Wie obstruktiv kann die Minderheit sein?
Rechtsmissbrauch, symbolische und systematische Blockade im parlamentarischen Regierungssystem
Parlamentarische Obstruktion ist in den letzten Jahren in der deutschen Rechtswissenschaft ein wenig zum Modebegriff geworden. Dieser Trend mag in gewisser Weise schlicht dem Erstaunen und der Erschütterung darüber geschuldet sein, wie sich in vergleichsweise kurzer Zeit der Ton in deutschen Parlamenten verändert hat. Zwar bringen fast alle parlamentarischen Neulinge die hergebrachte Ordnung eines Parlaments durcheinander, ja, legen es oft gerade genau darauf an. Aber im Vergleich zu dem Einschnitt, den das parlamentarische Leben durch die Wahlerfolge der AfD erhalten hat, erscheinen vergangene Debatten über Grünen-Abgeordnete, die in einer Debatte zum Vermummungsverbot Mütze und Sonnenbrille aufsetzten,1) oder Linken-Abgeordnete, die während einer Debatte im Plenum Spruchbänder entrollten,2) heute mehr als harmlos, wenn nicht geradezu lächerlich. Der Ton ist rauer geworden im sonst so stark auf konsensuales Miteinander ausgerichteten Bundestag. Das betrifft nicht nur den Inhalt der Redebeiträge, der Zwischenrufe und des mittlerweile deutlich angeschwollenen allgemeinen Pegels des Getuschels und Gezische, sondern auch prozedurale Tricks und Streitigkeiten. Insbesondere der erzwungene Abbruch der Plenarverhandlungen aufgrund fehlender Beschlussfähigkeit hat sich hier als beliebtes Mittel gezeigt.
Michael Koß hat in seinem sehr instruktiven Beitrag den Begriff der Obstruktion politikwissenschaftlich näher vermessen. Zwei Punkten, die er stark macht, stimme ich dabei in besonderer Weise zu: Zum einen der Betonung des destruktiven Potentials dessen, was er als systematische Obstruktion bezeichnet, zum anderen der Notwendigkeit von Gelassenheit gegenüber dem, was er als taktische Obstruktion bezeichnet.
Eine Frage von Mehrheit und Minderheit
Trotzdem will ich seiner Kategorisierung noch eine andere Perspektive gegenüberstellen, die das zugrundeliegende Problem in meinen Augen noch deutlicher macht. Dabei scheint mir zunächst wichtig zu sein, das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit genauer in den Blick zu nehmen. Zwar schreibt Koß selbst, dass parlamentarische Obstruktion ein Instrument der Minderheit ist, dass dem Zweck der Verzögerung oder Verhinderung einer Initiative der parlamentarischen Mehrheit dient. Schon eines seiner zentralen Beispiele, die Blockade des US-Senats der durch Präsident Obama nominierten Kandidaten für den Supreme Court, verwischt aber diese Unterscheidung. Denn diese Blockade stellte eben gerade keinen Trick einer parlamentarischen Minderheit dar, sondern war vielmehr die politische Entscheidung der Senatsmehrheit, die im Präsidialsystem amerikanischer Prägung eben nicht mit dem Präsidenten politisch kongruent war. An der obstruktiven Wirkung dieses Verhaltens ändert das nichts, wohl aber sehr viel an der Analyse von Ursache und Wirkung solcher Obstruktion. Und auch das französische Beispiel für Strategien der Majorisierung ist letztlich gerade keins, das auf die parlamentarische Mehrheit gemünzt ist. Existiert eine solche parlamentarische Mehrheit nämlich, auf die sich die Regierung stützen kann, bedarf es dieser starken Eingriffsrechte der Regierung in den parlamentarischen Prozess gerade nicht. Insofern weisen beide Vergleichssysteme zum parlamentarischen Regierungssystem wie in Deutschland doch signifikante Unterschiede in den Strukturen der Obstruktion auf.
Betrachtet man daher das Parlament als solches (und im parlamentarischen Regierungssystem auch die von ihm getragene Regierung), sind daher die Möglichkeiten der Minderheit erst einmal sehr beschränkt. Sie kann Prozesse verzögern. Und sie kann Entscheidung dort vereiteln, wo Sperrminoritäten vorgesehen sind. Ansonsten setzt die demokratische Mehrheitsregel ihren Möglichkeiten zur Obstruktion aber erst einmal deutliche Grenzen. Dies wird auch deutlich, wenn man den vor einigen Wochen veröffentlichten Beitrag von Max Steinbeis und Jelena von Achenbach zur Frage des Landtagspräsidenten in Thüringen liest. Dort skizzieren die beiden die Wahrscheinlichkeit, dass der AfD das Amt des/der Landtagspräsidenten/in „zufallen wird“. Wie sie selber ergänzen, fällt das Amt allerdings nicht vom Himmel, sondern erfordert eine Mehrheit der Stimmen. Ohne, dass sich eine solche Mehrheit findet, kann kein*e Landtagspräsident*in ins Amt kommen. Dass „[d]as Recht, jemanden für dieses Amt zu nominieren, […] nach guter parlamentarischer Tradition und nach der Geschäftsordnung des Landtags der stärksten Fraktion [gebührt]“, ist dabei juristisch gesehen erst einmal ohne Relevanz. Denn die Tradition ist rechtlich nicht verbindlich. Und die Geschäftsordnung mit dieser Regel gilt nicht einfach fort, sondern muss aufgrund des Diskontinuitätsgrundsatzes in der konstituierenden Sitzung des Parlaments erst einmal noch beschlossen werden – und zwar mit der parlamentarischen Mehrheit.
Drei Phänomene der Obstruktion
Um das, was in der aktuellen Debatte gerne mit Obstruktion beschrieben wird, besser begreifen zu können, schlage ich daher eine analytische Trennung in drei Phänomene vor: Zum einen gibt es den Bereich, der in klassischen juristischen Kategorien als Rechtsmissbrauch bezeichnet wird. Eine konkrete Rechtsposition wird in einer Weise genutzt, die dem Zweck dieses Rechts widerspricht und völlig andere, meist destruktive, Ziele verfolgt als mit diesem Recht beabsichtigt. Stellt etwa eine Fraktion immer wieder die (fast) identische parlamentarische Anfrage, deren Beantwortung bei der Regierung erhebliche Ressourcen bindet, handelt es sich um einen entsprechenden Fall. Er lässt sich rechtlich auch ohne Weiteres mit dieser – zugegebenermaßen etwas angestaubten – Kategorie bewältigen.
Den zweiten Bereich möchte ich hier als symbolische Blockade bezeichnen. Hier geht es vor allen Dingen darum, den Entscheidungsprozess zu verzögern und damit entweder die Mehrheit aus Erschöpfung zum Einlenken zu bringen oder aber das Parlament öffentlich vorzuführen. Der von Michael Koß angeführte Umgang mit der Coercion Bill ist ein Beispiel dafür, die aus dem US-Senat bekannte Technik des „Filibuster“, der Dauerrede, mit der eine Abstimmung verzögert wird, aber auch die von der AfD im Bundestag immer wieder angewandte Taktik, zu fortgeschrittener Stunde im Plenarsaal die Beschlussfähigkeit anzuzweifeln und damit bei entsprechend geringer Anzahl anwesender Abgeordneter gem. § 45 GO-BT den Abbruch der Sitzung zu erzwingen. Eine Entscheidung kann mit einem solchen Verfahren nicht verhindert werden, denn Mehrheit bleibt Mehrheit und die Mehrheit entscheidet. Es wird lediglich symbolischer Druck erzeugt. Dieser kann sich entweder auf ein bestimmtes Gesetzesvorhaben beziehen, wie etwa bei der Coercion Bill, oder aber ganz allgemein darauf gerichtet sein, das parlamentarische Verfahren zu delegitimieren.
In diesem Bereich greifen meiner Meinung nach genau die Bewältigungsstrategien, die Michael Koß für den Bereich der taktischen Obstruktion benennt. Zum einen muss das Geschäftsordnungsrecht genau auf dysfunktionale Elemente hin untersucht werden. In der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist dies insbesondere die Regelung über die Beschlussfähigkeit in § 45 GO-BT, die in der Praxis darauf angelegt wird, nicht als solche exekutiert zu werden. Denn die Arbeitsabläufe des Bundestages würden nach der bisherigen Praxis empfindlich gestört, wenn tatsächlich zu jedem Zeitpunkt mindestens die Hälfte der Abgeordneten anwesend sein müsste. Eine Geschäftsordnungsregelung, die trotzdem im Grundsatz diese Anwesenheit verlangt, produziert also eine offensichtliche Bruchstelle, die nur allzu leicht für symbolische Blockaden genutzt werden kann. Im US-Senat wäre das Äquivalent hierzu die geschäftsordnungsrechtliche Regelung zur Redeordnung, die den Filibuster überhaupt erst möglich macht. Über ihre Reform wird immer wieder diskutiert. Tatsächlich dürfte man den meisten wirklich handfesten Blockadeversuchen auf diese Weise begegnen können.
Wenn Missbrauchsbekämpfung ins Missbräuchliche kippt
Jenseits dessen müssen Blockaden, auch wenn sie symbolischer Natur sein mögen, schlicht ausgehalten werden. Denn auch solches symbolische Handeln gehört zu demokratischer Politik dazu und stellt im Grundsatz auch gerade ein legitimes Mittel der Oppositionspolitik dar. Soll sie nicht reine Staffage sein, um einen demokratischen Prozess zu simulieren, muss sie auch Möglichkeiten haben, um ihre anderen politischen Vorstellungen in Form von symbolischem Handeln auszudrücken.
Schwierig wird es hingegen in meinen Augen, wenn Michael Koß meint, dass man systematische Obstruktion nur politisch, nicht rechtlich überwinden kann, und dabei wiederum auf das Beispiel der Coercion Bill verweist. Denn hier bewegen wir uns schnell in einem Raum, in dem die Parlamentsmehrheit ihrerseits rechtsmissbräuchlich handelt, um die Blockaden der Opposition aufzulösen, statt eben entweder die Regeln anzupassen oder aber bestimmte Störungen schlicht auszuhalten. Ein Beispiel dafür ist etwa ein Vorgang aus dem Juni 2019. Die Plenarsitzung des deutschen Bundestages dauerte an diesem Tag bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages. Als noch etwa 100 Abgeordnete im Plenarsaal anwesend waren, damit war das nach § 45 Abs. 1 GO-BT eigentlich erforderliche Anwesenheitsquorum nicht mehr reicht. Nach § 45 Abs. 2 GO-BT bezweifelte die AfD-Fraktion daher die Beschlussfähigkeit des Bundestages. Trotz des offensichtlich fehlenden Quorums stellte die Bundestags-Vize-Präsidentin jedoch nicht die Beschlussfähigkeit durch Zählung der Stimmen bei der nachfolgenden Abstimmung fest, sondern verwies darauf, dass man im Sitzungsvorstand der Meinung sei, dass die Beschlussfähigkeit gegeben sei, und führte die Sitzung ungerührt fort. Dieser Vorgang beruht auf einer, wie Michael Koß vielleicht schreiben würde, „kreativen“ Auslegung des § 45 Abs. 2 GO-BT, wonach die Beschlussfähigkeit nur dann durch Stimmzählung festzustellen ist, wenn diese vor Beginn einer Abstimmung von einer Fraktion bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht wird.3) Freilich handelt es sich in einen solchem Fall, in dem der Sitzungsvorstand die Beschlussfähigkeit trotz ihres offensichtlichen Fehlens einmütig bejaht, zumindest um eine Form des Rechtsmissbrauchs. Diese wird hier dann aber gerade nicht von der Minderheit genutzt, sondern von der Mehrheit, mit dem Ziel, eine Minderheit gezielt ihrer Rechte zu berauben – und seien diese Rechte auch solche, die als Mittel symbolischer Blockade genutzt werden. Damit betreibt die Mehrheit aber gerade selbst etwas, das man vielleicht nicht symbolische Blockade nennen kann. Denn dem Anspruch nach geht es ja gerade um die Verhinderung einer Blockade, wohl aber um symbolische Destruktion (oder, wenn man so will: Obstruktion). Die Mehrheit zeigt in diesem Verhalten, dass sie nur noch mit dem Rechtsmissbrauch der Anliegen der Opposition Herr zu werden glaubt. Am Ende ist es damit die Mehrheit, die in Reaktion auf den Versuch symbolischer Blockade das parlamentarische Verfahren symbolisch delegitimiert. Insofern stellt sich die weiterführende Frage, die hier nicht weiter erörtert werden kann, inwiefern nicht auch der Missbrauch rechtlicher Regeln durch die Mehrheit zulasten einer blockierenden Opposition als Obstruktion zu behandeln wäre.
Neben diese symbolischen Blockaden treten schließlich als dritte Fallgruppe tatsächliche, systematische Blockaden. Hier wird nicht nur verzögert, sondern tatsächlich eine Entscheidung verhindert. Durch die Minderheit ist eine solche systematische Blockade allerdings nur dann möglich, wenn das Recht entsprechende Sperrminoritäten vorsieht. Wenn also, wie in Thüringen, der Großteil der Mitglieder des Richterwahlausschusses gem. Art. 89 Abs. 2 der Verfassung mit Zweidrittelmehrheit des Landtags gewählt werden, kommt einer Opposition, die mehr als ein Drittel der Abgeordneten stellt, eine Sperrminorität zu. Diese kann sie für eine dauerhafte, systematische Blockade des Richterwahlausschusses nutzen, um so die Berufung neuer Richterinnen und Richter zu verhindern. Hier wird die Blockade tatsächlich systemrelevant und potentiell systemzerstörend. Wir bewegen uns also in dem Bereich, den Michael Koß systematische Obstruktion nennt. Das bedeutet freilich nicht, dass sie tatsächlich allein politisch und nicht rechtlich überwunden werden könnte. Die entsprechende Vorschrift der Verfassung ließe sich nämlich (jedenfalls zu einem Zeitpunkt, an dem die destruktive Minderheit noch nicht über ein blockierendes Quorum verfügt) im Wege der Verfassungsänderung auch modifizieren. Wollte man von der Zweidrittelmehrheit nicht vollständig abweichen, könnte man etwa eine Rückfalloption normieren, nach der sich das Quorum nur in einer (gesetzlich näher zu bestimmenden) Blockadesituation absenkt.
Keine Demokratie ohne Demokraten
Daneben besteht die größte Gefahr für die Demokratie aber nicht in einer Obstruktion durch die Minderheit, sondern durch die parlamentarische Mehrheit. Auch die Tyrannei der Minderheit, die Levitsky und Ziblatt beschreiben, ist insofern eben gerade nicht eine Minderheit im Parlament, sondern eine Minderheit in der Bevölkerung, die es aufgrund der Struktur des amerikanischen Verfassungs- und Wahlsystems trotzdem zu einer zerstörerischen Mehrheit in den Institutionen bringen kann. Hier besteht tatsächlich das uneingeschränkte und auch unausweichliche Zerstörungspotential für die Demokratie. Denn eine Demokratie ohne Demokraten (in der Bevölkerung wie in den Institutionen) kann es nicht geben – egal, was die Verfassung vorsieht.
Die Kategorie des Rechtsmissbrauchs hilft nicht unbedingt weiter und man muss nicht in den selben Bahnen wie Herbert Krüger denken. Hat man leider schon lange genug in der Nachkriegszeit getan.
Rechtsmissbrauch öffnet durch seine essenziell teleologische Komponente des erstmaligen Ermittelns eines Verfahrenszwecks ironischerweise selbst seine missbräuchliche Anwendung.
Im Übrigen ist das von Ihnen beschriebene Verhalten der Bundestagspräsidentin nicht als Rechtsmissbrauch (formell korrekter aber “materiell” fragwürdiger Gebrauch von Rechten), sondern eher ein Fall der aus dem katholischen Kirchenrecht bekannten Dissimulation (von der Autorität geduldete bzw. forcierte Nichtanwendung von prozeduralen Regelungen zur Vermeidung eines schlimmeren malus).
Dass die Dissimulation nicht häufiger in solchen Diskussionen zur Rede gebracht wird, wundert mich – es hätte eine witzige Ironie, wenn man zwecks Bekämpfung seiner ideologischen Feinde eine alte Kamelle aus den Stuben der katholischen Kirche herausholt.
“Und die Geschäftsordnung mit dieser Regel gilt nicht einfach fort, sondern muss aufgrund des Diskontinuitätsgrundsatzes in der konstituierenden Sitzung des Parlaments erst einmal noch beschlossen werden – und zwar mit der parlamentarischen Mehrheit.”
Das stimmt streng genommen nicht ganz, denn der Beschluss des neuen Landtags, sich eine Geschäftsordnung zu geben (i.e. die des alten Landtags zu übernehmen), findet erst nach der Wahl der Landtagspräsident*in statt, ohne die der Landtag noch gar nicht arbeits- und beschlussfähig ist. Die Geschäftsordnung des alten Landtags wird in Thüringen durch ein Gesetz über die Diskontinuität hinübergerettet, das genau diese Fortgeltung und nichts anderes zum Inhalt hat (https://landesrecht.thueringen.de/bsth/document/jlr-LTGOGTHrahmen). Ob hier tatsächlich die Geschäftsordnung des alten Landtag für den neuen rechtlich verbindlich gemacht werden kann, ohne dass dieser dagegen etwas machen kann (was er ja nach der Konstituierung jederzeit könnte, aber vorher halt nicht), wäre eine verfassungsrechtlich sehr interessante Frage, wenn sie jemand stellen würde in dem Moment.