Kommunikatives Tabu ohne Zukunft?
§ 86a StGB und das Höcke-Urteil des Landgerichts Halle
„Der Angeklagte, der Mitglied einer Gruppe mit der Bezeichnung ‚Kameradschaft I‘ ist, hat anlässlich einer Veranstaltung des “rechten Spektrums” eine Rede gehalten und diese mit dem Ausruf “Alles für Deutschland” beendet, wobei es sich, wie allgemein bekannt ist, um die Losung der SA, handelt.“ Mit dieser Feststellung bestätigte das Oberlandesgericht (OLG) Hamm 2006 eine vom Jugendrichter verhängte Haftstrafe von sechs Monaten ohne Bewährung wegen des „Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“. Für das Höcke-Urteil des Landgerichts (LG) Halle ist damit ein wichtiger Referenzpunkt gesetzt. Gleichzeitig wird es zunehmend schwieriger, das „kommunikative Tabu“ aufrechtzuerhalten, das § 86a StGB etablieren sollte.
Dass das Wissen um die SA-Losung vor 18 Jahren in einem Revisionsverfahren vor dem OLG Hamm als „allgemein bekannt“ vorausgesetzt wurde, war damals plausibel und ist es heute nicht weniger. „Alles für Deutschland“ war auf jedem einzelnen Dienstdolch der nationalsozialistischen Sturm-Abteilung (SA) eingraviert; die Dienstdolche gehörten seit Ende 1933 zur SA-Uniform, wurden am Koppel getragen und im ganzen Reich von etlichen Messer- und Waffenschmieden hergestellt. Die SA hatte Ende 1933 etwa 2,9 Millionen Mitglieder.
Der Richterspruch des OLG Hamm fiel 2006 nicht nennenswert auf und zog keine öffentlichen Kontroversen nach sich, die Wertung wurde auch in rechtsstaatlich geprägten, traditionell strafrechtskritischen Medien nicht besonders beachtet oder gar kritisiert und in Zweifel gezogen.
Höcke für Alles
Angesichts dessen mag es paradox anmuten, dass bei dem Strafverfahren gegen den Berufspolitiker Björn Höcke, der Geschichtswissenschaft studiert und als Gymnasiallehrer gearbeitet hat, die Frage danach im Zentrum des Strafprozesses vor dem LG Halle stand, ob er wusste, was er sagte, als er 2021 im sachsen-anhaltinische Merseburg eine Wahlkampfrede mit dem markigen „Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland!“ abschloss.
Tatsächlich war es nicht paradox, sondern Höckes Verteidigung – mit der sich das Gericht dementsprechend befassen musste und es, soweit von außen ersichtlich ist, auch getan hat (die Entscheidungsgründe sind noch nicht öffentlich). Dabei folgte das Gericht Höckes Einlassung nicht, dass er die nationalsozialistische Verwendung der „Alles für Deutschland“-Losung nicht gekannt habe, und gelangte zu der Überzeugung, dass Björn Höcke sehr genau wusste, was er tut. Das spricht nicht gegen das Gericht. Insbesondere hat es nicht, wie gelegentlich zu lesen war, gegen den Grundsatz „in dubio pro reo“ verstoßen. Der Zweifelsgrundsatz ist eine Entscheidungsregel und keine Beweisregel – er greift nur, wenn das Gericht nach der Beweisaufnahme noch Zweifel am Vorliegen entscheidungserheblicher Tatsachen hat, zum Beispiel ob der Angeklagte wusste, dass das „Alles für Deutschland“ eine SA-Losung ist. Ist das Gericht davon überzeugt, dass er es wusste, spielt der „in dubio“-Grundsatz keine Rolle, auch wenn es vielleicht gute Gründe gäbe, dass das Gericht hätte zweifeln sollen. Der Zweifelssatz selbst sagt also nichts darüber aus, wie lange ein Gericht zweifeln muss und ab wann es überzeugt sein kann. Über rechtliche Zweifel hat nun der Bundesgerichtshof zu entscheiden, Höckes Anwalt hat Revision eingelegt.
Strategische Prozessführung von rechts
Höcke ging es mit seiner Verteidigungsstrategie aber wohl um etwas anderes als um einen Freispruch (den er aber sicher billigend in Kauf genommen hätte). Das legt auch sein Auftritt in Gera im Dezember 2023 nahe, bei dem er nur den ersten Teil der Losung selbst gesprochen und anschließend das Publikum animiert haben soll, den zweiten Teil zu rufen (das Verfahren hat das LG Halle mittlerweile für Juni terminiert mit vorerst zwei Verhandlungstagen). Höckes Vorgehen dürfte als strategische Prozessführung von rechts zu verstehen sein und damit als Fortsetzung seiner Auftritte: Sowohl seine Behauptung, er habe nicht gewusst, dass „Alles für Deutschland“ eine Losung der SA war, als auch seine Argumentation, dass die SA-Losung nichts anderes sei als ein „Allerweltsspruch“, der auf jeden Fall von der Meinungsfreiheit gedeckt wäre, zielen auf eine Normalisierung und Rehabilitierung der Sprache des Dritten Reiches und damit dessen Denken und Handeln. Es geht um das, was Victor Klemperer als „Lingua tertii Imperii“ beschrieben und so analysiert hat: „Der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang.“
Höcke weiß genau diese scheinbare Harmlosigkeit zu nutzen: dass der Nationalsozialismus sich in seiner aufhetzenden und zusammenschweißenden Rhetorik vielfach an sich unverfänglicher Worte und auch Losungen bedient, sie aus einer Alltags- oder Fachsprache entlehnt und sie mit einem spezifisch nationalsozialistischen Kontext versehen hat. Dazu gehört der aus der Physik übernommene Begriff der „Gleichschaltung“, aber auch das aus der Biologie gezwungene „Entartung“. Nichts anderes gilt für Losungen, Lieder, Symbole und Texte.
Schutz eines Freiheitsraumes aller
Die 2. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts hat sich 2009 mit der Frage befasst, ob ein NPD-Politiker zu Recht wegen des Verwendens von Kennzeichenverfassungswidriger Organisationen nach § 86a StGB verurteilt worden ist, weil er ein T-Shirt mit der Aufschrift getragen hatte: „Sohn Frankens, die Jugend stolz/ die Fahnen hoch.“ Das Bundesverfassungsgericht hielt die Verurteilung für unbedenklich, auch wenn die Formulierung „die Fahnen hoch“ nicht textidentisch mit Titel und Text des Horst-Wessels-Liedes sei (das „die Fahne“ im Singular verwendet). Die Verfassungsrichter*innen hielten es auch nicht für erforderlich zu prüfen, ob ein Unterstützungswille des T-Shirt-Trägers für die durch das Kennzeichen symbolisierte Organisation bestanden habe. Vielmehr hoben sie hervor, dass mit § 86a StGB ein „kommunikatives Tabu“ errichtet worden sei, mit dem die verbotenen Kennzeichen „grundsätzlich“ aus dem Bild des politischen Lebens verbannt würden: „Es soll bereits jeder Anschein vermieden werden, in der Bundesrepublik Deutschland gebe es eine rechtsstaatswidrige politische Entwicklung in dem Sinne, dass verfassungsfeindliche Bestrebungen in der durch das Kennzeichen symbolisierten Richtung geduldet würden.“
Diese Rechtsprechung unterstreicht einerseits die besondere Bedeutung des § 86a StGB heute, dessen Schutzgut „verfassungsmäßige Ordnung“ insbesondere das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft erfasst, die sich dem Gleichbehandlungsgrundsatz verpflichtet weiß. Das mit § 86a errichtete „kommunikative Tabu“ schützt insoweit einen Freiheitsraum aller, der verloren gehen würde, wenn sich Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen im Inland öffentlich verwenden ließen. Denn diese Kennzeichen bedrohen, grenzen aus und festigen verfassungswidrige Zusammenschlüsse. Andererseits wirft sie die Frage auf, wie effektiv sich ein „kommunikatives Tabu“ aufrechterhalten lässt, wenn die Tathandlungen nicht an den Rändern oder gar im gesellschaftlichen Off begangen werden, der Selbstverständigung Eingeweihter dienen – sondern auf Wahlkampfveranstaltungen einer Volks-Partei, so dass alle sie wahrnehmen können und sollen.
Alles für den Dienst-Dolch
Darauf gibt es nicht nur eine Antwort. Den § 86a StGB aufzugeben oder nur noch zurückhaltend anzuwenden, insbesondere dann, wenn der Verstoß offen, unzweifelhaft und allgemein anerkannt erscheint, wirkt allerdings jedenfalls als Vorgehensweise in die falsche Richtung. Dies gilt auch wegen des Legalitätsprinzips aus § 152 StPO, das bei zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten ein Einschreiten verlangt.
Im Gegenteil wäre zu überlegen, ob eine Verurteilung wegen § 86a StGB nicht umso folgenreicher sein sollte, je öffentlichkeitswirksamer ist. Ein Mittel dazu könnte § 45 StGB sein, der Personen, die wegen eines Verbrechens zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt werden, für fünf Jahre die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen nimmt. Denkbar wäre, Gerichten die Möglichkeit zu geben, diese Norm auch unter besonderen Bedingungen (beispielsweise, wenn die Straftaten wiederholt und in Zusammenhang mit Wahlen, vor größerem Publikum begangen werden) in Fällen des § 86a StGB und eventuell vergleichbarer Delikte anzuwenden, die keine Verbrechen darstellen, aber in hohem Maße das offene gesellschaftliche Zusammenleben gefährden (wie z.B. Volksverhetzung).
Es ist aber, wie auch sonst, das Strafrecht weder das einzige noch in der Regel das beste Mittel, einen gesellschaftlichen Erosionsprozess, wie wir ihn derzeit erleben, aufzuhalten oder gar umzukehren. Ein Erosionsprozess, der immerhin so tief greift, dass selbst europäische Rechtsaußen-Parteien in anderen europäischen Staaten die politische Zusammenarbeit mit der AfD auf EU-Ebene mittlerweile ablehnen. Hier könnten sich unter Umständen der Ausschluss von der Parteienfinanzierung oder sogar das Parteiverbot ergänzende rechtliche Instrumente für eine kurz- und mittelfristige Eindämmung der politischen und gesellschaftlichen Krise anbieten. Doch auf längere Sicht ersetzt nichts eine politische zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit der zunehmend aggressiver auftretenden und erfolgreichen extremen Rechten. „Alles für Deutschland“ verliert dann seine Wirkung, wenn es gelingt, sich über den fanatisierenden und damit freiheitzerstörenden Gehalt dieser Losung zu verständigen. „Alles für Deutschland“ war auf den Dienst-Dolchen der SA am rechten Ort eingraviert.
“Denkbar wäre, Gerichten die Möglichkeit zu geben, diese Norm auch unter besonderen Bedingungen (beispielsweise, wenn die Straftaten wiederholt und in Zusammenhang mit Wahlen, vor größerem Publikum begangen werden) in Fällen des § 86a StGB und eventuell vergleichbarer Delikte anzuwenden, die keine Verbrechen darstellen, aber in hohem Maße das offene gesellschaftliche Zusammenleben gefährden (wie z.B. Volksverhetzung).”
Denkbar ist alles, aber nicht alles Denkbare ist auch eine gute Idee.
Warum nicht eine Erhöhung des Strafrahmens fordern, wenn man schon davon überzeugt ist, dass den Delikten ein solches Gewicht zukommt? Die geforderte Rechtsfolge kommt dann automatisch.
Oder besteht dann doch ein implizites Nackenzwicken, weil man im Wesentlichen Aussagedelikte mit schwereren Begehungsformen pauschal gleichsetzt?
wieso nicht (nur) die Erhöhung des möglichen Strafrahmens fordern?
vielleicht weil es explizit drum geht, dass ein Teil der Straftäter, die unter den eingangs genannten Straftatbestand fallen, eben auch noch politisch aktiv sind – und dafür gibt es den § 45 StGB gerade.