Ein Blockierer als Vorsitzender
Ungarns Rolle im Rat der Europäischen Union
Ungarn übernimmt am 1. Juli 2024 den Vorsitz im Rat der EU. Das stößt auf Widerstand, denn zentrale Teile von Ungarns Verfassungspolitik stehen mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht im Einklang. Das Land gilt in Europa als Außenseiter und Quertreiber, es betreibt eine Blockadepolitik und ist u.a. wegen der Verletzung fundamentaler Grundsätze der EU einem sog. Art. 7-Verfahren ausgesetzt.1) Zuletzt hat Ungarns Ministerpräsident auf dem Dezember-Gipfel des Europäischen Rates erneut seine Fähigkeiten als Veto-Spezialist unter Beweis gestellt. Und solch ein Land soll den Ratsvorsitz übernehmen? Rechtlich lässt sich das kaum verhindern, denn der Vorsitz ist gemäß dem Primärrecht festgelegt und kann Ungarn ohne Rechtsverstöße nicht entzogen werden. Politisch wäre ein Entzug unklug, weil Ungarn ihn zum Anlass nähme, weniger kompromissbereit zu sein.
Ratsvorsitz Ungarns
Dieser Ratsvorsitz (Art. 16 Abs. 9 EUV) beginnt zu einem wichtigen Zeitpunkt, denn vom 6. bis 9. Juni 2024 finden die 10. Direktwahlen zum Europäischen Parlament statt (Art. 14 Abs. 3 EUV; Direktwahlakt). Im Juli 2024 muss sich das EP konstituieren (Art. 11 Abs. 3 Direktwahlakt), im Anschluss daran einen Kommissionspräsidenten wählen und der Kommission als Kollegium zustimmen (Art. 17 Abs. 7 EUV). In dieser Zeit ist der Ratsvorsitz sehr gefordert. Die Aufgaben des Vorsitzes ergeben sich aus dem Primärrecht und seiner Geschäftsordnung (Art. 240 Abs. 3 AEUV). Grob zusammengefasst ist es Aufgabe des Vorsitzes, die Arbeit des Rates zu organisieren und zu leiten. Dabei ist er zur Neutralität verpflichtet. Er muss als „ehrlicher Makler“ eine Vermittlerrolle ausüben und Kompromisse finden. Der Vorsitz soll für Harmonie sorgen und nicht seine eigenen Interessen in den Vordergrund stellen. Das Land, das den Vorsitz innehat, leitet grundsätzlich alle Ratsformationen, mit Ausnahme der Formation „Auswärtige Angelegenheiten“.2)
Das EP hat Anfang Juni 2023 mit großer Mehrheit eine sehr kritische Entschließung zu Ungarn gefasst.3) Es hebt die Bedeutung des Ratsvorsitzes hervor und stellt gleichzeitig infrage, wie Ungarn den Vorsitz glaubwürdig wahrnehmen könne. Das Land halte EU-Recht und die in Art. 2 EUV verankerten Werte nicht ein. Hierzu zählen u.a. die Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Rechte von Minderheiten. Außerdem verletze es den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, nach dem sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig achten und unterstützen, wenn sie die Aufgaben erfüllen, die sich aus den Verträgen ergeben (Art. 4 Abs. 3 EUV). Das EP „fordert den Rat auf, so bald wie möglich eine angemessene Lösung zu finden.“ Weiter weist es darauf hin, es könnte „geeignete Maßnahmen ergreifen“, wenn eine solche Lösung nicht gefunden werde. Mit „angemessener Lösung“ kann nur gemeint sein, Ungarn zumindest für den vorgesehenen Zeitraum den Vorsitz zu verweigern. Ginge das überhaupt oder wäre es „völliger Blödsinn“, wie die ungarische Justizministerin meint?
Festlegung des Vorsitzes
Den Vorsitz im Rat (Art. 16 Abs. 9 EUV) legt der Europäische Rat (Art. 15 EUV) mit qualifizierter Mehrheit durch Beschluss fest. Er wird „nach einem System der gleichberechtigten Rotation“ wahrgenommen. Das gilt für alle Zusammensetzungen des Rates, mit Ausnahme des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ (Art. 16 Abs. 4 EUV; Art. 235 Abs. 1, Art. 238 Abs. 2, Art. 236 Buchst. b) AEUV). Dort rotiert der Vorsitz nicht (Art. 18 Abs. 3 EUV). Unmittelbar nachdem der Vertrag von Lissabon im Dezember 2009 in Kraft getreten ist, hat der Europäische Rat den Vorsitzbeschluss auf der genannten Rechtsgrundlage einstimmig gefasst und die Vorsitzstaaten bis 2030 festgelegt. Der Beschluss folgt der Tradition der Team-, Troika- oder Triovorsitze: Jeweils drei Staaten teilen sich die Arbeiten des Vorsitzes; ein Staat hat allerdings formell sechs Monate den Vorsitz inne. Bei der Zusammensetzung des Teams werden die Verschiedenheit der Staaten und das geographische Gleichgewicht berücksichtigt.4) Mit dem Vorsitz Spaniens in der zweiten Hälfte des letzten Jahres hat der Teamvorsitz mit Belgien und Ungarn begonnen. Den Vorsitz im nächsten Team hat Polen (was nach dem Regierungswechsel nicht mehr problematisch werden dürfte).
Änderung des Vorsitzes
Der Vorsitzbeschluss ist nicht in Stein gemeißelt, der Europäische Rat kann ihn ändern. Zuletzt geschah das, weil Großbritannien aus der EU ausgetreten ist. Von dem primärrechtlich vorgeschriebenen System der gleichberechtigten Rotation darf der Europäische Rat allerdings nicht abweichen. Deshalb ist es grundsätzlich nicht möglich, Ungarn den Vorsitz gänzlich zu entziehen oder ihn erst zu einem nicht absehbaren Zeitpunkt zu gewähren. Eine solche Sanktion könnte aber wohl verhängt werden, nachdem der Europäische Rat einstimmig in dem Art. 7-Verfahren festgestellt hat, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch Ungarn vorliegt (Art. 7 Abs. 2 EUV). Denn in diesem Fall kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Unionsrechte des betroffenen Mitgliedstaats auszusetzen (Art. 7 Abs. 3 EUV).5) Problem: Es ist nicht absehbar, wann das vor einem halben Jahrzehnt gestartete Verfahren zum Abschluss kommt. Deshalb dürfte Ungarn der Vorsitz nicht zu nehmen sein.
Blendet man aus, dass es um den Problemfall Ungarn geht, ist das Ergebnis zu begrüßen, weil die Union die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen zu achten hat (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV). Damit ist die statusrechtliche Gleichheit gemeint, sodass die Union verpflichtet ist, das Unionsrecht diskriminierungsfrei anzuwenden.6) Mit dieser Rechtslage ist es wohl kaum zu vereinbaren, einen Mitgliedstaat beim Vorsitz zu übergehen. Das geschähe zu ersten Mal und schüfe infolgedessen einen Präzedenzfall. Unschöne Diskussionen darüber, ob ein Mitgliedstaat geeignet ist, den Vorsitz zu übernehmen, könnten die Folge sein.
Allerdings hat das EP seine Forderung nach einer „angemessenen Lösung“ nicht an den Europäischen Rat (Art. 15 EUV), sondern an den Rat (Art. 16 EUV) adressiert. Es wird in den Medien auch der Vorschlag diskutiert, dass Spanien und Belgien ihre Vorsitze jeweils drei Monate länger ausüben als vorgesehen, sodass Ungarns Vorsitz entfiele. Damit verstießen die beiden Staaten bzw. der Rat allerdings gegen den Vorsitzbeschluss, brächen also Recht. Das wäre keine angemessene Lösung. Außerdem würden solche Manöver sehr wahrscheinlich die Kompromissbereitschaft Ungarns schwächen. Auf diese Bereitschaft ist die EU zumindest bei allen Entscheidungen angewiesen, die Einstimmigkeit erfordern, und das sind viele (Art. 15 Abs. 4 EUV).7) Dass es durchaus gelingen kann, Ungarn zum Einlenken zu bewegen, zeigt das Beispiel des Dezember-Gipfels des Europäischen Rates. Ungarn hat den einstimmigen Beschluss, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu beginnen (Art. 15 Abs. 1, Art. 49 EUV) dadurch ermöglicht, dass sein Ministerpräsident auf Hinweis von Bundeskanzler Scholz den Sitzungssaal vor der Abstimmung verlassen hat.
„Geeignete Maßnahmen“ des Europäischen Parlaments?
Könnte das EP selbst „geeignete Maßnahmen“ ergreifen, um gegen den Vorsitz Ungarns zu opponieren? Erwogen wird, dem Ratsvorsitz die Zusammenarbeit bei der Gesetzgebung zu verweigern und dem ungarischen Ministerpräsidenten Orbán Hausverbot zu erteilen. Nur wird das EP gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus (Art. 14 Abs. 1 S. 1 EUV; Art. 314 Abs. 1 S. 1 AEUV). Es steht nicht im Belieben des EP, ob es diese Befugnisse wahrnimmt. Das zeigt schon die indikative Formulierung der Vorschriften. Außerdem bestimmt das Primärrecht ausdrücklich, dass die Organe loyal zusammenarbeiten (Art. 13 Abs. 2 S. 2 EUV). Deshalb wäre es rechtswidrig, wenn sich das EP der Gesetzgebungsarbeit verweigern würde. Obstruktion durch Nichtstun ist unzulässig. Hinzu kommt, dass der Rat das Recht hat, vom EP gehört zu werden (Art. 230 Abs. 3 AEUV). Maßgeblich dafür ist die Geschäftsordnung des Rates. Sie legt fest, dass der Rat vor dem EP vom Vorsitz vertreten wird.
Fazit
Die EU wird den Ratsvorsitz Ungarns aushalten müssen, denn er steht Ungarn gemäß dem Primärrecht zu. Ihn zu entziehen wäre überdies politisch unklug. Und so schlimm wird der Vorsitz schon nicht werden: Immerhin hat die EU es auch überstanden, dass Frankreich die „Politik des leeren Stuhls“ betrieben hat und trotz seiner Ratspräsidentschaft 1965 allen Sitzungen ferngeblieben ist. Mehr Boykott geht nicht.
References
↑1 | Entschließung des EP vom 1.6.2023, P9_TA(2023)0216 |
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↑2 | Ziegenhorn, in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, August 2023, Art. 16 EUV Rn. 73 f.; FAZ, 31.5.2023, S. 5. |
↑3 | Oben Fn. 1. |
↑4 | Ziegenhorn (oben Fn. 2 ), Art. 16 EUV Rn. 73. |
↑5 | Näher zu den Sanktionsmöglichkeiten Schorkopf, in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, August 2023, Art. 7 EUV Rn. 43. |
↑6 | Schill/Krenn, in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, August 2023, Art. 4 EUV Rn. 8. |
↑7 | Auflistung bei Meisel, in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, August 2023, Art. 15 Rn. 40. |