05 July 2022

Weder Burnout-Attest noch Jodel-Diplom

Vom Reformbedarf in der juristischen Ausbildung, eine Erwiderung

Wer sich anschickt, ein System zu ändern, das in seinen wesentlichen Zügen seit 153 Jahren unverändert geblieben ist und dessen Einführung damit länger zurück liegt als die Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles, der muss mit Abwehrreflexen rechnen. Denn spricht nicht gerade diese hervorstechende Beständigkeit der juristischen Ausbildung für die Beibehaltung des jetzigen Systems? So schlecht kann etwas, das schon immer so gemacht wurde, ja nicht sein. Oder?

Die Debatte, die sich an dem am 29.06.2022 in der FAZ erschienenen Artikel „Der Bachelor ist ein Loser-Abschluss“ von Tiziana Chiusi entzündete, zeichnet überwiegend ein anderes Bild. Die Jura-Professorin wendet sich in dem Artikel gegen „selbst ernannte Reformer der juristischen Ausbildung“, die Unsicherheit und Zweifel in Hinblick auf das Staatsexamen in die Öffentlichkeit trügen. Gemeint ist damit wohl unter anderem die breit angelegte Kampagne iur.reform, die von Studierenden, Referendar:innen und wissenschaftlichem Nachwuchs getragen wird und breite Unterstützung aus der Professorenschaft, der Anwaltschaft und von Verbänden erfährt. Ziel der Kampagne ist es, über eine bis zum 17. Juli 2022 mögliche Abstimmung auf der Seite iurreform.de eine breite Datenlage zu schaffen, um ein umfassendes Bild davon zeichnen zu können, wie Studierende, aber auch Professor:innen, Praktiker:innen und Referendar:innen den Reformbedarf in der juristischen Ausbildung einschätzen. Dabei ist die Einführung eines integrierten, das Staatsexamen nicht ersetzenden Bachelor-Abschlusses eine der Thesen, die zur Abstimmung gestellt sind.

Chiusi erweist Debatte einen Dienst

Chiusi, die Vorsitzende des Deutschen Juristen-Fakultätentages ist, erweist der Kampagne einen Dienst mit ihrem an einem Mangel an Sachlichkeit und Argumenten leidenden und durch Begriffe wie „Loser-Abschluss“ und „Jodel-Diplom“ polemisierenden Artikel. Bereits unmittelbar nach seinem Erscheinen führte dieser zu einer Debatte etwa auf LinkedIn und Twitter und rief Kritik aus den eigenen Reihen hervor. Von Kritiker:innen wird ein anderes Bild gezeichnet als das des erfolgreichen, alternativlosen deutschen Modells der juristischen Ausbildung. Hans Michael Heinig, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Georg-August Universität Göttingen und Dekan der dortigen juristischen Fakultät, berichtet auf Twitter etwa, dass juristische Fakultäten zunehmend sehr gute Studieninteressierte nicht erreichen würden, weil diese von den Examensbedingungen abgeschreckt werden. Helmut Aust, Professor für Öffentliches Recht und die Internationalisierung der Rechtsordnung der Freien Universität Berlin tritt Chiusis Einordnung des Bachelor of Laws (LL.B.) mit einem Hinweis auf die Erfahrungen mit diesem an der FU Berlin entgegen: Diese seien sehr gut; der LL.B. mindere die Prüfungsangst vor dem Staatsexamen. Sogar von Standortvorteil gegenüber anderen Universitäten ist in der Twitter-Diskussion die Rede, was in Hinblick auf die Konkurrenz der Universitäten um Studienanfänger:innen aufhorchen lassen sollte.

Dass die aktuelle Volljuristenausbildung das non plus ultra ist, ist mithin keinesfalls unumstritten oder gar „herrschende Meinung“. Die Reform der juristischen Ausbildung ist vielmehr gesellschaftlich dringend geboten.

Studienabbrüche, chronischer Stress und Diskriminierung – Reformgründe gibt es viele

  1. Wie auch in der Pflege oder im Handwerk steuern wir auch in den juristischen Berufen auf einen besorgniserregenden Fachkräftemangel zu. Nach einer im Jahr 2018 veröffentlichten Studie von PwC zum Fachkräftemangel im öffentlichen Sektor werden im Jahr 2030 76.000 Stellen für Jurist:innen nicht besetzt werden können. Justiz und öffentliche Verwaltung werden in einem harten Konkurrenzkampf um den juristischen Nachwuchs stehen. Der Mangel an Volljurist:innen – und nicht eine Reform von deren Ausbildung – wird zu einer Gefahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Bereits heute steht der Rechtsstaat durch die ungenügende personelle Ausstattung der Justiz unter Druck. Eine überlange Dauer von Verfahren und die damit verbundenen volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten können wir schon gegenwärtig beobachten. Handlungsfähigkeit und Verlässlichkeit der Verwaltung sind durch den drohenden Personalmangel bedroht. Insofern sollten wir alles daran setzen, Studieninteressierte für ein rechtswissenschaftliches Studium zu gewinnen, die Zahl der Studienabbrecher:innen zu verringern und die Zahl derer, die nach dem ersten Staatsexamen nicht in den Vorbereitungsdienst eintreten – nach den zuletzt veröffentlichten Statistiken des Bundesamtes für Justiz für die Jahre 2017 bis 2019 gehen jedes Jahr von bundesweit rund 9.500 Absolvent:innen um die 2.000 zwischen dem ersten und zweiten Staatsexamen verloren – zu reduzieren. Die Frage nach den Gründen für Studienabbruch und die Entscheidung gegen das Referendariat führt unweigerlich zum Thema psychische Belastung durch das Studium – ob man diese aus einer subjektiven Position für nachvollziehbar hält (oder wie Frau Chiusi eben nicht) ist dabei unerheblich.
  2. Die Zahlen sprechen nämlich für sich: Wenn beispielsweise 61 Prozent der Studierenden der Universität Trier in der Kampagne Herbst 2021 das erste juristische Staatsexamen nicht bestanden haben, dann ist die Angst, durchzufallen und am Ende nach Jahren des Studiums nur mit Abitur dazustehen, begründet und nicht durch Repetitorien eingeredet. Die nicht nur daraus, sondern auch aus der Stoffmenge resultierende psychische Belastung der Studierenden ist zudem empirisch belegt: Die Studie „JurSTRESS – Regensburger Forschungsprojekt zur Examensbelastung bei Jurastudierenden“ der dortigen Fakultät für Humanwissenschaften bestätigte, dass bei Studierenden in der Examensvorbereitung „besorgniserregende Belastungsintensitäten“ feststellbar sind und ein nicht unerheblicher Teil der Examenskandidat:innen schwer belastet ist. 59 Prozent der Studienteilnehmer:innen galten mindestens zu einem Messzeitpunkt als „auffällig“ hinsichtlich der chronischen Stressbelastung, 48 Prozent hinsichtlich der Ängstlichkeit und 19 Prozent hinsichtlich der Depressivität. Als Erklärung für festgestellte Veränderungen in der Cortisolaufwachreaktion der Teilnehmenden nannten die Studienautor:innen einen chronischen Erschöpfungszustand, in dem sich die Studierenden befinden. Die enorme psychische Belastung, die mit der juristischen Ausbildung einhergeht, ist mithin Fakt. Daher ist die Debatte, wie wir das Staatsexamen vom „Burnout-Attest“ zum Nachweis juristischer, in der Praxis geforderter Kompetenzen entwickeln können, notwendig. Dies verlangt weder eine Abkehr von den Staatsexamina noch einen Qualitätsverlust. Jedoch muss etwa die Frage sachlich diskutiert werden können, ob die Prüfung einer breiten Fülle an Nebengebieten insbesondere vor dem Hintergrund einer inflationären gesetzgeberischen Tätigkeit und einer Zunahme der Komplexität juristischer Sachverhalte im europäischen Mehrebenensystem noch zeitgemäß ist und die daraus resultierende Belastung der Studierenden tatsächlich zu einem Mehr an Kompetenz führt, während etwa rhetorische Fähigkeiten und Soft Skills weitgehend in der Ausbildung auf der Strecke bleiben. Es verwundert in diesem Zusammenhang, dass von Gegner:innen der Reformbestrebungen einerseits ein Hohelied auf die juristische Ausbildung angestimmt wird, andererseits aber Absolvent:innen nicht zugetraut wird, sich im Bedarfsfall mit den ihnen vermittelten Kompetenzen die in Rede stehenden Rechtsgebiete selbst zu erarbeiten. Genauso inkonsistent ist es, einen integrierten Bachelor als „Jodel-Diplom“ zu bezeichnen, wenn hierfür Kompetenzen und Inhalte abgeprüft werden, die – umfänglicher – im Staatsexamen verlangt werden, das im selben Atemzug gar als „Voraussetzung des wirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Erfolgs der Bundesrepublik“ bezeichnet wird.
  3. Weitere Gründe für den Verlust von juristischem Nachwuchs in der Ausbildung sind Hürden, die sich aus der sozialen Herkunft, einem zugeschriebenen Migrationshintergrund oder dem Geschlecht ergeben. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2017 zeigt etwa, dass die Bildungsherkunft der Eltern immer noch entscheidenden Einfluss darauf hat, ob das Jura-Studium erfolgreich abgeschlossen wird und dass Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern häufiger ihr Studium abbrechen als Studierende aus akademischen Elternhäusern. Die juristische Ausbildung ist insbesondere bei einer angespannten Finanzlage eine Herausforderung: Die Stofffülle lässt wenig Zeit für Nebenjobs. Zu kommerziellen Repetitorien gab es zudem vielerorts lange keine Alternative wie Uni-Rep oder Examensvorbereitungskurs. Eine ernstzunehmende Vorbereitung auf das Zweite Staatsexamen wird in vielen Bundesländern auch den Bezahl-Repetitorien überlassen. Und wenn Frau Chiusi schreibt, dass man in anderen Ländern nach dem Jura-Studium ein zweijähriges, schlecht bezahltes Praktikum machen müsse, an dessen Ende ein Examen zu bestehen ist, dürften sich viele Referendar:innen fragen, worin der Unterschied zum deutschen System liegen soll. Mit einer Brutto-Unterhaltsbeihilfe von beispielsweise 1209,21 Euro in Hamburg und gleichzeitig bestehenden Hinzuverdienstgrenzen bleibt vielen Referendar:innen im Alter von Mitte 20/Anfang 30 nur, die Familie oder den Partner/die Partnerin um finanzielle Unterstützung zu bitten oder einen Antrag auf Wohngeld zu stellen.

Eine im Jahr 2018 veröffentlichte Studie zu Geschlechts- und Herkunftseffekten bei der Benotung juristischer Staatsprüfungen des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern hat zudem gezeigt, dass die vielfach von Absolvent:innen empfundene Willkür in mündlichen Prüfungen existiert und die Chancen in den mündlichen Staatsexamensprüfungen nicht für alle gleich sind: Frauen und Personen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund schneiden signifikant schlechter ab. Zumindest die geschlechtsbedingte Diskriminierung entfällt, wenn mindestens eine Frau auf der Prüferbank sitzt. Vor dem Hintergrund dieses Befundes und der Tatsache, dass vielerorts rein männliche besetzte Prüfungskommissionen die Regel sind, ist die Vereinbarung im Koalitionsvertrag von CDU und Bündnis90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen sehr zu begrüßen, wonach künftig eine gemischtgeschlechtliche Besetzung der Prüfungskommissionen erfolgen soll.

Der status quo ist eine Gefahr für unseren demokratischen Rechtsstaat

Auch dieser Befund zeigt jedenfalls, dass es an der Realität vorbeigeht, die Forderung nach einem Reformdiskurs zu einem Angriff auf den wirtschaftlichen Erfolg und die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik hochzustilisieren und Studierende als schlicht zu weinerlich darzustellen. Vielmehr stellt der status quo vor dem Hintergrund der absehbaren demografischen Entwicklung eine Gefahr für unseren demokratischen Rechtsstaat dar. Für den Einzelnen sind die persönlichen gesundheitlichen Kosten der juristischen Ausbildung mitunter hoch. Dies ist nicht nur aus einer empathischen Sicht heraus bedauerlich, sondern auch aus einer ökonomischen Perspektive zu hinterfragen. Entsprechend fordert nicht nur die Studierendenschaft, sondern ein breites juristisches Bündnis über Reformoptionen zu sprechen. Allein der Schulterschluss zwischen Wissenschaft und Lehre, Praxis, großen Teilen der Politik, Referendar:innen und Studierenden sollte aufhorchen lassen. Auch dass die iur.reform-Abstimmung über Reformvorschläge bereits über 10.000 Teilnehmer:innen verzeichnet, bezeugt den Reformdruck. Statt Bachelor-Studierende pauschal herabzusetzen, wäre es daher gut, in einen sachlichen Diskurs einzutreten, in dem auch Bedenken ernstgenommen werden sollen, um zu einer bestmöglichen Lösung zu kommen. Das entspricht unserem demokratischen Miteinander. Es ist aber auch in der juristischen Praxis unverzichtbar, dass wir einander zuhören, die Argumente der Gegenseite ernst nehmen, sachlich entkräften und einen für alle Seiten tragbaren Kompromiss ausloten – im Diskurs miteinander sollten wir diese Fähigkeiten, zu denen uns unsere Ausbildung zumindest befähigen soll, nicht über Bord werfen. In diesem Sinne sollten wir offen und sachlich darüber reden, was sich ändern muss und wie eine Reform aussehen kann.

Der Beitrag gibt die private Meinung der Autorin wieder.


SUGGESTED CITATION  Schollmeier, Jana: Weder Burnout-Attest noch Jodel-Diplom: Vom Reformbedarf in der juristischen Ausbildung, eine Erwiderung, VerfBlog, 2022/7/05, https://verfassungsblog.de/weder-noch/, DOI: 10.17176/20220705-172659-0.

13 Comments

  1. Martin Borowsky Tue 5 Jul 2022 at 16:15 - Reply

    Chapeau, Frau Schollmeier, eine überzeugende Problemanalyse und ein eindrückliches und wohlbegründetes Statement. Inakzeptabel die fortbestehende Diskriminierung. Warum sind in der Arbeitsgerichtsbarkeit kaum Menschen mit Migrationshintergrund tätig, obwohl ein Gutteil der Beschäftigten diesen Hintergrund haben? Warum gibt es an den Bundesgerichten so gut wie keine Kolleg:innen mit Migrationshintergrund oder aus “einfachen Verhältnissen”? Selbstreproduktion der Elite? Es muss im Übrigen auch Gründe dafür geben, dass seit rund zwei Jahrzehnten die Eingangszahlen in der Ziviljustiz beständig zurückgehen (und aktuell nur durch die Massenverfahren – Dieselfälle, Prämienerhöhungen im Versicherungsbereich … – ausgeglichen werden). Warum wurde das einstufige Modell, etwa die Konstanzer Erfolgsdgeschichte, geräuschlos “beerdigt”? Alle diese Fragen sollten in einem offenen und fairen Diskurs erörtert wereden.

    • Michael Schneider Tue 5 Jul 2022 at 21:21 - Reply

      Bitte lesen Sie noch einmal Art 33 II GG, um zu verstehen, nach welchen Kriterien die Personalauswahl im öffentlichen Dienst zu erfolgen hat. Migrationshintergrund und “einfache Verhältnisse” sind es jedenfalls nicht. Im Übrigen frage ich mich auch, was all das mit dem Thema des Beitrages zu tun haben soll.

    • Postkartenverehrer Wed 6 Jul 2022 at 10:28 - Reply

      das übergeordnete Einstellungsmerkmal ist die fachliche Qualifikation und keine anderen Gründe.

      • Martin N Wed 6 Jul 2022 at 14:36 - Reply

        @Postkartenverehrer: ergo schreiben Sie Menschen mit Migrationsgeschichte bzw. Menschen aus anderen sozio-ökonomischen Verhältnissen oder Frauen eine stets unterdurchschnittliche Qualifikation zu? Anders wäre es ja nicht zu erklären, dass ihre Einstellungszahlen im Vergleich zum Bevölkerungsanteil deutlich niedriger ist.

  2. Heletz Tue 5 Jul 2022 at 20:22 - Reply

    Eine „Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles“ gab es nie!

    Das Deutsche Reich wurde in den Novemberverträgen des Jahres 1870 ZUM 1. Januar 1871 gegründet! (Was man heute noch im WaffG z.B. merkt.)

    Der völkerrechtlich völlig bedeutungslose Akt der Ausrufung eines Deutschen Kaisers fand erst am 18. Januar statt, also zum einen am traditionellen Krönungstag der Preußischen Könige, andererseits aber zu einem Zeitpunkt, an dem das Deutsche Reich bereits 17 tage existierte.

    Viel Symbolik, aber kein rechtssetzender Akt.

  3. Markus Krajewski Tue 5 Jul 2022 at 23:44 - Reply

    Wenn es wirklich stimmt, dass 61 Prozent der Studierenden der Universität Trier in der Kampagne Herbst 2021 das erste juristische Staatsexamen nicht bestanden haben, dann ist das ein horrendes Systemversagen in Trier oder in Rheinland-Pfalz. Die Zahlen, die ich aus Bayern (an allen sieben Prüfungsstandorten) seit Jahren kenne, bewegen sich im Erstversuch bei 25 bis 30% und liegen unter 5% beim Zweitversuch. Wie kommen diese Zahlen in Trier zustande????

    • Treverer Thu 7 Jul 2022 at 15:00 - Reply

      Das kommt heraus, wenn Sie in einem Bundesland zwei Unis haben und an der einen haben alle Studierenden ein Abi von 2,4 und besser (NC Mainz WS 2015/16), und an der anderen haben mangels NC 78% der Studierenden ein Abi von 2,5 und schlechter (Werte für Trier WS 2015/16). Wenn dann die beiden Gruppen für die Korrektur der Examensklausuren zusammengeworfen werden, verteilt sich die Durchfallquote entsprechend ungleich auf die beiden Universitäten – wenn man die Studien über die relativ hohe Korrelation von Schulleistungen und juristischen Examensleistungen kennt, eigentlich kein Wunder.

  4. Pyrrhon von Elis Wed 6 Jul 2022 at 10:11 - Reply

    Die Ideen für eine Verbesserung der Juristenausbildung sind eigentlich bereits seit Jahren in der Diskussion, allerdings aufgrund verkrusteter Einstellungen niemals umgesetzt worden. Die Probleme der Umsetzung sind dabei im Grunde alle hausgemacht.

    Die Schwierigkeit der Examina ist eine künstliche, die maßgeblich darin besteht, dass bei der Bewertung von Klausuren nicht auf methodische Bearbeitung der jeweiligen Sachverhalte geachtet wird, sondern mehr oder minder auf stupide Wiedergabe von Urteilen – die man in den meisten Fällen vorher kennen muss, um ja nicht bei einer Abwägungsentscheidung einen Sachverhalt anders zu bewerten als es das den Fall inspirierende Gericht getan hat. Das wiederum liegt so ein bisschen in der Mentalität begründet, man könne “erst dann mitsprechen, wenn man mindestens ein Examen hat”.

    Das gilt im Übrigen nicht nur für den Bereich Rechtswissenschaften, es betrifft eigentlich alle Geisteswissenschaften in ähnlicher, wenn auch fachspezifischer Weise. Die Lösung wäre im Grunde genommen, das Humboldtsche Bildungsideal auch umzusetzen, statt nur zu behaupten, man vertrete es. Aber vermutlich würde ein heutiger Jurist dieses Ideal als abwägungsfähiges “Prinzip” deklarieren.

    Eine kurze Auflistung zwingend notwendiger Veränderungen wäre:
    (1) unabhängige Prüfer und Klausurenersteller, die fest angestellt sind und keinen Grund haben, sklavisch an Skizzen zu heften
    (2) Ein anderes Format von Klausuren und Prüfungen – denkbar wäre etwa eine Urteilskritik, ein Aufsatz zu einem vorgegebenen Thema sowie andere Prüfungstechniken, bei denen sich eine allgemeine schematische Abarbeitung verbietet
    (3) Fokus auf Rechtskritik (nicht im Sinne der Frankfurter Schule): dem kritischen Umgang mit Urteilen und Meinungen zu rechtlichen Themen
    (4) Stärkung der Grundlagenfächer (Rechtstheorie, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Rechtsgeschichte)

    Was die Förderung finanziell benachteiligter Studenten angeht – ein solches Problem löst man nicht durch Minderung oder Abänderung des Stoffes für alle, sondern eher durch inviduelle Förderung je nach Härtegrad der Benachteiligung.

    • Leser Wed 6 Jul 2022 at 12:48 - Reply

      Das fasst es sehr gut zusammen.

      Ergänzend: Mir wird (allgemein) zu wenig über das Verhältnis zum Justizteil gesprochen. Das sollte aber nicht in den Hintergrund treten, weil es immerhin zwei Jahre (mit allen Wartezeiten meist eher 2 3/4 Jahre) sind.

      Das 2. Staatsexamen hat heute praktisch keinen Sinn mehr – das sehen Übrigens viele mehr “Praktiker” so, als mancher “Theoretiker” es glauben mag. Es wird darin gerade nicht abgefragt, was die Dezernatsarbeit in einem Gericht prägt (vom Anwaltsberuf ganz zu schweigen). Es wird auch nicht mehr verlässlich abgefragt, was das Handwerkszeug für die Erstellung von Urteilen oder Beschlüssen ist. In vielen Ländern ist das sogar soweit “pervertiert”, dass in den Klausuren nicht einmal mehr ein praktischer Teil verlangt ist und stattdessen eine Begutachtung reicht. Das ist nach erfolgreich abgelegtem ersten Examen mehr Beschäftigungstherapie und weniger Leistungsmessung.

      Die erste Prüfung ist insoweit (noch?) deutlich aufschlussreicher, weil dort mindestens in Grundzügen noch Grundlagenkenntnisse abgefragt werden. Besonders dann, wenn ein guter Klausurersteller den Fall so entwickelt, dass kein Bearbeiter die Rechtsfragen vorher kennen kann. Da zeigt sich, wer materielles Recht wirklich versteht. Wer das kann, der kann (wenn sie oder er will), auch lernen, wie man Urteile schreibt. Wer hingegen nur weiß, was das BVerwG oder der BGH nun im Fall “soundso” meinen, wenn die Ausnahmekonstellation 17 eintritt, kommt in aller Regel im 2. Staatsexamen sehr gut durch. Dieses Wissen hat allerdings keinerlei praktische Relevanz, weil heute kein Praktiker Urteile schreibt, ohne die Möglichkeit zu haben, sehr schnell die Rechtsauffassung der BVerwG oder BGH herauszufinden. Dieses Wissen ist dann vollkommen nutzlos, wenn es – was in der Praxis nicht selten ist – keine Rechtsprechung zu einer relevanten Rechtsfrage gibt.

      Wenn es daher – das scheint der Mainstream der letzten 20+ Jahre gewesen zu sein – heißt, die Erste Prüfung müsse “praktischer” werden und deshalb müsse es nun auch Klausuren zum Arbeits-, Familien-, Gesellschafts-, Abfall- oder Sexualstrafrecht geben, hat das mit Praxis nichts zu tun. Es ist – es muss so deutlich gesagt sein – dummes Zeug. Es gibt in der Praxis zwar mehr Fälle aus dem Arbeitsrecht als aus dem Kondiktionsrecht. Wer aber Praxis so versteht, dass damit nur die Anhäufung von Fallwissen verbunden ist, hat das Prinzip Rechtsprechung nicht verstanden. Wer das meint, kann auch das Auswendiglernen des Grüneberg zum Prüfungsgegenstand machen. Nur dafür braucht es kein Studium mehr. Im ersten Examen sollte die Fähigkeit gezeigt werden, allgemeine Methodik auf Fälle anzuwenden. Das ist Praxis.

  5. Postkartenverehrer Wed 6 Jul 2022 at 10:36 - Reply

    Die Lösung ist sicherlich nicht die Einführung eines Jura-Bachelors.
    Probleme sind:
    – Bewertungssystem der Examinas (Dass keine erzielten Leistungen während des Studiums berücksichtigt werden, ist für die Zeit und Intensität des Studiums unangemessen.)

    Thats it.

    Die angeblichen Probleme:
    – Stress (also bitte, seit JAHREN haben es die Absolventen gepackt mit dieser Situation umzugehen, es gehört auch zu einer gewissen Charakterbildung dazu.)
    – Ängste (ja, Befindlichkeiten sollten der Maßstab sein…)
    – Ausbildungsinhalte (Auf jeden Fall verbesserungswürdig)
    – Aktualität (Auf jeden Fall verbesserungswürdig)

    Aufweichung der juristischen Qualifizierung durch Hinzufügen irgendwelcher Abschlüsse ist Lauchzwiebelquark… Ebenfalls lese ich ein hohes Maß an Emotionalität in den Reaktionen auf den “Loser-Bachelor”… sehr juristisch.

    • Lesende Fri 8 Jul 2022 at 11:21 - Reply

      1. Staatsexamina ist bereits der Plural und bedarf keines zusätzlichen -s….ähnlich wie es bspw. auch keine Antibiotikas gibt (die Rechtschreibprüfung unterkringelt schon fleißig).

      2. Genau das, was Sie schreiben beschreibt das generelle Problem, welches Reformgegner:innen gerne haben auf den Punkt gebracht: wir mussten da auch durch, wir haben es ja auch irgendwie überlebt, also haben das andere gefälligst auch zu überstehen. Aber das ist ja gerade der Punkt: es gibt 1. immer weniger Menschen, die dazu bereit sind, diesen Weg zu gehen und es gibt 2. konkrete Vorschläge dafür, wie man den Druck abmildern könnte, ohne Qualität zu verlieren.

      Bspw. der integrierte Bachelor (der die Staatsexamen [deutscher Plural als Alternative zu Examina] in keinster Weise ersetzen oder abwerten soll), führt dazu, dass juristische Berufe ohne weiteren Ausbildungsweg auch dann offen stehen, wenn das Examen selbst nicht gelingt. Diese Berufe gibt es gerade in der Verwaltung oft und es werden dort schon heute händeringend Leute gesucht.

      So viel zu den objektiven Argumenten.
      Dazu, wie man argumentiert, und ob man Menschen mit anderen Positionen Gefühlsduselei vorwerfen sollte, wenn sie Argumente bringt sollte sich jede*r selbst eine Meinung bilden. Meiner entspricht es jedenfalls nicht.

    • Johan Sun 10 Jul 2022 at 14:04 - Reply

      Dieses Argument der Charakterbildung habe ich im Jurastudium schon so oft gehört – ist das nicht, wie mein Vorkommentator schon schrieb, nicht genau das Problem? Dass das Jurastudium so ausschließlich darauf ausgelegt ist, “dogmatisch richtiges” denken zu lehren, dass das Absolvieren der Prüfung am Ende zugleich als Charakterprüfung empfunden wird? Einerseits entsteht dadurch ein enormes Kastenbewusstsein, das meines Erachtens schlicht undemokratisch ist, andererseits verlernt man dadurch jedes andere Denkungsart – sei es eine philosophische, sei es auch einfach die des gemeinen Menschenverstands.

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