Eine verpasste Chance
Das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 15. November 2023 – 2 BvF 1/11) erweist der politischen Handlungsfähigkeit und der Generationengerechtigkeit einen Bärendienst. In enger Auslegung der Haushaltsverfassung schränkt es die Möglichkeitsräume langfristig ausgerichteter Politik ein, ohne einen Kompromissweg vorzuzeichnen. Die Richterinnen und Richter haben die Chance verpasst, die haushaltsverfassungsrechtliche Dogmatik in Anknüpfung an den Klimabeschluss (BVerfG, Beschluss vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18) – wohlgemerkt des Ersten Senats – fortzuentwickeln und Leitplanken für das Verhältnis von Klimaschutz und Haushaltsverfassung zu formulieren. Das Urteil lässt sowohl Fingerspitzengefühl als auch Weitsicht vermissen, die ein so sensibles Thema wie die Generationengerechtigkeit im Gesamtgefüge verfassungsrechtlicher Normen insbesondere in von Umbrüchen geprägten Krisenzeiten erfordert.
Eine andere Bewertung wäre möglich gewesen
Der Senat hat entschieden, dass das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 verfassungswidrig und nichtig ist. Er liefert hierfür eine Begründung, die wesentlich auf drei Säulen aufbaut. Erstens: Der Gesetzgeber habe den sachlichen Veranlassungszusammenhang zwischen der außergewöhnlichen Notsituation, nämlich der COVID19-Pandemie, und den Krisenbewältigungsmaßnahmen nicht ausreichend dargelegt (Rn. 195 ff.). Zweitens: Die zeitlich verschobene Nutzung von notlagenbedingten Kreditermächtigungen in späteren Haushaltsjahren widerspreche der Jährlichkeit und Jährigkeit (Rn. 206 ff.). Sie wirft dem Haushaltsgesetzgeber einen logischen Bruch vor, wenn er in einer Notsituation im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen Schulden aufnimmt und diese später in ein Sondervermögen verschiebt, das definitorisch nicht der Schuldenbremse unterfällt. Drittens: Eine rückwirkende Verabschiedung des Nachtragshaushaltes für ein abgeschlossenes Haushaltsjahr verstoße gegen den Grundsatz der Vorherigkeit (Rn. 213 ff.).
Die Begründungselemente wären einer anderen Bewertung zugänglich gewesen. Das zeigt die Kommentierung der hier in Streit stehenden Punkte und ist an anderer Stelle bereits angesprochen worden (zur dogmatischen Analyse des Urteils: Meickmann, Das Ende der Großzügigkeit).
Kurzsichtiger Formalismus
Das Bundesverfassungsgericht hat die Grenzen der haushalterischen Handlungsspielräume eng definiert. Dass der Senat der haushaltsübergreifenden Verschiebung der Kreditermächtigungen in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) einen Riegel vorgeschoben hat, zwingt das Parlament dazu, auch in jahresübergreifenden Krisen jährlich neu über das Vorliegen einer Notlage zu befinden.
Die Argumentation anhand der Haushaltsprinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit bleibt mit ihrem formalistischen Blick in Momentaufnahmen verhaftet und entwickelt keine Mittel- und Langfristperspektive. Das zeigt sich exemplarisch in der Feststellung des Gerichts, dass Planungssicherheit für private Investitionen durch jährlich wiederholte Feststellung der Krisensituation hergestellt werden könne (vgl. Rn. 212). Wie aus der ergebnisoffenen Prüfung einer Notlage durch das Parlament finanzielle Planungssicherheit über das Haushaltsjahr hinaus entstehen soll, ist allerdings schleierhaft. Das Gegenteil ist der Fall.
Allerdings korrespondiert diese Passage wohl mit einem Verständnis von Krisenbewältigung, das in den Ausführungen zum „sachlichen Veranlassungszusammenhang“ und in der dem Gesetzgeber diesbezüglich auferlegten Darlegungslast anklingt (Rn. 125 ff.). Danach sind Kredite für „allgemeinpolitische Maßnahmen, die allenfalls anlässlich […] des Aussetzens der Schuldenbremse ergriffen werden, aber nicht auf die Überwindung der Krisensituation zielen“ (Rn. 133) nicht erfasst. Krisenbewältigung ist nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts wohl primär eine Rückkehr zum status quo ante. Darüberhinausgehende Maßnahmen, die das Fundament der Wirtschaft strukturell resilienter machen, sind jedenfalls aufgrund der hohen Darlegungslast des Gesetzgebers mit enormen Unsicherheiten behaftet. Gerade bei komplexen, sich fortentwickelnden Krisen ist die Darlegung des sachlichen Veranlassungszusammenhangs in der vom Senat geforderten Tiefe häufig nicht möglich. Immerhin begegnet das Gericht dieser Herausforderung mit einer „Je-desto-Formel“ (Rn. 138) und stellt hierdurch ein abgestuftes Konzept der jeweils anzulegenden Darlegungslasten in Abhängigkeit der zeitlichen Entfernung zum ursprünglichen Krisenereignis auf. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Veranlassungszusammenhang zwischen der konkreten Krisensituation und allgemeinpolitischen Maßnahmen, die auf eine generelle Erhöhung der Resilienz zielen, immer mittelbar bleibt. In diesem Punkt bleibt wohl die künftige konkrete Handhabung der Darlegungslast abzuwarten, um beurteilen zu können, inwieweit sie die Verlässlichkeit der Finanzierung von Maßnahmen beeinträchtigt, die auch allgemeinpolitische Zwecke verfolgen. Unabhängig von dieser Frage bleibt es letztlich bei dem Befund, dass in Anbetracht der streng angelegten Maßstäbe der Periodizität und des Veranlassungszusammenhangs die finanzielle Planungssicherheit Schaden genommen hat, die für das Gelingen der Transformationsprozesse in Unternehmen und privaten Haushalten praktisch notwendig ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht dazu durchringen können, die Periodizität des Haushaltsrechts situationsbedingt auszulegen. Dabei folgen Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen keiner kalendarischen Logik. Die daraus folgende Unsicherheit der Finanzierung von Krisenbewältigungsmaßnahmen steht im Widerspruch zur stabilisierenden Funktion, die die Ausnahmeregelung von der Schuldenbremse haben soll.
Klimaschutz als Ausnahme von der Schuldenbremse?
Die Bedeutung des Urteils geht über den konkreten Fall hinaus. Es enthält Hinweise darauf, wie das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeiten der Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen haushaltsverfassungsrechtlich einordnet. Die Prüfungsmaßstäbe weisen darauf hin, dass der Klimawandel nach Ansicht des Gerichts kein Umstand ist, der den Tatbestand der Ausnahmeregelung (Art. 115 Abs. 2 S. 6-8 GG) erfüllt. Denn sowohl die Naturkatastrophe als auch die außergewöhnliche Notsituation weisen nach der Auslegung des Senats das Element eines singulären Ereignisses auf. Eine Beschreibung, die auf den stetig fortschreitenden Klimawandel nicht zutrifft.
Der Begriff der Naturkatastrophe umfasse „unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse ausgelöst werden, wie etwa Erdbeben, Hochwasser, Unwetter, Dürre oder Massenerkrankungen“ (Rn. 103). Die außergewöhnliche Notsituation sei weiter gefasst und meine bei deren haushaltsrechtlicher Relevanz neben besonders schweren Unglückfällen (beispielsweise Flugzeugunglücke oder Kernkraftunfälle; hierzu Rn. 104) auch „außergewöhnliche Störungen der Wirtschafts- und Finanzlage“ (Rn. 106). Sie müsse allerdings auf plötzlichen Beeinträchtigungen der Wirtschaftsabläufe in einem extremen Ausmaß aufgrund eines exogenen Schocks beruhen, falls deshalb aus Gründen des Gemeinwohls aktive Stützungsmaßnahmen des Staates zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Wirtschaftsabläufe geboten seien (ebd.). Das Gericht betrachtet dies wohl als notwendiges Abgrenzungskriterium zwischen Konjunkturkomponente (Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG) und Ausnahmeregelung (Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG). Diese Abgrenzungsproblematik stellt sich mit Bezug auf den Klimawandel jedoch nicht. Denn seine wirtschaftlichen Auswirkungen verlaufen nicht zyklisch. Sie betreffen viel grundlegendere Fragen als bloße Konjunkturverläufe.
Im Ergebnis bedeutet dies aber wohl, dass der Zweite Senat keinen Raum für die Schuldenfinanzierung von Klimaschutzmaßnahmen sieht. Eine entsprechende vollumfängliche Prüfung der geschriebenen Tatbestandvoraussetzung der Ausnahmevorschrift des Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG behält sich das Gericht jedenfalls ausdrücklich vor (Rn. 116). Praktisch bedeutet eine solche Auslegung, dass Kreditmittel erst dann eingesetzt werden könnten, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen wäre. Fluthilfen ja, Investitionen in den Umbau der Wirtschaft zur Verhinderung der Flut nein.
Verkürzter Blick auf die Generationengerechtigkeit
Offensichtlich sieht das Bundesverfassungsgericht die Haushaltsverfassung als abgeschlossenes Wertungssystem an. Danach hat der Verfassungsgeber die Generationengerechtigkeit für das Haushaltsrecht und insbesondere die Staatsverschuldung abschließend und formal geregelt.
Genau dieses Verständnis von Generationengerechtigkeit ist verkürzt. Er betrifft lediglich einen Teilaspekt generationengerechter Politik. Solide staatliche Finanzen sichern Handlungsfähigkeit in der Zukunft, ja. Aber sie stehen eben nicht allein und absolut für eine generationengerechte Politik, wie spätestens der Klimabeschluss gezeigt hat. Der Senat hätte Gelegenheit gehabt, sich unter dessen Eindruck tiefgehend mit der Frage zu beschäftigen, inwieweit die verschiedenen Regelungen des Grundgesetzes, die jeweils Teilbereiche der Generationengerechtigkeit ansprechen, in Wechselwirkung stehen. Stattdessen argumentiert er einseitig zugunsten eines formalen, an Haushaltsgrundsätzen orientierten Verständnisses der Generationengerechtigkeit.
Allerdings ist zu beachten, dass das Pariser Klimaschutzabkommen die intertemporalen Freiheitsrechte künftiger Generationen materiell konkretisiert und ihre Beachtung durch konsequente Maßnahmen im Bereich des Klimaschutzes nicht im Ermessen der politischen Handlungsverantwortlichen stehen (vgl. Wieland, Klimakrise und Schuldenbremse). Der daraus folgende verfassungsrechtlich definierte Abwägungsposten der Generationengerechtigkeit spielt im Urteil zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 keine Rolle.
Der Spielraum für eine entsprechende Auslegung ergibt sich aber auch aus zwei Aspekten der Gesetzesbegründung: Erstens ist die Ausnahmeklausel nicht zwingend auf einmalige Ereignisse beschränkt, sondern grundsätzlich sind auch langfristige Finanzbedarfe als Anwendungsfall denkbar. Die Gesetzesbegründung benennt Ereignisse von positiver historischer Tragweite als Anwendungsfall des Ausnahmetatbestandes (BT-Drs. 16/12410, S. 11). Es ist insofern nicht von vornherein ausgeschlossen, auch den Klimawandel bzw. den Übergang in die Klimaneutralität als Ausnahmetatbestand zu begreifen. Zwar heißt es in der Begründung, dass ein historisches Ereignis den Finanzbedarf „auslöst“ (ebd.). Bei Wortlautauslegung könnte man auf die Idee kommen, dieses Ereignis müsse auf der Zeitachse vor dem ausgelösten Finanzbedarf stehen. Das halte ich indes nicht für zwingend. Das ergibt sich aus einem weiteren Aspekt der Gesetzesbegründung: Die Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage kann auch durch „etwaige vorbeugende Maßnahmen“ (ebd.) entstehen. Wenn die Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation aber nur in einer kurzfristigen Entwicklung und einem einmaligen Ereignis liegen könnte, wie das Gericht annimmt (vgl. Rn. 109), so stellt sich die Frage, wie in einer solchen Lage überhaupt noch vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden sollten, die einerseits einen derartigen Finanzbedarf auslösen und andererseits praktisch noch umsetzbar sind.
Fazit
Das Bundesverfassungsgericht hat die haushaltsverfassungsrechtlichen Gestaltungsspielräume eng gezogen. Insofern liegt darin tatsächlich ein „Ende der Großzügigkeit“ (vgl. Meickmann, aaO). Das erschwert eine verlässliche Krisenpolitik. Es wäre im Sinne der politischen Handlungsfähigkeit des Staates sinnvoller gewesen, die Haushaltsgrundsätze krisenspezifisch auszulegen. Damit korrespondierend hätte die gerichtliche Kontrolldichte des Veranlassungszusammenhangs im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung erhöht werden können. Auf diese Weise wäre dem erhöhten exekutiven Spielraum, dessen es zur verlässlichen Krisenpolitik bedarf, wiederum ein Korrektiv gesetzt worden. Wenn in dieser Debatte von der „Repolitisierung des Politischen“ (Schwarz, Die Repolitisierung des Politischen) die Rede ist, wird man doch eher konstatieren müssen, dass das Urteil Ausdruck der Verrechtlichung von Politik ist und demokratische Spielräume verengt, anstatt sie zu weiten.
Über den konkreten Fall hinaus hätte es einer umfassenderen Maßstabsbildung bedurft, die die verschiedenen Perspektiven der Generationengerechtigkeit einbezieht. Der Freiheitsvoraussetzungsschutz, wie er im Klimabeschluss angeklungen ist, hat im hiesigen Urteil keinen Niederschlag gefunden. Wünschenswert wäre gewesen, dass die Richterinnen und Richter des Zweiten Senats die haushaltsverfassungsrechtliche Dogmatik mit Blick auf den intertemporalen Freiheitsschutz weiterentwickelt hätten.
Dazu hätte es einer Auseinandersetzung mit der Frage bedurft, inwieweit die Logik der Schuldenbremse auf den klimapolitischen Aspekt von Generationengerechtigkeit anwendbar ist. Diese Logik sieht in Verschuldung lediglich einen Eingriff in die Rechte künftiger Generationen. Sie kann aber – in Abhängigkeit ihrer Verwendung – die Rechte künftiger Generationen gerade schützen. Diese Chance, das Verhältnis von Klimaschutz und Haushaltsverfassung grundlegend und zukunftsgerichtet zu bestimmen, haben die Richterinnen und Richter des Zweiten Senats vertan.