08 November 2023

Freispruch bleibt Freispruch

Warum das Karlsruher Urteil für die Angehörigen der Opfer schwer erträglich sein dürfte – aber trotzdem richtig ist

Die Entscheidung des 2. Senats des BVerfG ist mit Spannung erwartet worden, jetzt ist sie da: Ein rechtskräftig Freigesprochener darf auch dann nicht wieder verfolgt werden, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür ergeben, dass er wegen Mordes oder eines schweren Kriegsverbrechens verurteilt wird. Die 2021 in § 362 Nr. 5 StPO ins Gesetz geschriebene Möglichkeit, in solchen Fällen die Wiederaufnahme des Verfahrens zu betreiben, ist verfassungswidrig und nichtig. Sowohl den Grundsatz „ne bis in idem“ (Art. 103 III GG) als auch das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot sah der Senat vorliegend als verletzt an. Der Beschwerdeführer, der 1983 vom Vorwurf des Mordes an der damals 17-jährigen Frederike von M. aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde (LG Stade Urt. v. 13.05.83 – 10 Ks 12/83), bleibt also ein freier Mann, auch wenn er aufgrund neuer DNA-Analysen dringend verdächtig ist, die Tat doch begangen zu haben.

Für die Angehörigen des Mordopfers, die als Nebenklagevertreter am Prozess beteiligt waren, ist das sicher schwer erträglich, was der Senat in seiner Urteilsbegründung ausdrücklich thematisiert. Auch die Bevölkerung dürfte in weiten Teilen wenig Verständnis für diese Entscheidung haben – das Ausbleiben der gerechten Strafe wird vielen als zu hoher Preis für die Prinzipienreiterei aus Karlsruhe erscheinen. Trotzdem ist das Urteil richtig. Es überzeugt sowohl mit Blick auf das Ergebnis als auch auf die Begründung. Gut, dass Karlsruhe der Versuchung widerstanden hat, ein rechtsstaatliches Schutzinstrument mit Verweis auf angeblich zwingende Strafbedürfnisse zu schleifen. Gut, dass es die Gelegenheit genutzt hat, mit großer Klarheit auf die Wichtigkeit von unverfügbaren, abwägungsfesten Schranken des staatlichen Strafens hinzuweisen.

Ist Art. 103 III GG abwägbar?

Der Senat legt zunächst überzeugend dar, dass Art. 103 III GG nicht nur die Doppelbestrafung verbietet, sondern auch die Doppelverfolgung (Rn. 58 ff.). Aus dem Wortlaut lässt sich das zwar so nicht eindeutig entnehmen, aber die historische Auslegung spricht deutlich dafür, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes auch den Schutz des Freigesprochenen vor Augen hatten. Die Frage hatte in der mündlichen Verhandlung breiten Raum eingenommen, obwohl die nun auch vom Senat bestätigte weite Auslegung von Art. 103 III GG der fast unangefochtenen herrschenden Meinung in der strafprozessrechtlichen und verfassungsrechtlichen Literatur entspricht.

Der Kern der Entscheidung des Senats ist dann die Annahme, dass Art. 103 III GG eine „Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit“ enthalte. Das Verbot der Doppelverfolgung stehe einer Relativierung durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, so dass auch der Gesetzgeber hier keinen Gestaltungsspielraum habe (Rn. 75; ähnlich Rn. 78 und nochmals Rn. 141). Das klingt verfassungsrechtlich begründungsbedürftig, wo doch ansonsten vorbehaltlos gewährte Grundrechte wie selbstverständlich mit anderen verfassungsrechtlichen Positionen abgewogen werden können. Und in diesem Punkt ist das Urteil auch nicht einstimmig ausgefallen: Zwei Mitglieder des Senats haben in einem Sondervotum dargelegt, warum sie entgegen der Senatsmehrheit von einer Abwägbarkeit von Art. 103 III GG ausgehen. Es stehe dem Gesetzgeber offen, in gewissen Grenzen die bestehenden Wiederaufnahmegründe zu Ungunsten des Betroffenen in § 362 Nr. 1-4 StPO zu ergänzen. Die Existenz dieser Einschränkungen zeige, dass der Grundsatz ne bis in idem eben nicht absolut gelte. Art. 103 III GG sei ein vorbehaltloses Grundrecht, das als solches verfassungsimmanenten Schranken unterliege. Daher dürfe der Gesetzgeber dem staatlichen Strafanspruch zur Herstellung von Gerechtigkeit und Sicherung von Rechtsfrieden ausnahmsweise den Vorrang einräumen.

Aber das überzeugt nicht. Ne bis in idem ist ein Sonderfall und nicht mit anderen vorbehaltlos gewährten Grundrechten wie z.B. der Kunstfreiheit in Art. 5 III GG vergleichbar. Denn bei letzteren sind aufgrund ihres breiten Schutzbereichs ganz unterschiedliche Konflikte mit verfassungsrechtlichen Positionen denkbar, etwa dem Eigentumsgrundrecht in Art. 14 I GG, wenn im Namen der Kunst fremde Sachen zerstört werden. Solche (atypischen) Konflikte wurden von den Verfassungsgebern nicht bereits vorab gesehen und in den Verfassungstext aufgenommen – was eine Abwägung zur Herstellung der berühmten „praktischen Konkordanz“ erforderlich macht. Ganz anders stellt sich die Lage beim ebenfalls vorbehaltlos gewährten Justizgrundrecht in Art. 103 III GG dar: Eine Doppelverfolgung ist verboten – mit Ausnahme der zum Zeitpunkt der Schaffung des Grundgesetzes bereits existierenden einfachgesetzlichen Wiederaufnahmegründe in den § 362 Nr. 1 – Nr. 4 StPO, die man offenbar unangetastet lassen wollte. Die Senatsmehrheit weist zu Recht darauf hin, dass diese Ausnahmetatbestände eine andere Stoßrichtung haben als § 362 Nr. 5 StPO. Es geht in § 362 Nr. 1-3 StPO im Kern um Straftaten von Verfahrensbeteiligten und entsprechend „bemakelte“ Beweismittel, die keine taugliche Grundlage für ein rechtskräftiges Urteil darstellen – unabhängig von dessen inhaltlicher Richtigkeit. Und es geht um ein öffentliches Geständnis des Freigesprochenen in § 362 Nr. 4 StPO, das geradezu als Düpierung des Rechtsstaats verstanden werden kann. Hier schafft der Betroffene selbst durch einen Umstand, der aus seiner eigenen Sphäre stammt, die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme. Das ist ein bedeutsamer Unterschied zu § 362 Nr. 5 StPO, wo „neue Tatsachen und Beweismittel“ genügen, woher auch immer sie stammen.

Abgesehen von diesen anders gelagerten Ausnahmetatbeständen, die bei der Schaffung des Grundgesetzes „mitgedacht“ wurden, enthält Art. 103 III GG aber eben keine Einschränkung, keine Relativierung. Schon der Schutzbereich verbietet die erneute Verfolgung. Allein, dass man den (vielleicht) wahren Schuldigen nun doch bestraft sehen will (und auf nichts anderes läuft die vom Gesetzgeber bemühte Herstellung von Gerechtigkeit hinaus, auf die auch im Sondervotum Bezug genommen wird), sollte eben nach dem Willen der Schöpferinnen und Schöpfer des Grundgesetzes gerade kein Grund sein, rechtskräftige Urteile nochmals zu Ungunsten der Betroffenen aufzurollen. Auch bei schwersten Straftaten. Auch bei Mord. Ungerecht erscheinende Ergebnisse wurden sehenden Auges in Kauf genommen, um nicht zuletzt vor den Erfahrungen der NS-Zeit ein Bollwerk gegen die missbrauchsanfällige und eingriffsintensive Zumutung eines erneuten Strafverfahrens zu errichten. Das schützt nicht nur die wahren Täter, sondern auch diejenigen, die tatsächlich unschuldig sind und zu Recht freigesprochen wurden. Das BVerfG stellt diesen Schutz zu Recht in die Nähe der Freiheitsrechte und Menschenwürde; gerade im Bereich des Strafrechts als einem der „intensivsten Bereiche staatlicher Macht“ sei dieser besonders wichtig sei (Rn. 88).

Ein rechtsstaatlicher Meilenstein

Eine klare Absage erteilt der Senat der Argumentation, wonach sich aus den Grundrechten der Opfer und ihrer Angehöriger die Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft ergebe (Rn. 135). Denn aus der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG ergibt sich lediglich ein Anspruch darauf, dass überhaupt ermittelt und ernsthaft Strafverfolgung betrieben wird, was hier geschehen ist, inklusive Anklage und rechtskräftigem Freispruch durch die Anwendung der Regel in dubio pro reo. Einen darüber hinausgehenden verfassungsrechtlichen Anspruch von Opfern oder von deren Angehörigen, dass der „wahre“ Täter doch noch bestraft wird, gibt es dagegen nicht und kann es auch nicht geben, wenn man das Institut der Rechtskraft nicht preisgeben will. Der Senat erwähnt sogar, dass die Möglichkeit der Wiederaufnahme zu Ungunsten von Freigesprochenen auch aus Sicht der Angehörigen der Opfer kontraproduktiv sein könnte, weil sie das Abschließen mit der Tat erschweren könnte.

Einstimmig ergangen ist schließlich die Entscheidung, dass § 362 Nr. 5 StPO auch gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot verstößt, wenn man die Norm (wie im vorliegenden Fall) auf „Altfälle“ anwendet, d.h. auf Taten, die vor dem Inkrafttreten der Neuregelung begangen wurden (Rn. 142 ff.). Der Senat knüpft hier an die etablierte Unterscheidung von „echter“ und „unechter Rückwirkung“ an und sieht hier zu Recht einen Fall der echten Rückwirkung, da in einen bereits abgeschlossenen Lebenssachverhalt eingegriffen wird (Rn. 149 ff.) – die Zäsur eines rechtskräftigen Freispruchs fällt recht deutlich in diese Kategorie. Eine solche Rückwirkung ist nur ganz ausnahmsweise zulässig, u.a., wenn zwingende Belange des Gemeinwohls betroffen sind, was vom Senat aber – wiederum zu Recht – verneint wird. Auch hier kann erneut nicht erfolgreich mit dem Ruf nach „Gerechtigkeit“ argumentiert werden.

Das Urteil ist ein Meilenstein. Es erinnert daran, dass staatliche Strafe ein scharfes Schwert ist, für dessen Einsatz klare und unverfügbare Grenzen gezogen werden müssen. Wenn es wie hier um schwerste Verbrechen geht, kann jedes Ausbleiben von Strafe als unerträgliches Gerechtigkeitsdefizit bezeichnet und auf dieser Grundlage jedes rechtsstaatliche Schutzinstrument sturmreif geschossen werden. Dieser Tendenz stellt sich Karlsruhe mit seinem Urteil aus guten Gründen entgegen.

 

Der Verfasser war vom Gericht beauftragter Sachverständiger in der mündlichen Hauptverhandlung am 24.5.2023.


SUGGESTED CITATION  Kaspar, Johannes: Freispruch bleibt Freispruch: Warum das Karlsruher Urteil für die Angehörigen der Opfer schwer erträglich sein dürfte – aber trotzdem richtig ist, VerfBlog, 2023/11/08, https://verfassungsblog.de/freispruch-bleibt-freispruch/, DOI: 10.59704/b00e144886a454e4.

4 Comments

  1. Dr. Philipp Wittmann Wed 8 Nov 2023 at 12:42 - Reply

    Ein wirklich erfrischen klarer Beitrag, der uneingeschränkt Zustimmung verdient.

    Bemerkenswert erscheint mir allerdings, dass die – nunmehr erfreulich klar entschiedene – Rechtsfrage angesichts von Wortlaut und Entstehungsgeschichte überhaupt ernstlich streitig sein konnte. Es zeigt um so stärker auf, dass die auch andernorts viel zu leichtfertig bemühte Formel von den “verfassungsimmanenten Schranken” bzw. der “praktischen Konkordanz” der klareren dogmatischen Konturierung bzw. Einhegung bedarf.

    • cornelia gliem Wed 8 Nov 2023 at 16:01 - Reply

      korrekt. es zeigt meines Erachtens aber auch, wie wenig Justiz-Grundwissen in der Öffentlichkeit vorhanden ist.