständige richterliche Entscheidung, mit der die Richterin die volle Verantwortung für die Verhängung der Maßnahme übernimmt. Sie muss eigenverantwortlich prüfen, ob die verfassungsrechtlichen wie einfachgesetzlichen Voraussetzungen der Freiheitsentziehung gegeben sind. Um diese Entscheidung treffen zu können, muss die Richterin sich zunächst einen persönlichen Eindruck von der betroffenen Person machen. Das wiederum ist nur durch eine mündliche Anhörung möglich.

Auch wenn sich das nicht eindeutig aus dem Wortlaut des Art. 104 II 1 GG ergibt, setzen Sinn und Zweck der richterlichen Sachentscheidung eine mündliche Anhörung voraus – wie sonst sollte die Höhe der Schuld oder die Schuldfähigkeit allgemein festgestellt werden? Zudem sieht Art.  104 III 1 GG vor, dass ein vorläufig Festgenommener alsbald der Richterin “vorzuführen”, d.h. von dieser persönlich anzuhören ist. Für dauerhaft der Freiheit entzogene Personen muss das erst recht gelten. Dies spiegelt sich etwa in der Notwendigkeit einer persönlichen Anhörung beim Polizeigewahrsam wider (vgl. nur § 31 III 2 ASOG Bln i.V.m. § 420 I 1 FamFG).

Auf den ersten Blick scheint Art. 104 GG nichts mit dem Strafbefehlsverfahren zu tun zu haben, denn in der Regel werden dabei eben keine Freiheitsstrafen verhängt. Das könnte erklären, weshalb das BVerfG bisher keine verfassungsrechtlichen Einwände gegen das Strafbefehlsverfahren hatte. Die aus dem Schuldprinzip folgende materielle Wahrheitserforschungspflicht erfordert nach dem BVerfG keine Hauptverhandlung, wenn die Akten eine tragfähige Grundlage zur Erforschung der Schuld bieten. Der Rechtsbehelf des Einspruchs mit anschließender Hauptverhandlung verbürge den Anspruch der Angeklagten auf effektiven Rechtsschutz und rechtliches Gehör. Geht es jedoch um den Vollzug einer Freiheitsstrafe, so dürfen wegen Art. 104 GG bei der Entscheidung nach Aktenlage gerade solche Umstände nicht übersehen werden, die eine Schuldminderung oder Schuldunfähigkeit begründen.

Bei einer Entscheidung durch Strafbefehl ist auch unklar, ob die mit dem Fall befassten Juristen die Möglichkeit einer Ersatzfreiheitsstrafe stets vor Augen haben. Bei einer Geldstrafe liegt es schließlich nahe, eine Beweisaufnahme für weniger wichtig zu halten als bei Verhängung einer Freiheitsstrafe. Das OLG Bremen (Urt. v. 08.04.1975 – Ss 18/75) begründet die Vereinbarkeit der Ersatzfreiheitsstrafe mit Art. 104 II 1 GG gerade damit, dass das Gericht bereits bei der Festsetzung der Tagessatzzahl wegen § 43 StGB über die Zulässigkeit der Freiheitsstrafe bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafe entscheidet. Dies sei Gericht und Verurteilten bewusst.

Dass eine persönliche Anhörung notwendig ist, wird durch das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) und aus Art.  6 I EMRK abgeleitete Recht der Beschuldigten auf ein faires Verfahren noch deutlicher: Die Beschuldigte darf bei Strafverfahren nicht bloßes “Objekt des Verfahrens” sein; sie muss die Möglichkeit haben, Einfluss auf das Verfahren zu nehmen. Nur so kann die Beschuldigte ihre Rechte wie das Beweisantragsrecht oder das Recht, sich zu allen Vorwürfen zu äußern, verwirklichen und ihre Subjektstellung wahren. Diese Rechte können Menschen, die mit behördlichem Schriftverkehr überfordert sind, nur in einer mündlichen Verhandlung effektiv realisieren. Ohne persönliche Anhörung durch einen Richter wird die Beschuldigte am Verfahren nur marginal beteiligt; sie wird zum Objekt des Verfahrens. Die Freiheitsentziehung genügt in diesem Fall nicht den Verfahrensvoraussetzungen aus Art. 104 II 1 GG. Der Eingriff in die persönliche Freiheit aus Art. 2 II 2 GG ist dann nicht gerechtfertigt und damit verfassungswidrig.

Wie sähe eine verfassungsgemäße Gestaltung aus?

Möchte man an der Ersatzfreiheitsstrafe festhalten, muss es vor deren Verhängung jedenfalls eine persönliche richterliche Anhörung geben. Denkbar wäre, dass die Staatsanwaltschaft diese von Amts wegen mit Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe veranlasst. Um sicherzustellen, dass die Anhörung tatsächlich stattfindet, sollte sie mit der Möglichkeit eines gerichtlichen Vorführungsbeschlusses versehen werden (vgl. §§ 134, 230 II StPO). Der Verurteilte könnte dann, falls er auch die postalische Ladung zur Anhörung nicht zur Kenntnis nimmt, von der Polizei zum Gericht gebracht werden.

Bei der persönlichen Anhörung kann die Richterin feststellen, ob die zu vollstreckende Strafe grob unangemessen ist, weil beispielsweise eine mangelnde Schuldfähigkeit eines demenzkranken Verurteilten unentdeckt blieb. Gibt es nachvollziehbare Gründe für die Versäumung der Einspruchsfrist oder kommt ein Freispruch aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel in Betracht, kann auf Antrag des Verurteilten oder der Staatsanwaltschaft das Verfahren bereits de lege lata wieder aufgerollt werden (§ 44 StPO und § 359 Nr. 5 StPO). Laut BVerfG gilt als neu nämlich alles, was das Gericht nicht in seine Entscheidung einbezogen hat, selbst wenn die Tatsachen oder Beweismittel bereits existierten. Schon jetzt kann im Härtefall der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe ausgesetzt werden (§ 459f StPO).

Dagegen bietet das Gesetz noch keine Lösung, wenn bei der gerichtlichen Entscheidung nach Aktenlage die Einkommensverhältnisse falsch eingeschätzt wurden oder eine verminderte Schuld bzw. Strafzumessungsgesichtspunkte zugunsten der Verurteilten übersehen wurden. De lege ferenda könnte eine Wiederaufnahmemöglichkeit bei solchen nicht schuldangemessenen Strafbefehlen geschaffen werden, also wenn bei Anwendung des gleichen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung in Betracht kommt.

Das grundsätzliche Dilemma, dass zahlungsunfähige Menschen nach aktueller Gesetzeslage bei geringer Schuld kurze, vom Gesetz eigentlich missbilligte Freiheitsstrafen (vgl. § 47 StGB) absitzen, wird dieser Vorschlag nicht auflösen. Jedenfalls aber stellt eine persönliche Anhörung die Legitimität des Strafverfahrens sicher. Die neue Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, das strafrechtliche Sanktionssystem überarbeiten zu wollen. An dieser Stelle sollte sie mit ihrem Reformvorhaben anknüpfen.

 


SUGGESTED CITATION  Blessing, Elena; Loyola Daiqui, Natalia: Ohne Anhörung ins Gefängnis: Wie durch eine Kombination von Strafbefehl und Ersatzfreiheitsstrafe der Richtervorbehalt ausgehebelt wird, VerfBlog, 2022/1/24, https://verfassungsblog.de/ohne-anhorung-ins-gefangnis/, DOI: 10.17176/20220124-180332-0.

One Comment

  1. Farschid Dehnad (Sozialer Dienst) Mon 21 Feb 2022 at 09:43 - Reply

    Sehr geehrte Damen Natalia Loyola Daiqui & Elena Blessing,

    vielen Dank für Ihren informativen und sehr gut verständlichen Artikel zum Thema. Vor allem auch über die im Text vorkommenden Links, um sich weiter inhaltlich und intensiver damit zu beschäftigen.

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