Wo ein Kläger, da kein Richter?
Zu den „Kreuzerlass“-Urteilen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes
Nicht viele bayerische Verwaltungsvorschriften dürften es zu einem langen Beitrag auf den vorderen Seiten der New York Times geschafft haben. So widerfuhr es vor einigen Monaten jedoch § 28 der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaats Bayern (AGO): „Im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes ist als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen“ heißt es dort seit einem Beschluss des Ministerrats vom April 2018. Jene Vorschrift hat jedoch nicht nur die internationale Presse, sondern auch die bayerische Justiz beschäftigt. Seit gestern liegen nunmehr die schriftlichen Begründungen zu drei Entscheidungen vor, mit denen der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) bereits am 1. Juni dieses Jahres mehrere Klagen gegen die „Kreuzpflicht“ abgewiesen hat. Darin kommt der BayVGH zu dem – zunächst noch wenig überraschenden – Ergebnis, dass der „Kreuzerlass“ und seine Umsetzung in den bayerischen Behörden zwar rechtswidrig seien. Sodann verneint er jedoch subjektive Rechtsverletzungen sowohl der klagenden Einzelpersonen als auch einer Weltanschauungsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts, so dass die Klagen teils schon unzulässig, im Übrigen jedoch unbegründet seien. Damit gelingt es dem Gericht nur vordergründig, den – damals wohl eher wahlkampftaktisch als religionspolitisch motivierten – Zündeleien der Bayerischen Staatsregierung zu begegnen, ohne allzu viel Aufhebens zu machen. Bei genauerer Hinsicht erweisen sich die Urteilsbegründungen als derart wertungswidersprüchlich, dass sie kaum Bestand haben dürften.
Verstoß gegen das Neutralitätsgebot
Erfrischend deutlich tritt das Gericht der These der Bayerischen Staatsregierung und auch des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs entgegen, das Anbringen von Kreuzen in staatlichen Gebäuden sei lediglich Ausdruck der „christlich-abendländischen Tradition“ Bayerns, nicht jedoch einer religiösen Identifikation mit dem Christentum. Diese Deutung hatte dereinst nicht nur beim Erzbischof von München und Freising für Verwunderung gesorgt, der „Spaltung, Unruhe und Gegeneinander“ im Namen christlicher Symbolik und eine „Enteignung“ des Kreuzes beklagte. Richtigerweise weist das Gericht darauf hin, dass es hier nicht allein auf die vermeintliche Verwendungsabsicht des Staates, sondern – wie auch sonst bei Grundrechtsfragen – auf die objektive Wirkung und den objektiven Sinngehalt staatlichen Handelns ankommt. Das Kreuz ist das zentrale Zeichen christlicher Glaubensüberzeugungen; es kann seine religiöse Bedeutung nicht einfach abstreifen. Dies gilt auch vor anderslautenden Bekundungen der Bayerischen Staatsregierung, wobei sich insbesondere der Rechtsbegriff des „Abendlandes“ als denkbar ungeeignet, weil verfassungsrechtlich suspekt (siehe nur hier die Rn. 123 ff.), erweist. Da das Kreuz keinerlei hergebrachten Bezug zu den Behördengebäuden hat, bedeutet es einen Bruch mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, wenn sämtliche Dienststellen in Bayern systematisch und flächendeckend mit entsprechender Symbolik versehen werden.
Kein subjektives Recht auf staatliche Neutralität?
Überraschend sind jedoch die darauffolgenden Erwägungen des BayVGH: Zwar verletze der Freistaat Bayern mit dem Anbringen der Kreuze objektiv-rechtliche Verfassungsprinzipien. Dies korrespondiere indessen nicht mit einer Verletzung auch subjektiver Recht der klagenden Einzelpersonen und Weltanschauungsgemeinschaften. Dabei vermag es zwar noch zu überzeugen, wenn das Gericht die Klagen unmittelbar gegen § 28 AGO als unzulässig abweist, da es sich dabei um bloßes Verwaltungsbinnenrecht ohne Außenwirkung handele. Mit Blick auf die Unterlassungsklagen gegen das Anbringen der Kreuze als solches bleibt es jedoch nicht nur dabei, dass das Gericht den Klagen im Ergebnis gleichermaßen keinen Erfolg vergönnt. Das Gericht unternimmt zudem eine Differenzierung zwischen einerseits den 25 klagenden Einzelpersonen und andererseits dem Bund für Geistesfreiheit, der sich als Körperschaft des öffentlichen Rechts ebenfalls der Klage angeschlossen hatte. Den Einzelpersonen wirft das Gericht nun vor, dass sie sich in ihrer Klage nicht gegen konkrete Kreuze in konkreten Behörden, sondern nur allgemein an die Bayerische Staatskanzlei gewendet hätten. Damit schlägt es ihnen die Klagebefugnis aus der Hand, zumal sie hier als Einzelpersonen keine Ungleichbehandlungen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG geltend machen könnten. Dies bleibt nach der Logik des Gerichts allein den klagenden Weltanschauungsgemeinschaften vorbehalten, deren Klage somit immerhin die Zulässigkeitshürde nimmt. In der Begründetheit verneint das Gericht aber auch bei ihnen sodann einen Grundrechtseingriff. Denn der Staat interveniere hier weder in die weltanschaulichen Überzeugungen der Gemeinschaft, noch benachteilige er sie messbar gegenüber den christlichen Kirchen.
Gleichheitsrechtliche Perspektiven
Obgleich das Gericht neben Art. 4 Abs. 1 GG auch Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zitiert, bleibt es in den gestern vorgelegten Gründen einem eindimensionalem, freiheitsrechtlichen Verständnis des Religionsrechts verhaftet. Eine stärker auch gleichheitsrechtlich geprägte Denkweise hätte es zu einem anderen Ergebnis führen müssen. Als zentrales Argument stützt sich das Gericht auf die „Situierung der Kreuze im Eingangsbereich“ der Dienstgebäude. Hier eilten die Besucher nur vorbei, hier würden keine Amtsgeschäfte erledigt und somit sei „keine hinreichende Verknüpfung zwischen staatlicher Aufgabenerfüllung und Verwendung des christlichen Symbols“ gegeben. In der Eingangshalle sei es „im wesentlichen passives Symbol ohne missionierende oder indoktrinierende Wirkung“. Dies mag man vor der Folie der (negativen) Religionsfreiheit so sehen; individuelle Freiheitsverwirklichung findet in Behördenfluren wenig statt – im Klassenzimmer mag dies bereits anders sein.
Doch passt diese Argumentation zur staatlichen Neutralitätspflicht? Religiös- weltanschauliche Neutralität ist – mehr noch als eine Frage der (negativen) Religionsfreiheit –zuvörderst ein Gleichbehandlungsgebot. Dies gilt umso mehr im deutschen Verfassungsrecht, welches sich gerade nicht einer französischen laïcité, sondern einem offenen Miteinander von Staat und Kirchen verschrieben hat. Dann bekommt aber auch die Symbolverwendung ihre ganz eigene Symbolik: Allein die Tatsache, dass ein bestimmtes Symbol systematisch, flächendeckend, für alle wahrnehmbar – und im Eingangsbereich eben auch unweigerlich sichtbar – angebracht wird und dabei allein dem Staat (und nicht etwa einem Grundrechtsträger) zuzurechnen ist, bedeutet dann nicht nur eine abstrakte Verletzung von Neutralitätspflichten, sondern auch eine spürbare Benachteiligung derjeniger, die sich hier nicht angesprochen fühlen. Denn vielleicht sogar mehr noch als die einzelne Amtsstube repräsentieren das Wappenschild vor der Tür, die Beflaggung auf dem Vorplatz oder eben die Gestaltung der Eingangshalle den Staat, auch wenn die Einzelne hier nur schnell vorbeischreitet.
Ein fader Beigeschmack nach all den Kunstgriffen um das objektive und das subjektive Recht bleibt – vom Ergebnis her betrachtet – nicht zuletzt mit vergleichendem Blick auf die individuellen Glaubenssymbole. Während nach § 28 AGO in den Gebäuden auch der bayerischen Staats- und Landesanwaltschaften ein Kreuz anzubringen ist, verbietet Art. 11 Abs. 2 des Bayerischen Richter- und Staatsanwaltsgesetzes das Tragen des Kopftuchs auch bei Amtshandlungen von Staats- und Landesanwältinnen außerhalb gerichtlicher Verhandlungen. Der EuGH lässt eine solche „Neutralitätspolitik“ bei den Bekleidungsvorschriften im Einzelfall zwar bekanntlich zu. Er verlangt dabei jedoch, dass „diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird“ (siehe etwa hier in Rn. 40). Die bayerischen Regelungen erscheinen hier allenfalls in einer Weise kohärent und systematisch, die der Gerichtshof offensichtlich nicht im Sinn hatte.
Realistischer als ein Wort Luxemburgs erscheint indessen eine baldige Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit der Sache (nur bei der Klage der Religionsgemeinschaften hat der BayVGH die Revision zugelassen). Allein die Maastricht-Rechtsprechung zu Art. 38 Abs. 1 GG mag hier beweisen, dass in Karlsruhe nicht immer höchste Anforderungen an die individuelle Betroffenheit zur Begründung subjektiver Rechte gestellt werden, wenn dies den effektiven Rechtsschutz fördert. Man darf also gespannt sein.