Eine verpasste Chance
Das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 15. November 2023 – 2 BvF 1/11) erweist der politischen Handlungsfähigkeit und der Generationengerechtigkeit einen Bärendienst. In enger Auslegung der Haushaltsverfassung schränkt es die Möglichkeitsräume langfristig ausgerichteter Politik ein, ohne einen Kompromissweg vorzuzeichnen. Die Richterinnen und Richter haben die Chance verpasst, die haushaltsverfassungsrechtliche Dogmatik in Anknüpfung an den Klimabeschluss (BVerfG, Beschluss vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18) – wohlgemerkt des Ersten Senats – fortzuentwickeln und Leitplanken für das Verhältnis von Klimaschutz und Haushaltsverfassung zu formulieren. Das Urteil lässt sowohl Fingerspitzengefühl als auch Weitsicht vermissen, die ein so sensibles Thema wie die Generationengerechtigkeit im Gesamtgefüge verfassungsrechtlicher Normen insbesondere in von Umbrüchen geprägten Krisenzeiten erfordert.
Eine andere Bewertung wäre möglich gewesen
Der Senat hat entschieden, dass das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 verfassungswidrig und nichtig ist. Er liefert hierfür eine Begründung, die wesentlich auf drei Säulen aufbaut. Erstens: Der Gesetzgeber habe den sachlichen Veranlassungszusammenhang zwischen der außergewöhnlichen Notsituation, nämlich der COVID19-Pandemie, und den Krisenbewältigungsmaßnahmen nicht ausreichend dargelegt (Rn. 195 ff.). Zweitens: Die zeitlich verschobene Nutzung von notlagenbedingten Kreditermächtigungen in späteren Haushaltsjahren widerspreche der Jährlichkeit und Jährigkeit (Rn. 206 ff.). Sie wirft dem Haushaltsgesetzgeber einen logischen Bruch vor, wenn er in einer Notsituation im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen Schulden aufnimmt und diese später in ein Sondervermögen verschiebt, das definitorisch nicht der Schuldenbremse unterfällt. Drittens: Eine rückwirkende Verabschiedung des Nachtragshaushaltes für ein abgeschlossenes Haushaltsjahr verstoße gegen den Grundsatz der Vorherigkeit (Rn. 213 ff.).
Die Begründungselemente wären einer anderen Bewertung zugänglich gewesen. Das zeigt die Kommentierung der hier in Streit stehenden Punkte und ist an anderer Stelle bereits angesprochen worden (zur dogmatischen Analyse des Urteils: Meickmann, Das Ende der Großzügigkeit).
Kurzsichtiger Formalismus
Das Bundesverfassungsgericht hat die Grenzen der haushalterischen Handlungsspielräume eng definiert. Dass der Senat der haushaltsübergreifenden Verschiebung der Kreditermächtigungen in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) einen Riegel vorgeschoben hat, zwingt das Parlament dazu, auch in jahresübergreifenden Krisen jährlich neu über das Vorliegen einer Notlage zu befinden.
Die Argumentation anhand der Haushaltsprinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit bleibt mit ihrem formalistischen Blick in Momentaufnahmen verhaftet und entwickelt keine Mittel- und Langfristperspektive. Das zeigt sich exemplarisch in der Feststellung des Gerichts, dass Planungssicherheit für private Investitionen durch jährlich wiederholte Feststellung der Krisensituation hergestellt werden könne (vgl. Rn. 212). Wie aus der ergebnisoffenen Prüfung einer Notlage durch das Parlament finanzielle Planungssicherheit über das Haushaltsjahr hinaus entstehen soll, ist allerdings schleierhaft. Das Gegenteil ist der Fall.
Allerdings korrespondiert diese Passage wohl mit einem Verständnis von Krisenbewältigung, das in den Ausführungen zum „sachlichen Veranlassungszusammenhang“ und in der dem Gesetzgeber diesbezüglich auferlegten Darlegungslast anklingt (Rn. 125 ff.). Danach sind Kredite für „allgemeinpolitische Maßnahmen, die allenfalls anlässlich […] des Aussetzens der Schuldenbremse ergriffen werden, aber nicht auf die Überwindung der Krisensituation zielen“ (Rn. 133) nicht erfasst. Krisenbewältigung ist nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts wohl primär eine Rückkehr zum status quo ante. Darüberhinausgehende Maßnahmen, die das Fundament der Wirtschaft strukturell resilienter machen, sind jedenfalls aufgrund der hohen Darlegungslast des Gesetzgebers mit enormen Unsicherheiten behaftet. Gerade bei komplexen, sich fortentwickelnden Krisen ist die Darlegung des sachlichen Veranlassungszusammenhangs in der vom Senat geforderten Tiefe häufig nicht möglich. Immerhin begegnet das Gericht dieser Herausforderung mit einer „Je-desto-Formel“ (Rn. 138) und stellt hierdurch ein abgestuftes Konzept der jeweils anzulegenden Darlegungslasten in Abhängigkeit der zeitlichen Entfernung zum ursprünglichen Krisenereignis auf. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Veranlassungszusammenhang zwischen der konkreten Krisensituation und allgemeinpolitischen Maßnahmen, die auf eine generelle Erhöhung der Resilienz zielen, immer mittelbar bleibt. In diesem Punkt bleibt wohl die künftige konkrete Handhabung der Darlegungslast abzuwarten, um beurteilen zu können, inwieweit sie die Verlässlichkeit der Finanzierung von Maßnahmen beeinträchtigt, die auch allgemeinpolitische Zwecke verfolgen. Unabhängig von dieser Frage bleibt es letztlich bei dem Befund, dass in Anbetracht der streng angelegten Maßstäbe der Periodizität und des Veranlassungszusammenhangs die finanzielle Planungssicherheit Schaden genommen hat, die für das Gelingen der Transformationsprozesse in Unternehmen und privaten Haushalten praktisch notwendig ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht dazu durchringen können, die Periodizität des Haushaltsrechts situationsbedingt auszulegen. Dabei folgen Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen keiner kalendarischen Logik. Die daraus folgende Unsicherheit der Finanzierung von Krisenbewältigungsmaßnahmen steht im Widerspruch zur stabilisierenden Funktion, die die Ausnahmeregelung von der Schuldenbremse haben soll.
Klimaschutz als Ausnahme von der Schuldenbremse?
Die Bedeutung des Urteils geht über den konkreten Fall hinaus. Es enthält Hinweise darauf, wie das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeiten der Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen haushaltsverfassungsrechtlich einordnet. Die Prüfungsmaßstäbe weisen darauf hin, dass der Klimawandel nach Ansicht des Gerichts kein Umstand ist, der den Tatbestand der Ausnahmeregelung (Art. 115 Abs. 2 S. 6-8 GG) erfüllt. Denn sowohl die Naturkatastrophe als auch die außergewöhnliche Notsituation weisen nach der Auslegung des Senats das Element eines singulären Ereignisses auf. Eine Beschreibung, die auf den stetig fortschreitenden Klimawandel nicht zutrifft.
Der Begriff der Naturkatastrophe umfasse „unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse ausgelöst werden, wie etwa Erdbeben, Hochwasser, Unwetter, Dürre oder Massenerkrankungen“ (Rn. 103). Die außergewöhnliche Notsituation sei weiter gefasst und meine bei deren haushaltsrechtlicher Relevanz neben besonders schweren Unglückfällen (beispielsweise Flugzeugunglücke oder Kernkraftunfälle; hierzu Rn. 104) auch „außergewöhnliche Störungen der Wirtschafts- und Finanzlage“ (Rn. 106). Sie müsse allerdings auf plötzlichen Beeinträchtigungen der Wirtschaftsabläufe in einem extremen Ausmaß aufgrund eines exogenen Schocks beruhen, falls deshalb aus Gründen des Gemeinwohls aktive Stützungsmaßnahmen des Staates zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Wirtschaftsabläufe geboten seien (ebd.). Das Gericht betrachtet dies wohl als notwendiges Abgrenzungskriterium zwischen Konjunkturkomponente (Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG) und Ausnahmeregelung (Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG). Diese Abgrenzungsproblematik stellt sich mit Bezug auf den Klimawandel jedoch nicht. Denn seine wirtschaftlichen Auswirkungen verlaufen nicht zyklisch. Sie betreffen viel grundlegendere Fragen als bloße Konjunkturverläufe.
Im Ergebnis bedeutet dies aber wohl, dass der Zweite Senat keinen Raum für die Schuldenfinanzierung von Klimaschutzmaßnahmen sieht. Eine entsprechende vollumfängliche Prüfung der geschriebenen Tatbestandvoraussetzung der Ausnahmevorschrift des Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG behält sich das Gericht jedenfalls ausdrücklich vor (Rn. 116). Praktisch bedeutet eine solche Auslegung, dass Kreditmittel erst dann eingesetzt werden könnten, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen wäre. Fluthilfen ja, Investitionen in den Umbau der Wirtschaft zur Verhinderung der Flut nein.
Verkürzter Blick auf die Generationengerechtigkeit
Offensichtlich sieht das Bundesverfassungsgericht die Haushaltsverfassung als abgeschlossenes Wertungssystem an. Danach hat der Verfassungsgeber die Generationengerechtigkeit für das Haushaltsrecht und insbesondere die Staatsverschuldung abschließend und formal geregelt.
Genau dieses Verständnis von Generationengerechtigkeit ist verkürzt. Er betrifft lediglich einen Teilaspekt generationengerechter Politik. Solide staatliche Finanzen sichern Handlungsfähigkeit in der Zukunft, ja. Aber sie stehen eben nicht allein und absolut für eine generationengerechte Politik, wie spätestens der Klimabeschluss gezeigt hat. Der Senat hätte Gelegenheit gehabt, sich unter dessen Eindruck tiefgehend mit der Frage zu beschäftigen, inwieweit die verschiedenen Regelungen des Grundgesetzes, die jeweils Teilbereiche der Generationengerechtigkeit ansprechen, in Wechselwirkung stehen. Stattdessen argumentiert er einseitig zugunsten eines formalen, an Haushaltsgrundsätzen orientierten Verständnisses der Generationengerechtigkeit.
Allerdings ist zu beachten, dass das Pariser Klimaschutzabkommen die intertemporalen Freiheitsrechte künftiger Generationen materiell konkretisiert und ihre Beachtung durch konsequente Maßnahmen im Bereich des Klimaschutzes nicht im Ermessen der politischen Handlungsverantwortlichen stehen (vgl. Wieland, Klimakrise und Schuldenbremse). Der daraus folgende verfassungsrechtlich definierte Abwägungsposten der Generationengerechtigkeit spielt im Urteil zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 keine Rolle.
Der Spielraum für eine entsprechende Auslegung ergibt sich aber auch aus zwei Aspekten der Gesetzesbegründung: Erstens ist die Ausnahmeklausel nicht zwingend auf einmalige Ereignisse beschränkt, sondern grundsätzlich sind auch langfristige Finanzbedarfe als Anwendungsfall denkbar. Die Gesetzesbegründung benennt Ereignisse von positiver historischer Tragweite als Anwendungsfall des Ausnahmetatbestandes (BT-Drs. 16/12410, S. 11). Es ist insofern nicht von vornherein ausgeschlossen, auch den Klimawandel bzw. den Übergang in die Klimaneutralität als Ausnahmetatbestand zu begreifen. Zwar heißt es in der Begründung, dass ein historisches Ereignis den Finanzbedarf „auslöst“ (ebd.). Bei Wortlautauslegung könnte man auf die Idee kommen, dieses Ereignis müsse auf der Zeitachse vor dem ausgelösten Finanzbedarf stehen. Das halte ich indes nicht für zwingend. Das ergibt sich aus einem weiteren Aspekt der Gesetzesbegründung: Die Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage kann auch durch „etwaige vorbeugende Maßnahmen“ (ebd.) entstehen. Wenn die Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation aber nur in einer kurzfristigen Entwicklung und einem einmaligen Ereignis liegen könnte, wie das Gericht annimmt (vgl. Rn. 109), so stellt sich die Frage, wie in einer solchen Lage überhaupt noch vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden sollten, die einerseits einen derartigen Finanzbedarf auslösen und andererseits praktisch noch umsetzbar sind.
Fazit
Das Bundesverfassungsgericht hat die haushaltsverfassungsrechtlichen Gestaltungsspielräume eng gezogen. Insofern liegt darin tatsächlich ein „Ende der Großzügigkeit“ (vgl. Meickmann, aaO). Das erschwert eine verlässliche Krisenpolitik. Es wäre im Sinne der politischen Handlungsfähigkeit des Staates sinnvoller gewesen, die Haushaltsgrundsätze krisenspezifisch auszulegen. Damit korrespondierend hätte die gerichtliche Kontrolldichte des Veranlassungszusammenhangs im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung erhöht werden können. Auf diese Weise wäre dem erhöhten exekutiven Spielraum, dessen es zur verlässlichen Krisenpolitik bedarf, wiederum ein Korrektiv gesetzt worden. Wenn in dieser Debatte von der „Repolitisierung des Politischen“ (Schwarz, Die Repolitisierung des Politischen) die Rede ist, wird man doch eher konstatieren müssen, dass das Urteil Ausdruck der Verrechtlichung von Politik ist und demokratische Spielräume verengt, anstatt sie zu weiten.
Über den konkreten Fall hinaus hätte es einer umfassenderen Maßstabsbildung bedurft, die die verschiedenen Perspektiven der Generationengerechtigkeit einbezieht. Der Freiheitsvoraussetzungsschutz, wie er im Klimabeschluss angeklungen ist, hat im hiesigen Urteil keinen Niederschlag gefunden. Wünschenswert wäre gewesen, dass die Richterinnen und Richter des Zweiten Senats die haushaltsverfassungsrechtliche Dogmatik mit Blick auf den intertemporalen Freiheitsschutz weiterentwickelt hätten.
Dazu hätte es einer Auseinandersetzung mit der Frage bedurft, inwieweit die Logik der Schuldenbremse auf den klimapolitischen Aspekt von Generationengerechtigkeit anwendbar ist. Diese Logik sieht in Verschuldung lediglich einen Eingriff in die Rechte künftiger Generationen. Sie kann aber – in Abhängigkeit ihrer Verwendung – die Rechte künftiger Generationen gerade schützen. Diese Chance, das Verhältnis von Klimaschutz und Haushaltsverfassung grundlegend und zukunftsgerichtet zu bestimmen, haben die Richterinnen und Richter des Zweiten Senats vertan.
Der Beitrag ist ein gutes Beispiel dafür, dass dem juristischen Nachwuchs mehr Substanz und weniger Ideologie gut zu Gesicht stehen würde.
Bestes Beispiel, stellvertretend für den ganzen Text: „In enger Auslegung der Haushaltsverfassung schränkt es die Möglichkeitsräume langfristig ausgerichteter Politik ein, ohne einen Kompromissweg vorzuzeichnen.“
1. Die vermeintlich „enge Auslegung“ der (Haushalts-)Verfassung kann man dem BVerfG nicht ernstlich vorwerfen. Das ist sein Job.
2. Einen „Kompromissweg vorzuzeichnen“ gehört selbstredend nicht zur verfassungsgerichtlichen Aufgabenbeschreibung.
1. Die “enge Auslegung” der (Haushalts-)Verfassung ist keineswegs der “Job” des Bundesverfassungsgerichts. Es hat die Verfassung schlicht auszulegen. Dabei spricht die Demokratie und etwa der Topos des Budgetrechts des Parlaments eher gegen die verfassungsrechtliche Engführung.
2. Wenn die Verfassung eine des Ausgleichs verschiedener Zielkonflikte ist und das BVerfG “praktische Konkordanz” herzustellen hat, zeichnet es selbstverständlich den Kompromissweg vor – zumindest im Wege der Rahmensetzung.
Es stünde Ihnen, “Thomas von Kemmerich”, gut zu Gesicht, nicht mit sporadischen Kenntnissen dermaßen herumzupoltern.
Interessant, dass Sie 1. eine “Verrechtlichung der Politik” und 2. “Kurzsichtigkeit” konstatieren. M.E. ist beides gerade nicht der Fall.
Zu 1.: Der Zweite Senat hat die Regeln, die der verfassungsändernde Gesetzgeber selbst, also “die Politik”, seinerzeit eingeführt hat, ernst genommen und scharf gestellt. Genau das implizieren Sie ja auch selbst, wenn Sie dem Zweiten Senat etwas despektierlich “Formalismus” attestieren. Wenn jetzt der Zweite Senat anders als der Erste Senat mit seinem Klimabeschluss nicht neue Rechtsfiguren (er)findet, sondern den Verfassungstext ernst nimmt, kann man aber wohl kaum von “Verrechtlichung von Politik” sprechen. Im Gegenteil wird hier der getroffenen verfassungpolitischen Entscheidung zu ihrem Recht verholfen anstatt ergebnisorientiert die Regierungslinie verfassungsrechtlich zu flankieren.
Zudem scheinen Sie sich auch selbst zu widersprechen. Sie diagnostizieren eine Verrechtlichung von Politik. Ihr Therapievorschlag ist dann aber – eine höhere (!) gerichtliche Kontrolldichte. Gerade Ihre vorgeschlagene “zukunftsgerichtete” Auslegung hätte aber die Grundsatzentscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers konterkariert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie in der Entscheidung eine “Verrechtlichung von Politik” gerade deshalb sehen, weil sie nicht das richtige Ergebnis hat.
Zu 2.: Die Entscheidung trägt dem damaligen Ziel des verfassungsändernden Gesetzgebers Rechnung: es soll gerade ein langfristiges und nachhaltiges (!) Haushalten angesichts in der Demokratie strukturell wirkmächtigeren kurzfristigen Handlungszusammenhänge gewährleistet werden. Genau in diesem Sinne wurde hier konkret dafür gesorgt, dass die Ampelkoalition die Unvereinbarkeit ihrer miteinander unvereinbaren Herzensanliegen (gleichzeitig keine höheren Steuern, höhere Sozialausgaben, massive Staatsaktivität im Sinne des Klimaschutzes) nicht auf Kosten haushalterischer Nachhaltigkeit durch Schulden auf Vorrat kaschieren kann, um kein politisches Kapital einsetzen zu müssen.
Die Entscheidung verhindert im Übrigen auch keinerlei von Verfassungs wegen zu erbringenden Transformationsleistungen im Hinblick auf die Klimakrise, ebensowenig diejenigen, die konkret im EKF vorgesehen waren. Die Transformation muss sich aber eben im Rahmen des Finanzverfassungsrechts halten. Wenn man der Meinung ist, dass dies mit Steuererhöhungen oder Ausgabenpriorisierungen nicht möglich ist, muss man aber offen und transparent für entsprechende verfassungsändernde Mehrheiten werben. Alles andere leistet gerade einer “Verrechtlichung von Politik” vorschub.
Und das Beste: Die „Investitionen“ in den Klimaschutz lösen das Haushaltsproblem selbst. Bundeskanzler Scholz („Doppelwumms“, „Bazooka“): „Viele haben sich längst auf den Weg der Transformation gemacht. Uns könnte eine große Wachstums- und Investitionsphase bevorstehen, wie wir sie aus den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kennen. Der Bundestag wird die nötigen Gesetze auf den Weg bringen; wichtig ist, dass die Unternehmen die Wachstumschancen erkennen.“ (https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/interview-handelsblatt-2171862).
Bei einem Wirtschaftswachstum wie in den den 50er und 60er Jahren nimmt die Verschuldung im Verhältnis zum BIP rasant ab und die Steuereinnahmen sprudeln wachstumsinduziert wie noch nie. Das Problemdreieck aus „Investitionen“ in den sozialen Zusammenhalt, „Investitionen“ in den Klimaschutz und Staatsverschuldung löst sich quasi wie von selbst auf . Probleme mit der Staatsverschuldung wie in Griechenland und Argentinien sind nicht zu besorgen. Das sind Aussichten auf wahrhaft glorreiche Zeiten.
Mir ist schlicht unklar, wie man Periodizität des Haushaltsrechts “situationsbedingt” (sprich: dynamisch, also das genaue Gegenteil) auslegen können soll, ohne das Haushaltsrecht in Gänze, über das seit vielen Jahrzehnten ein ziemlicher Konsens besteht, zu ignorieren. Der Umstand, dass Naturkatastrophen keiner kalendarischen Logik folgen, mag zutreffen; doch ist es Sache des Haushaltsgesetzgebers, mit diesem Umstand im Rahmen des Haushaltsrechts angemessen umzugehen. Wenn der Verfassungsgesetzgeber die verfassungsrechtlich gegebenen Haushaltsinstrumente für unzureichend findet, muss er sie anpassen – nicht aber das Bundesverfassungsgericht kreative Umgehungslösungen absegnen, für die es keine entsprechende parlamentarische 2/3-Mehrheit gibt. Die Außergewöhnlichkeit der Situation hier mag ich auch nicht erkennen. Die Krisen der Vergangenheit, denen sich auch das Haushaltsrecht stellen musste, waren vielfältiger und schwerwiegender als die als Beispiele angeführten Fluten oder Flugzeugunfälle, ob man sich nun den Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg, Ölkrise oder andere langfristige und tiefschürfende Beispiele ansieht, die dennoch im Grundsatz nicht dazu führten, diese Prinzipien aufweichen zu müssen. Aufgrund des vorkonstitutionellen Bestehens des Haushaltsrechts kann man in vorherigen Perioden sogar Kriegszeiten miteinbeziehen.
Ich sehe auch nicht, dass es Sache des Bundesverfassungsgerichts ist, von sich aus die rechtfertigende Notlage substantiiert vorzutragen. Das ist die Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers. Auch finde ich es schwierig, ins Haushaltsrecht nun mit anderen verfassungsrechtlichen Aspekten einwirken zu wollen. Mit diesem argumentativen Vehikel ließe sich eine Schuldenrechtfertigung für so ziemlich jeden Bereich der Tätigkeit der öffentlichen Hand herstellen. Die Finanzverfassung mit dem Grundsatz, dass der Haushalt ausgeglichen zu sein hat, ist aber kein für sich genommen abwägungsfähiges verfassungsrechtliches Gut, sondern schlicht eine ordnender, rahmengebender Bestandteil der Verfassung, in dessen Grenzen sich die Güterabwägungen dann bewegen. Darüber kann auch nicht die Hinzunahme weiterer mittelbarer Argumente wie aus dem Pariser Abkommen hinweghelfen. Einen solchen behaupteten Zielkonflikt (den ich nicht erkennen mag) zu lösen, ist allenfalls Aufgabe des Verfassungsgebers, nicht der verfassungsrichterlichen Auslegung.
Das jetzige Haushaltsverfassungsrecht ist insofern eindeutig. Raum für “krisenspezifische” Auslegungen schafft schlicht nur den Raum zur Aushöhung und völligen Aussetzung dessen, was die Verfassung als Rahmen der politischen Tätigkeit vorsieht. Wenn man darin einen Konflikt erkennen will, ist das eine politische Frage, die entsprechende verfassungsändernde Mehrheiten braucht. Warum hier das Bundesverfassungsgericht im Wege einer extrem ausschweifenden Auslegung selbst Politik machen soll, für die es im Bundestag und damit mittelbar auch beim Souverän keine Mehrheiten gibt, erschließt sich mir nicht. Es ist Aufgabe der Regierung und des Parlaments, hier Lösungen zu finden, was zunächst einmal in der Priorisierung der Aufgaben zu sehen wäre. Wenn die Politik sich aber nicht zu einer solchen durchringen kann, ist es nicht Aufgabe der Rechtsprechung, weitere Spielräume hinzuzuerfinden, sondern dann muss sich die Politik halt von einigen geliebten Projekten etwa im Sozial- oder Gesellschaftsbereich, von denen es viele gibt, trennen.
Aus diesem Grunde widerspreche ich auch vehement, dass das Gericht durch dieses Urteil Politik verrechtlicht und demokratische Spielräume verenge. Den demokratischen Spielraum schafft die Verfassung selbst, nicht irgendwelche außerverfassungsrechtlichen, politischen Notwendigkeiten. Insofern wird im Fazit einer Politisierung des Verfassungsrechts das Wort geredet, wovon sehr dringend abzuraten ist. Denn mit demselben Argument könnte man künftig auch aus Gründen der Generationengerechtigkeit alle anderen lediglich “ordnenden” Normen des GG einer “krisenspezifischen” Auslegung oder Abwägung zuführen. Als Beispiel: Bedarf es für eine verfassungsändernde Klimaschutzmaßnahme wirklich der verfassungsändernden Mehrheit aus Art. 79 II GG? Hier könnte man ja folglich auch “krisenspezifisch” eine Not-kennt-kein-Gebot-Auslegung betreiben und einfach sagen, das BVerfG müsse die 2/3 doch einfach nur “generationengerecht” auslegen bzw. diese Unbedingtheit dieser Norm mit dem Klimaschutzinteresse abwägen. Das kann nicht richtig sein.
Den Beitrag kann man wohl als Plädoyer für ein Kippen der Schuldenbremse für das – weitestgehend unstreitige Problem – des Klimawandels verstehen. Dennoch wird bereits einleitend deutlich, dass dem Beitrag eine gewisse Ferne zur politischen Praxis innewohnt. Politische Handlungsfähigkeit kann und darf nicht bedeuten, die eigenen politischen Ideen durch unbegrenzte finanzielle Mittel (Schulden) durchzusetzen. Insofern schränkt dieser Beschluss nicht die politische Handlungsfähigkeit ein, sondern fordert diese gerade. Dies bedeutet in der Praxis Diskussionen darüber zu führen, was priorisiert werden muss. Dies bringt mich zum zweiten Punkt, dem Argument der Langfristigkeit und Generationengerechtigkeit. Es ist zutreffend, dass gerade dem Klimawandel hinsichtlich seiner Folgen eine Generationenungerechtigkeit innewohnt. Daraus abzuleiten, es sei generationengerecht umfassende finanzielle Mittel aufzuwenden, um – in seiner Wirkung oftmals höchst ineffektive Maßnahmen – umzusetzen ist meines Erachtens ein Trugschluss. Denn auch in Zukunft werden sich fortlaufend neue Problemstellungen für die Gesellschaft ergeben, die intuitiv mit Schulden gelöst werden können. Vielmehr wäre es anmaßend zu behaupten, die aktuelle Politikergeneration kenne die (sic!) Lösung für langfristige politische Probleme. Dies wäre jedenfalls ein historisch wohl einmaliger Zufall. Eine unbegrenzte Schuldenaufnahme ist also, wie bereits angeklungen, weder generationengerecht, noch langfristig. Insofern gilt vielmehr: Mut zur Priorisierung – Wie diese dann aussieht, ist Sache der politischen Praxis. Um diesem zu entfliehen sollte es jedoch keine Verfassungsänderung geben.
Zur Anregung folgende Gegenfrage: Wie wäre die Abschaffung der Schuldenbremse zu beurteilen, wenn nicht der Klimawandel bekämpft werden soll, sondern es politische Mehrheitsverhältnisse gibt, die unbegrenzte Mittel zur Migrationseindämmung einsetzen wollen?
Der Beitrag wirft (ggf. ohne Intention) eine der Grundfragen des Rechts und der Rechtswirklichkeit auf: Was nämlich ist die Funktion von Recht und insbesondere von Verfassungsrecht?
Das Bundesverfassungsgericht sieht sich regelmäßig der Kritik ausgesetzt, an alten Maßstäben festzuhalten, verschiedene Modelle und Theorien, die etwa in der juristischen Literatur entwickelt wurden nicht hinreichend einzubeziehen oder (wie hier) “formalistisch” zu agieren.
Diese Kritik ist sicherlich berechtigt, wenn man die Aufgabe bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung in der Begleitung und juristischer Erklärung (bzw. Ermöglichung) gegenwärtiger politischer Prozesse betrachtet. Die ureigenste Aufgabe des Rechts ist aber weniger die Erklärung denn die Regelung und Begrenzung politischer Vorgänge.
Von der Rechtsprechung zu fordern, Umstände in die Rechtsprechung miteinzubeziehen, die der jeweilige Gesetztgeber (bewusst?) nicht miteinbezogen hat, stellt das Demokratieprinzip viel mehr in Frage als dass es dies fördert: Will eine verfassungsändernde Mehrheit Klimainvestitionen von der Schuldenbremse ausnehmen steht ihr eine solche Änderung wohl frei. Nimmt das Gericht eine solche Ausnahme qua Urteil vor, nimmt sie dem (hierzu berufenem) verfassungsändernden Gesetzgeber die Möglichkeit, eine solche Änderung selbstbestimmt zu gestalten.
Im Ergebnis hat das Gericht als weniger eine Chance verpasst, als der Politik und dem gewählten Parlament eine Chance zu einer möglichen (bewussten) Entscheidung über die Anpassung des (Krisen-)Haushaltsverfassungsrechts gewährt.