17 February 2023

Berlin hat gewählt, doch der Senat regiert weiter

Nachdem der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin am 16. November 2022 die Wahl zum 19. Abgeordnetenhaus vom 26. September 2021 für ungültig erklärt hatte,1) durften die Berliner Wahlberechtigten am vergangenen Sonntag erneut wählen. Das vorläufige amtliche Wahlergebnis sorgt für einige Änderungen. Auf den ersten Blick lief der Wahlabend für Franziska Giffey und ihre Berliner SPD alles andere als gut: Das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten bedeutet Platz 2 hinter der CDU und nur etwa hundert Stimmen vor den Grünen. Zwar haben sich damit die Kräfteverhältnisse innerhalb der regierenden rot-grün-roten Koalition verändert, doch eine parlamentarische Mehrheit hat das Bündnis behalten. Auf den zweiten Blick könnte sowohl der besondere Charakter der Wiederholungswahl als auch die Eigenart des sogenannten „ewigen Senats“ die Regierende Bürgermeisterin vor dem Machtverlust bewahren.

Nach der Wiederholungswahl beginnt keine neue Wahlperiode

Entgegen einer offenbar verbreiteten Einschätzung beginnt mit der Wiederholungswahl – oder mit dem baldigen Zusammentritt des gewählten Abgeordnetenhauses –nämlich keine neue Wahlperiode. Vielmehr dauert die 19. Wahlperiode des Abgeordnetenhauses, die mit seinem erstmaligen Zusammentritt am 4. November 2021 begann, ununterbrochen fort. Denn die Wahlperiode endet nach Art. 54 V BerlVerf. mit dem Zusammentritt des neugewählten Abgeordnetenhauses. Nach der Wahl am vergangenen Sonntag tritt jedoch kein neugewähltes Abgeordnetenhaus zusammen, sondern die für ungültig erklärte Wahl zum 19. Berliner Abgeordnetenhaus wurde – nun hoffentlich ordnungsgemäß – wiederholt. Die Berliner Wahlberechtigten haben also kein neues 20. Abgeordnetenhaus gewählt, sondern zum zweiten (und damit wiederholten) Male das 19. Abgeordnetenhaus der laufenden Wahlperiode. Dieser Einschätzung folgt auch der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin in einer wohl klarstellenden Erläuterung in seinem Urteil: „Die Wahlperiode beginnt mit der Wiederholungswahl nicht neu.“2)

Anders als Art. 69 II GG und die Verfassung der meisten übrigen Länder kennt die Berliner Verfassung auch unabhängig von der Wiederholungswahl nicht die Verknüpfung zwischen der Wahlperiode des Parlaments und der Amtsperiode der Regierung. Daher bleibt die Regierung auch über das Ende der alten Wahlperiode hinaus nicht nur geschäftsführend, sondern regulär im Amt, bis ein neuer Regierungschef gewählt ist.3) Folglich kann von einem „ewigen Senat“ gesprochen werden, weil die Regierung auf unbestimmte Zeit gewählt ist. Dagegen wird zwar teilweise eingewendet, dass die Konstituierung einer neuen Landesregierung zu Beginn jeder Wahlperiode dem demokratisch-parlamentarischen Prinzip immanent sei.4) Allerdings ist nicht erkennbar, warum das zwingend sein soll: Auch ohne Akzessorietät der Regierungsperiode zur Wahlperiode kann eine parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung vermittelt werden. Ausschlaggebend ist, dass das neu zusammengetretene Parlament jederzeit eine neue Regierung wählen und damit das Amtsverhältnis der alten Regierung beenden kann. Folgerichtig zählt auch das BVerfG das Prinzip des Art. 69 II GG, wonach das Amt des Regierungschefs in jedem Fall mit dem Zusammentritt eines neuen Parlaments endet, nicht zu den – für die Länder nach Art. 28 I 1 GG verbindlichen – Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats.5)

Regierende Bürgermeisterin ist bis zum Ende der Wahlperiode gewählt

Wie hilft die ununterbrochene Wahlperiode nun Franziska Giffey? Zunächst hat sie ausreichend Zeit, weil sie bis zum Ende der laufenden Wahlperiode – also bis Herbst 2026 – gewählt ist. Sie muss nicht handeln, wenn sie ihr Büro im Roten Rathaus behalten möchte, sondern kann auf das Verhalten von CDU und Grünen reagieren. Bilden beide eine schwarz-grüne Koalition, ist sie machtlos. Doch andernfalls sitzt sie am längeren Hebel, weil sie sich keiner Wahl zwingend stellen muss.

Grüne oder Linke könnten freilich damit drohen, den Senat zu verlassen und Franziska Giffey mit einem Misstrauensvotum zu stürzen, wenn ihre inhaltlichen oder personellen Forderungen nicht berücksichtigt werden. Ob eine solche Drohung im Ergebnis erfolgreich wäre, kann aber bezweifelt werden. Das Misstrauensvotum ist in Berlin zwar auf den ersten Blick nicht so konstruktiv wie im Bund oder den meisten übrigen Ländern ausgestaltet. Denn nach Art. 57 II BerlVerf. kann das Abgeordnetenhaus der Regierenden Bürgermeisterin das Vertrauen entziehen, ohne unmittelbar einen Nachfolger wählen zu müssen. Überdies muss die Regierende Bürgermeisterin in der Folge gem. Art. 57 III 2 BerlVerf. sofort nach Annahme eines Misstrauensantrags zurücktreten.

Allerdings verliert das Misstrauensvotum nach Art. 57 III 3 BerlVerf. seine Wirksamkeit, wenn nicht binnen 21 Tagen eine Neuwahl erfolgt ist. Auch wenn der Wortlaut der sofortigen Rücktrittspflicht eindeutig scheint, könnte das Merkmal jedoch wohl noch wortlautkonform dahingehend ausgelegt werden, dass die Rücktrittsplicht erst unverzüglich nach der Übergangszeit bis zum Amtsantritt eines Nachfolgers besteht.6) Dafür dürfte jedenfalls der Gedanke der Handlungsfähigkeit in der Staatsleitung sprechen, dem die Berliner Verfassung in Art. 56 III 3 BerlVerf. Ausdruck verleiht. Danach ist die Regierende Bürgermeisterin verpflichtet, die Amtsgeschäfte bis zum Amtsantritt ihres Nachfolgers fortzuführen. Wenn sie die Geschäfte also ohnehin weiterführen müsste, würde ihr Rücktritt erst nach der Entscheidung, ob ein Nachfolger innerhalb von drei Wochen gewählt ist oder nicht, Sinn ergeben.

Was rechtlich möglich ist, muss politisch nicht klug sein

Rechtlich sind die Regierende Bürgermeisterin und ihr Senat demokratisch genauso hinreichend legitimiert wie jede andere Landesregierung, weil die Regierende Bürgermeisterin von den Abgeordneten der laufenden Wahlperiode gewählt ist. Eine Neubildung der Regierung ist daher verfassungsrechtlich nicht zwingend. Insofern mögen die Äußerungen der letzten Tage, die offenkundig von einer baldigen und unvermeidlichen Neuwahl eines Regierenden Bürgermeisters ausgehen, politisch verständlich sein, halten aber rechtlicher Prüfung nicht stand. Ob eine Erneuerung der Legitimation nach der Wiederholungswahl mit neuen Kräfteverhältnissen politisch klug oder sogar geboten ist, beurteilen allein die nun gewählten Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses. Für ihre Entscheidung müssen sich die Abgeordneten dann bei der nächsten Wahl 2026 vor dem Wahlvolk verantworten.

Mit Blick auf die Mitglieder des Bezirksamtes scheinen die Fraktionen über eine Neuwahl zu diskutieren, obwohl diese nach § 35 I BezVwG BE für die Dauer der Wahlperiode von der Bezirksverordnetenversammlung gewählt sind. Die Wahlperiode der Bezirksverordnetenversammlung ist nach Art. 71 BerlVerf. an die Wahlperiode des Abgeordnetenhauses geknüpft. Grundlage für die Neuregelung könnte wohl ein Antrag der CDU-Fraktion vom 18. Januar 2023 sein.7) Danach soll die aus einer Wiederholungswahl hervorgehende Bezirksverordnetenversammlung für die verbleibende Dauer der Wahlperiode eine erneute Wahl der Mitglieder des Bezirksamts vornehmen. Indes wäre näher zu untersuchen, ob sich diese Regelung schon auf die aktuelle oder nur auf zukünftige Amtsperioden der Bezirksamtsmitglieder auswirken darf.

Empfehlenswert ist allerdings eine widerspruchsfreie und ehrliche politische Kommunikation, die weder von „Wahl-Klau“ spricht, noch jemandem – wie nach der Bundestagswahl 2021 – das „moralische Recht“ zur Regierungsbildung versagt. Selbstverständlich kann auch vom zweiten Platz eine Regierung sondiert und gebildet werden. Eine Jamaika-Koalition wäre auf Bundesebene ebenso hinreichend demokratisch legitimiert wie die regierende Ampel-Koalition. Als Legitimationsquelle ist entscheidend, dass ein Regierungschef die Mehrheit hinter sich versammelt und von den Abgeordneten gewählt wird. Franziska Giffey indes wurde am 21. Dezember 2021 vom 19. Berliner Abgeordnetenhaus zur Regierenden Bürgermeisterin gewählt. Bis zu ihrem Rücktritt oder der Wahl ihres Nachfolgers regiert sie weiter.

References

References
1 VerfGH Berlin, Urt. v. 16.11.2022, VerfGH 154/21 = NVwZ 2023, 70 ff. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Urteil wurde vom BVerfG abgelehnt (BVerfG, Beschl. v. 25.01.2023, 2 BvR 2189/22); die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache steht noch aus.
2 VerfGH Berlin NVwZ 2023, 70 (88 Rn. 254).
3 Für Berlin Driehaus, in: Driehaus, BerlVerf, 4. Aufl. 2020, Art. 56 Rn. 6; Neumann, in: Pfennig/Neumann, BerlVerf, 3. Aufl. 2000, Art. 56 Rn. 2. Für Rheinland-Pfalz Gärditz, in: Brocker/Droege/Jutzi, RhPfVerf, 2014, Art. 98 Rn. 24. Allgemein Peine, Der Staat Bd. 21 (1982), 335 (338 ff.).
4 Für Rheinland-Pfalz Jutzi, in: Hufen/Jutzi/Hofmann, Landesrecht Rheinland-Pfalz, 9. Aufl. 2021, § 1 Rn. 45. Allgemein Friesenhahn, VVDStRL Bd. 16 (1957), 9 (43 f.).
5 BVerfGE 27, 44 ff.
6 So Driehaus, in: Driehaus, BerlVerf, 4. Aufl. 2020, Art. 57 Rn. 8.
7 AH-Drs. 19/0817.

SUGGESTED CITATION  Klein, Jannik: Berlin hat gewählt, doch der Senat regiert weiter, VerfBlog, 2023/2/17, https://verfassungsblog.de/berlin-hat-gewahlt-doch-der-senat-regiert-weiter/, DOI: 10.17176/20230217-233145-0.

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