Jetzt mal unter uns Deutschen
Es tut mir leid, wenn Ihnen diese Frage unangenehm ist, aber welcher Gruppe gehören Sie an? Wieso ich das überhaupt wissen will? Sie fragen mich sowas doch auch ständig. Wenn Sie diesen Text hier lesen, gehe ich davon aus, Sie sind weiß, haben studiert, sind gebildet, verdienen überdurchschnittlich gut und verfügen wahrscheinlich über einen Wohlstand, der sich seit Generationen weiterträgt. Ich nehme an, Sie sind christlich, ob aus Überzeugung oder weil es sich eben so ergeben hat, oder konfessionslos. Aus unseren User-Daten weiß ich, dass knapp zwei Drittel von Ihnen deutsch sind oder das zumindest in Deutschland lesen. Ich bitte nochmals um Entschuldigung, jetzt wird es wirklich unangenehm, aber ich muss Sie das fragen: Sind Sie Antisemit*in? Nein? Was haben denn Ihre Großeltern gemacht? Sie finden das unverschämt? Na gut, ist ja auch schon lange her. Haben Sie denn rassistische Vorurteile? Auch nicht? Das kommt mir jetzt aber doch ein bisschen komisch vor, immerhin ist gerade erst eine Studie erschienen, die belegt, dass rassistisch markierte Menschen in Deutschland häufig Diskriminierung und Rassismus erfahren. Wo kommt das denn dann her? Aber gut, ich will ja niemandem etwas unterstellen, und wenn Sie sagen, dass Sie damit nichts zu tun haben, dann wird das wohl so sein.
Ich weiß, was ich Ihnen da zugemutet habe, ist unfair und zynisch. Ich weiß aber auch, und das meine ich gar nicht zynisch: Sie können es verkraften. Als Teil der Mehrheitsgesellschaft können Sie darüber entscheiden, wie – und ob – Sie damit umgehen, wenn jemand, der einer Minderheit angehört, von Ihrer Gruppenzugehörigkeit auf Ihre vermeintliche Einstellung gegenüber jüdischen, schwarzen oder muslimischen Menschen schließt. Ihre grundsätzliche Zugehörigkeit zu diesem Staat und dieser Gesellschaft stellt das nicht in Frage. Darin können Sie sich sicher fühlen. Ich selbst habe mich eigentlich immer als Teil dieser Mehrheitsgesellschaft gesehen, auch wenn mir häufig das Gegenteil zu verstehen gegeben wurde. Vor allem im Vergleich zu dem, was zum Beispiel schwarze oder muslimische Menschen täglich erleben, hat das aber im Wesentlichen keine Rolle gespielt und nichts davon hat meinen Status als deutsche Staatsbürgerin in Frage gestellt. Zumindest in diesem bürokratischen Ausweis meiner Zugehörigkeit habe ich mich sicher gefühlt. Das ändert sich gerade.
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Rechtsradikale Netzwerke in Sicherheitsbehörden
Menschenverachtende Chatgruppen in der Polizei, Umsturzpläne von ehemaligen Elitesoldaten, rechtsextreme Richter:innen und fragwürdig assoziierte Mitarbeitende des Verfassungsschutzes. Am 23. November um 19 Uhr sprechen Stephan Anpalagan, Heike Kleffner, Sebastian Leber und Matthias Meisner in der Staatsbibliothek zu Berlin Unter den Linden über die Bedrohung der Demokratie von rechts.
Weitere Infos und Anmeldung hier.
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Prominent auf dem Spiegel-Cover wird der Bundeskanzler mit den Worten zitiert: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ Es meldet sich ein FDP-Bundestagsabgeordneter zu Wort, der möchte, dass wir darüber nachdenken, Nicht-EU-Ausländern „keine Mitbestimmung in Parteien und anderen Gremien, keine Versammlungsfreiheit“ mehr zu gewähren. Und dann fordert Wolfgang Kubicki, dass es in Städten keinen Ausländeranteil von mehr als 25 % geben solle und hält es für diskutabel, „über sozialrechtliche Mitwirkungspflichten darauf hinzuwirken, dass ein zumutbarer Wohnsitz auch angenommen wird“. Positionen, die es bislang kaum über den rechten Rand hinausgeschafft haben, scheinen sich nun in der bürgerlichen Mitte zu verfestigen. Darüber müssen wir reden, sonst bleiben immer mehr Menschen jenseits der Mehrheitsgesellschaft mit Angst zurück.
Ich will gar nicht so tun, als sei ich schrecklich unterprivilegiert oder marginalisiert. Wäre ich es, würde ich diesen Text nicht schreiben oder Sie würden ihn nicht zu lesen bekommen. Von den Merkmalen, die ich Ihnen da zugeschrieben habe, treffen so manche auf mich selbst zu. Insofern ist das hier eine Gratwanderung: Aus einer Position der Stärke schreibe ich über empfundene Vulnerabilitäten und begebe mich damit noch dazu in eine Rolle, die ich selbst überhaupt nicht spielen möchte. Warum ich es trotzdem tue? Weil ich den Eindruck habe, dass hier gerade etwas passiert, das ich zwar ganz grundsätzlich für falsch halte, das mich aber vielleicht doch persönlicher treffen kann, als die Mehrheit unter Ihnen.
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Die Bucerius Law School schreibt zum 01.04.2024 zwei Juniorprofessuren mit Tenure Track aus. Bewerbungsfrist: 30.11.2023.
Juniorprofessur für Bürgerliches Recht, insbesondere Familien- und Erbrecht (tenure track)
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Wer nicht möchte, wird diese Angst ohnehin nicht ernst nehmen, das ist mir völlig klar. Wer einer Minderheit angehört und von eigenen Diskriminierungserfahrungen spricht, wird oft genug nicht ernst genommen. Wer einer Minderheit angehört und zum Ausdruck bringt, sich von der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert, verstanden oder in diesem Land repräsentiert zu fühlen, dem wird vorgeworfen, sich zum Opfer zu stilisieren. Wenn ein weißer Mann, der der Mehrheitsgesellschaft angehört, darauf aufmerksam macht, dass die öffentliche Debatte sich gerade auf eine Weise verschiebt, die Menschen, die einer Minderheit angehören, alarmieren muss, dann ist das schrill.
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Am Lehrstuhl für Europäisches und Völkerrecht (Prof. Dr. Wolfgang Weiß) an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer ist zum 1. Februar 2024 oder nach Vereinbarung die Stelle einer/s wissenschaftliche/n Mitarbeiter/in (m/w/d) zu besetzen. Die Anstellung erfolgt auf 0,5 VZÄ-Basis, zunächst für drei Jahre.
Einstellungsvoraussetzungen:
- Juristisches Staatsexamen oder vergleichbarer Abschluss mit Schwerpunkt im Europarecht und/oder Völkerrecht
- Beherrschung der englischen Sprache in Wort und Schrift
Verantwortlichkeiten: Beteiligung an der Forschung des Lehrstuhls. Schwerpunkt auf eigener Dissertation. Mehr Informationen hier.
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Ich bin nicht einmal eingebürgert, sondern von Geburt an deutsch, eine andere Staatsbürgerschaft habe ich nicht. Mein Name und mein Aussehen lassen manche daran zweifeln und ich frage mich gerade, wann das allein ausreichen wird, um mir meine Zugehörigkeit zu diesem Staat und dieser Gesellschaft vollends abzusprechen. Ich halte das eigentlich für kaum denkbar, aber ich habe vieles für undenkbar gehalten, was in den vergangenen Wochen passiert ist. Dazu gehört, dass ich in diesem Land eine Stimmung wahrnehme, die mich dazu bringt, öffentlich mein Deutschsein zu bekräftigen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es gerade all jenen geht, die noch weniger als deutsch wahrgenommen werden oder denen der bürokratische Ausweis fehlt.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:
Taugt die öffentliche Meinung als Maßstab für Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit? Was im Grundsatz richtig sei, könne ohne Grenzziehungen missbrauchsanfällig werden schreibt JONATHAN SCHRAMM, der die Urteilsbegründung des BGH in der Sache Jens Maier kommentiert.
Die Einstellungspraxis der Thüringer Landesregierung steht in der Kritik. Thüringen sei aber kein Einzelfall meint ARMIN STEINBACH und beleuchtet die Rolle politischer Beamter an der Schnittstelle von Politik und Ministerialbürokratie.
Freispruch bleibt Freispruch: diese Woche erging das Urteil des BVerfG im Fall „Frederike von M“. JOHANNES KASPAR erklärt warum die Entscheidung, die für die Angehörigen schwer erträglich sein dürfte, trotzdem richtig ist.
Gegen die 5%-Sperrklausel bei Bundestagswahlen ist kürzlich eine Verfassungsbeschwerde eingereicht worden. HALINA WAWZYNIAK plädiert für eine Abdeckungsregel – diese würde den verfassungsrechtlichen Wahlgrundsätzen besser entsprechen.
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Umrisse eines Politischen Europa: Bestandsaufnahme von Verfassungsprozessen in Bewegung
Symposion des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität in Hagen
am 24.11.2023 und 25.11.2023
FernUniversität in Hagen und online über Zoom
Die zutreffende Beschreibung und kritische Auseinandersetzung mit der gelebten Wirklichkeit von Verfassungen hat für die Verfassungswissenschaften nicht weniger Bedeutung als die Beschäftigung mit deren normativen Aspekten. Wie steht es um die Wirklichkeit der mit den Grundlagentexten der Europäischen Union in Gang gesetzten Prozesse? Näheres hier.
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Etwa 15% der Staatenlosen Menschen in Deutschland wurden hierzulade geboren. Anlässlich der geplanten Modernisierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes plädiert PATRICK R. HOFFMANN für ein subsidiäres ius soli, um Staatenlosigkeit zu bekämpfen.
Ein Gesetzentwurf des Bundeskabinetts sieht vor, Fluchthilfe stärker zu kriminalisieren. Was das für Seenotrettung und das Recht auf Asyl bedeutet untersucht DAVID WERDERMANN.
KI-Systeme zu trainieren ist kein Kinderspiel. Doch die Art und Weise, wie KI trainiert wird, ist entscheidend, denn sie beeinflusst die Leistung der KI – z.B. wie häufig Chatbots von der Wahrheit abweichen – und wirkt sich so auf unser Leben aus. WOLFGANG SCHULZ & CHRISTIAN OLLIG meinen, dass „Hybrid Speech Governance“ der Schlüssel sein könnte, um diese Herausforderung zu bewältigen.
Der Vorschlag zur europäischen KI-Gesetzgebung befindet sich in der Endphase der Trilog-Verhandlungen. MARTIN KRETSCHMER, TOBIAS KRETSCHMER, ALEXANDER PEUKERT & CHRISTIAN PEUKERT erläutern dessen komplexe Risikohierarchie und argumentieren, dass (ex post) Haftungsregeln die richtigen Anreize zur Verbesserung der Datenqualität und der KI-Sicherheit bieten könnten.
NOAM KOZLOV zufolge scheint der Krieg in Gaza der israelischen Justizreform den Rest gegeben zu haben. Kozlov warnt jedoch, dass Populisten erneut versuchen werden, die israelische Verfassungsstruktur zu untergraben – daher plädiert er für einen „fest verankerten und vollständigen Verfassungstext“.
Am 3. Dezember soll in einem Referendum in Venezuela über die Annexion eines Gebiets namens Esequibo abgestimmt werden. Warum das nicht nur völkerrechtlich, sondern auch verfassungsrechtlich problematisch ist, erläutert ERICK GUAPIZACA.
Zuletzt: Schon im Juni hatten wir Artikel zur Frage, ob die letzte Generation eine kriminelle Vereinigung ist, in der Blogdebatte Kleben und Haften: Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise zusammengestellt. Diese Woche hinzugekommen ist ein Beitrag von PHILIPP SCHÖNBERGER & KATHARINA NAUJOKS.
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Soweit für diese Woche. Ihnen alles Gute und bis zum nächsten Mal!
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„Ich will gar nicht so tun, als sei ich schrecklich unterprivilegiert oder marginalisiert. Wäre ich es, würde ich diesen Text nicht schreiben oder Sie würden ihn nicht zu lesen bekommen. Von den Merkmalen, die ich Ihnen da zugeschrieben habe, treffen so manche auf mich selbst zu. Insofern ist das hier eine Gratwanderung: Aus einer Position der Stärke schreibe ich über empfundene Vulnerabilitäten und begebe mich damit noch dazu in eine Rolle, die ich selbst überhaupt nicht spielen möchte.“
Welche Relevanz haben denn „empfundene Vulnerabilitäten“ verfassungsrechtlich? Und wie steht es um die „empfundenen Vulnerabilitäten“ der „Mehrheitsgesellschaft“ in Hinblick auf Malmö, Molenbeek, Rotherham und diverse Banlieues in Frankreich? Und betreffen diese Befindlichkeiten nur die autochthone „Mehrheitsgesellschaft“ oder gehen diese Befindlichkeiten auch tief in migrantische Teile der Gesellschaft?
Nur eine Frage zum Textverständnis, was ist denn die sogenannte Mehrheitsgesellschaft und ab wann ist man Mitglied in dieser Mehrheitsgesellschaft?
Wenn man diese Frage stellt.
Wenn man diese Frage stellt? Ja und dann? Kurze Erklärung warum ich diese Frage stelle, da der Begriff Mehrheitsgesellschaft eng mit dem Begriff der Dominanzkultur einhergeht, nur verlangt dieser Begriff eine vielschichtige multidimensionale Betrachtungsweise einem ab und das habe ich in diesem Beitrag Ihrer Kollegin etwas vermisst. Daher die Frage was die Autorin darunter versteht?
Fürs Protokoll: Als älterer weißer Mann mit heterosexueller Orientierung (und, wenn überhaupt, allenfalls einer sehr latenten homosexuellen Orientierung) und einem Gehalt, das über dem Durchschnittsentgelt im Sinne der Anlage 1 zu SGB VI liegt, empfinde ich mich einer Minderheit zugehörig und zu Zeiten auch vulnerabel.
Ich halte solche Diskussionen für im Kern unsinnig, weil jede Person Aspekte in sich trägt, die sowohl einer
Mehrheit als auch einer Minderheit zugeschrieben werden könnten.
Welcher Position man sich dann in welchem Kontext zugehörig fühlt, ist ein Akt der willkürlichen Auswahl. Will man sich als Opfer darstellen, werden die zumeist die Minderheitsaspekte betont, weil die Minderheit häufiger pauschal als “vulnerabel” markiert wird, wie auch hier geschehen.