03 June 2024

Besetzte Hochschulautonomie

Berliner Verhältnisse am Tag des Grundgesetzes

Am 23. Mai, dem Tag des Grundgesetzes, wurde das am Vortag von Studierenden besetzte Institut für Sozialwissenschaften der Berliner Humboldt-Universität (HU), polizeilich geräumt. Die Präsidentin der HU, die zuvor den Dialog mit den Besetzer:innen gesucht hatte, sprach hinterher davon, dass sie von der Wissenschaftssenatorin und dem Regierenden Bürgermeister angewiesen worden sei, die Besetzung zu beenden. Aus diesem Anlass fragt der folgende Beitrag nach den Voraussetzungen und Grenzen der Aufsicht des Senats gegenüber der Hochschule. Dabei zeigt sich, dass die Hochschulautonomie der Präsidentin einen weiten Ermessensspielraum verschafft, auf derartige Situation zu reagieren, und – auf Grundlage der bislang bekannten Tatsachen – eine Weisung in der vorliegenden Situation rechtswidrig gewesen wäre.

Besetzung, Verhandlung, Räumung

Ausgehend von den USA protestieren mittlerweile weltweit Studierende an ihren Universitäten gegen den Krieg in Gaza. In Berlin hatten Studierende der Freien Universität (FU) Anfang Mai ein Protestcamp auf dem ,Theaterhof‘, einem frei zugänglichen Innenhof auf dem Campus, errichtet, das die Hochschulleitung noch am selben Tag durch die Polizei gewaltsam räumen ließ. Dieses Vorgehen der Hochschulleitung wurde u.a. von zahlreichen Lehrenden der Berliner Hochschulen in einem offenen Brief kritisiert. Einige der Unterzeichner:innen sahen sich daraufhin öffentlicher Hetze, insbesondere von Seiten der Bildzeitung und der Bundesministerin für Bildung und Forschung ausgesetzt.

Auch diese Ereignisse mögen die Präsidentin der HU – wie zuvor schon ihre Kollegin an der Technischen Universität – dazu bewogen haben, ein anderes Vorgehen zu wählen als Studierende am Mittwoch, den 22. Mai, die Räume des Instituts für Sozialwissenschaften besetzten: Die Präsidentin setzte explizit auf Dialog und den Versuch, eine Verständigung mit den Besetzer:innen zu erreichen. Sie forderte die Ausarbeitung eines Code-of-Conduct sowie die Sicherung des Universitätseigentums vor (weiterer) Beschädigung bzw. Verunstaltung und verabredete eine hochschulöffentliche „Vollversammlung“ zu den Forderungen der Protestierenden, bei der die Perspektiven aller interessierten Universitätsmitglieder zur Geltung kommen sollten. Auch wenn die Haltung der Aktivist:innen hierzu heterogen war, stimmte die Präsidentin einer Duldung der Besetzung bis zum nächsten Tag, 18:00 Uhr, zu. Am Nachmittag des 23. Mai fand tatsächlich eine Diskussion mit den Besetzer:innen in den okkupierten Institutsräumen statt, an der Mitglieder des Präsidiums, Mitarbeitende des Instituts für Sozialwissenschaften und des Akademischen Senats sowie über hundert Studierende teilnahmen. Im Laufe der Gespräche hatte die Präsidentin die Besetzer:innen angewiesen, das Gebäude zu verlassen.  Sie hatte außerdem zugesagt, auf eine „Anzeige“ wegen Hausfriedensbruch zu verzichten und den Anwesenden angeboten, das Gebäude zusammen mit den Hochschullehrer:innen und dem Präsidium zu verlassen.

Dennoch wurde die Situation in der Folge zunehmend eskaliert: Die „Vollversammlung“ hatte planmäßig um 15 Uhr begonnen und war ursprünglich bis 17:00 Uhr angesetzt. Im Anschluss daran waren ein kurzes Plenum der Besetzer:innen und eine weitere Runde mit dem Präsidium vorgesehen, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Um 16.20 Uhr schrieb der Regierende Bürgermeister auf X bzw. Twitter, die Humboldt-Universität solle nun konsequent handeln: „Der Lehrbetrieb muss fortgesetzt werden! Unsere Universitäten sind Orte des Wissens und des kritischen Diskurses – und keine rechtsfreien Räume für Antisemiten + Terror-Sympathisanten“.

Bereits zwischen 15:30 Uhr und 16:00 Uhr hatten Polizeikräfte damit begonnen, mehrere hundert Personen zu räumen, die sich auf den Straßen vor dem Institut versammelt hatten, um ihre Unterstützung zu bekunden. In Reaktion auf die polizeilichen Maßnahmen vor dem Gebäude wurde die Diskussion im Innern unterbrochen und bemühte sich die Präsidentin um eine Klärung des Sachverhalts. Aufgrund dieser Verzögerung sollte die „Vollversammlung“ nunmehr bis 19:00 Uhr verlängert werden. Gegen 17.15 Uhr trat die HU-Präsidentin vor das besetzte Institut und sprach längere Zeit mit anwesenden Polizeikräften, aber auch mit ihren Mitarbeiter:innen und Vertreter:innen der Aktivist:innen. Inzwischen besetzte die Polizei die Eingänge des Instituts und verhinderte, dass Personen das Gebäude betraten oder verließen.

Um 18:30 Uhr betraten mehrere Gruppen der Bereitschaftspolizei das Institutsgebäude und begannen, die Anwesenden im Inneren zu kesseln. Eine Hafermilchtüte flog durch den Raum und hinterließ eine Pfütze auf dem Boden – dieser „Gewaltakt“ wurde später zum Anlass genommen, gegen eine Vielzahl von Personen wegen Landfriedensbruchs zu ermitteln. Obwohl die Präsidentin zunächst in Verhandlungen mit der polizeilichen Einsatzleitung einen undokumentierten Abzug der Teilnehmer:innen vereinbart hatte, unterzog die Polizei alle Anwesenden, von den Studierenden bis zum Vizepräsidenten, einer Identitätsfeststellung und in Teilen auch einer erkennungsdienstlichen Behandlung. Weiteres Insistieren der Präsidentin bei der Einsatzleitung blieb erfolglos.

Es folgte die zwangsweise Räumung des Instituts durch die Polizei. Abgeführt und erkennungsdienstlich behandelt wurde auch ein Rechtsbeistand der Studierenden, der die Verhandlungen mit dem Präsidium begleitet hatte. Einem Videojournalist der Berliner Zeitung wurde mehrfach ins Gesicht geschlagen und er wurde anschließend ohne ärztliche Versorgung mehrere Stunden festgehalten

Gegen 22 Uhr erklärte die Polizei die Räumung für abgeschlossen, das Gebäude wurde einem Sprecher zufolge an den Sicherheitsdienst der Universität übergeben. Dem Vernehmen nach waren einige Dienstkräfte seit 5 Uhr im Einsatz – am Vormittag waren sie noch mit der Absicherung des Staatsakts zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes betraut gewesen.

Unklare Entscheidungslage

In der Berichterstattung war die Rede davon, dass vor allem Berlins Regierender Bürgermeister auf die Räumung gedrängt habe. Die Präsidentin der HU wird mit den Worten zitiert: „Es kam dann die Anweisung von ganz oben, die Besetzung zu beenden. Dieser Anweisung habe ich Folge geleistet“. Vertreter:innen der Studierendenschaft berichten uns, dass die Präsidentin nach einem Telefonat mitgeteilt habe, dass sie von der Wissenschaftssenatorin und dem Regierenden Bürgermeister angewiesen worden sei, die Besetzung zu beenden. Als sie vor 18:00 Uhr nochmals den telefonischen Kontakt zur Senatorin gesucht habe, sei diese nicht mehr erreichbar gewesen.

Die Senatorin für Wissenschaft sprach später in einem Pressestatement hingegen von einer konsensualen Entscheidung: „Die Beendigung der Besetzung war gestern auch Thema in einem Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister, der für die Polizei zuständigen Innensenatorin und der Präsidentin der Humboldt Universität. Wir haben uns gemeinsam darauf verständigt, dass die Universitätsleitung die Besetzung beendet und die Demonstranten aufgefordert werden, das besetzte Institut zu verlassen.“

Das Hausrecht der Präsidentin

Angesichts der geschilderten Geschehnisse und der derzeitigen Lage an den Hochschulen drängt sich die Frage auf, ob die Hochschulpräsidentin rechtlich verpflichtet war, sich dem Druck des Senats zu beugen, oder ob die Entscheidung über das weitere Vorgehen doch bei ihr lag. Mit anderen Worten ist zu klären, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen der Senat eine Weisungsbefugnis gegenüber der Hochschulpräsidentin besaß. Nicht geklärt werden kann an dieser Stelle hingegen, ob bzw. mit welchem Inhalt eine solche Weisung tatsächlich erfolgt ist.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist zunächst die Frage, wer überhaupt dafür zuständig war, über die Räumung des besetzten Instituts zu entscheiden.

Da das Anliegen der Besetzer:innen in einem Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung lag, ist zunächst an eine versammlungsrechtliche Zuständigkeit zu denken, die gem. § 31 Versammlungsfreiheitsgesetz Berlin (VersFG) bei der Polizei liegt. Denn innerhalb ihres Anwendungsbereichs entfalten die Versammlungsgesetze grundsätzlich eine Sperrwirkung gegenüber Befugnissen, die sich aus anderen Gesetzen ergeben. Allerdings lag die Entscheidung über die Räumung selbst außerhalb des Anwendungsbereichs. Das Versammlungsrecht ermöglicht in entsprechenden Situationen lediglich die Auflösung der Versammlung bzw. den Ausschluss einzelner Störer:innen (§ 22 I VersFG), was zu einer Beendigung der Schutzwirkung des Versammlungsgesetzes führt. Die Auflösung – so es sie denn gegeben hat – war somit zwar notwendig, aber nicht hinreichend für das weitere Vorgehen.

Mit dem Entfallen der Schutzwirkung des Versammlungsgesetzes regelte sich die Zuständigkeit nach den allgemeinen Vorschriften zur Gefahrenabwehr. Eine Kompetenzbegründung über die Zuständigkeit zur Strafverfolgung scheidet hingegen aus, da die Räumung nicht der Strafverfolgung, sondern der Beendigung des durch die Besetzung entstandenen rechtswidrigen Zustands diente.

Die Zuständigkeit zur Gefahrenabwehr liegt in Berlin gem. § 1 I 1 Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) grundsätzlich bei den allgemeinen Ordnungsbehörden, dies sind gem. § 2 II ASOG der Senat sowie die Bezirksämter, und bei der Polizei. Dabei wird die Polizei nach § 4 I ASOG jedoch in eigener Zuständigkeit nur tätig, soweit die Abwehr der Gefahr durch eine andere Behörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint. Soweit § 4 I ASOG eine Ausnahme von der Subsidiarität der polizeilichen Zuständigkeit für den Bereich der Straftatenverhütung vorsieht, betrifft dies allein das Tätigwerden im Vorfeld konkreter Gefahren.1)

Die Zuständigkeit der Ordnungsbehörden wird vorliegend jedoch durch die speziellere Regelung des § 52 II 2 Berliner Hochschulgesetz (BerlHG) verdrängt. Dieser ordnet an, dass das Hausrecht an den Berliner Hochschulen durch den Präsidenten oder die Präsidentin wahrgenommen wird.2) Vorliegend oblag es damit also der Präsidentin der HU, die notwendigen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren zu treffen.

Da die Präsidentin mit der Angelegenheit der Besetzung auch tatsächlich befasst war, schied ein eigenständiges Tätigwerden der Polizei aus. Diese durfte vorliegend nur noch auf Ersuchen der Präsidentin tätig werden, insbesondere im Rahmen der Vollzugshilfe nach § 52 I ASOG.

Hochschulautonomie und Rechtsaufsicht

War die Präsidentin also im Ausgangspunkt zuständig dafür, zu entscheiden, wie mit der Besetzung des Instituts umzugehen war, stellt sich nun die Frage, ob bzw. inwieweit der Senat oder einzelne seiner Mitglieder berechtigt waren, ein anderes Vorgehen durchzusetzen.

Hier ist zunächst der Grundsatz der Hochschulautonomie zu beachten. Anders als in den meisten anderen Bundesländern ist diese in Berlin zwar nicht in der Landesverfassung enthalten. Jedoch räumt § 2 I 2 BerlHG den Hochschulen ausdrücklich „das Recht der Selbstverwaltung im Rahmen des Gesetzes“ ein.

Diesem Grundsatz entsprechend unterstehen die Hochschulen gem. § 89 II 1 BerlHG einer Fachaufsicht des Senats nur dann, wenn sie Aufgaben wahrnehmen, „die ihnen als staatliche Angelegenheiten übertragen“ sind. Eine solche Übertragung findet insbesondere in § 2 III 1 BerlHG statt, wonach die „Personalverwaltung, die Wirtschaftsverwaltung, die Haushalts- und Finanzverwaltung der Hochschulen, die Erhebung von Gebühren und die Krankenversorgung“ staatliche Angelegenheiten sind. Bei der Ausübung des Hausrechts handelt es sich im Gegenschluss und in der Sache hingegen nicht um eine „staatliche“, sondern um eine eigene Angelegenheit der Hochschule.

Ein Aufsichtsrecht der Senatsverwaltung gegenüber der HU bestand demnach nur als Rechtsaufsicht nach § 89 I BerlHG. Wie ihr Name besagt, ermöglicht die Rechtsaufsicht eine bloße Kontrolle der Rechtmäßigkeit, Eingriffe in das Ermessen des kontrollierten Organs sind hingegen ausgeschlossen.

Für die Durchführung der Rechtsaufsicht verweist § 89 I 2 BerlHG zunächst auf die §§ 10 bis 13 des Allgemeinen Zuständigkeitsgesetzes (AZG), welches dort die Aufsicht des Senats gegenüber den Bezirken regelt. Das AZG sieht hier ein Informationsrecht (§ 10 AZG), ein Aufhebungs- (§ 11 AZG) und ein Anweisungsrecht (§ 12 AZG) sowie ein Recht zur Ersatzbeschlussfassung (§ 13 AZG) vor. § 28 V AZG, auf den ebenfalls verwiesen wird, regelt die Staatsaufsicht gegenüber den landesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts und sieht die Möglichkeit der Bestellung eine:r Beauftragten vor.

Relevanz kommt vorliegend vor allem § 12 AZG zu, wonach der Senat dem zuständigen Organ aufgeben kann, „innerhalb bestimmter Frist die erforderlichen Beschlüsse zu fassen oder die erforderlichen Anordnungen zu treffen“, wenn es das Organ unterlässt, „Beschlüsse zu fassen oder Anordnungen zu treffen, die zur Erfüllung rechtlicher Verpflichtungen oder zur Einhaltung von Verwaltungsvorschriften erforderlich sind“.

Da gem. Art. 58 V Verfassung von Berlin (VvB) jedes Mitglied des Senats seinen Geschäftsbereich selbstständig und in eigener Verantwortung leitet, lag die Weisungsbefugnis bei der Senatorin für Wissenschaft.

Rechtspflicht zur Räumung?

Entsprechend der Funktion als Mittel der Rechtsaufsicht setzt eine Weisung auf der Grundlage des § 12 AZG voraus, dass die Präsidentin es unterließ, Beschlüsse zu fassen oder Anordnungen zu treffen, zu denen sie rechtlich verpflichtet war. Bestand aber nun eine Rechtspflicht seitens der Präsidentin, die Räumung zu veranlassen?

Störung der öffentlichen Sicherheit

Für das Bestehen einer solchen Verpflichtung müsste das entsprechende Vorgehen zunächst einmal überhaupt rechtlich zulässig sein. Dass § 52 II 2 BerlHG der Hochschulpräsidentin das Hausrecht überträgt, reicht hierzu allein noch nicht aus, da die Regelung keine weiteren Angaben zu Inhalt und Durchsetzbarkeit dieses Rechts enthält. Insoweit bietet sich eine entsprechende Anwendung des ASOG an, insbesondere können die Ordnungsbehörden gem. § 29 I 1 ASOG zur Abwehr einer Gefahr eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen.

Zentrale Voraussetzung wäre also, dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorlag. Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfasst bekanntermaßen die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, die Unverletzlichkeit der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie den Bestand der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger der Hoheitsgewalt. Dabei sind allerdings auch etwaige Beeinträchtigungen subjektiver Rechte oder der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates primär anhand der positiven Rechtsordnung zu beurteilen.

Eine Störung der „Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates“ könnte insoweit vorgelegen haben, als die Besetzung die Hochschule daran hinderte, die ihr zukommenden Aufgaben zu erfüllen.

Gem. § 4 I 1 BerlHG dienen die Hochschulen der Pflege und Entwicklung von Wissenschaft und Kunst durch Forschung, Lehre und Studium und der Vorbereitung auf berufliche Tätigkeiten. Diesem Ziel könnte die Besetzung zuwidergelaufen sein, als sie die Nutzung des Instituts für diese Zwecke verhinderte.

Allerdings ist zu beachten, dass die Berliner Hochschulen nach § 4 I 2 BerlHG auch an der Erhaltung des demokratischen Rechtsstaates mitwirken und zur Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen beitragen sollen. Nach § 4 II 1 BerlHG nehmen die Hochschulen zudem eine besondere Verantwortung für die Entwicklung von Lösungsansätzen für gesellschaftliche Fragestellungen und die Entwicklung der Gesellschaft wahr. Insofern ließe sich das Gebrauchmachen der Studierenden von ihren Grundrechten der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, um auf die Beteiligung Deutschlands an einem möglichen Völkermord an den Palästinenser:innen in Gaza aufmerksam zu machen, durchaus als Erfüllung universitärer Aufgaben verstehen.

Eine Störung der öffentlichen Sicherheit lag allerdings insofern vor, als die Besetzer:innen gegen die objektive Rechtsordnung verstießen. Dies betrifft zunächst einmal die Hausordnung der HU: So sieht die Rahmenhausordnung der HU vor, dass Gebäude nur während der Öffnungszeiten zu nutzen sind (§ 4 S. 2), dass bei der Nutzung das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme gilt (§ 5 I 1) und eine Nutzung durch Dritte nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung erlaubt wird (§ 6 I). Gem. § 7 I sind zudem (e) das Besprühen, Bemalen, Beschriften, Verschmutzen, Beschädigen oder Missbrauchen von Flächen, Decken, Wänden und Ausstattungsgegenständen sowie (f) das Übernachten in Räumen ausdrücklich untersagt. Mittelbar dürfte hierin auch ein Verstoß gegen die Pflichten aus § 44 I Nr. 2 BerlHG zu sehen sein, wonach die Mitglieder der Hochschule sich so zu verhalten haben, dass die Hochschule und ihre Organe ihre Aufgaben erfüllen können und niemand gehindert wird, seine oder ihre Pflichten und Rechte an der Hochschule wahrzunehmen.

Im Raum stehen überdies auch Verstöße gegen Strafnormen durch und während der Besetzung. In Betracht kommt vor allem ein Hausfriedensbruch nach § 123 I StGB. Schwerer Hausfriedensbruch (§ 124 StGB) sowie Landfriedensbruch (§ 125 StGB) setzen hingegen Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen bzw. die Drohung mit bzw. die Absicht zu diesen voraus, wofür es – soweit erkennbar – keine Anhaltspunkte gibt. Insbesondere stellt weder das Werfen einer einzelnen Hafermilchtüte noch „das Beschmieren oder Besprühen einer Wand mit Parolen“ schon eine Gewalttätigkeit gegen eine Sache dar.3) Letzteres dürfte hingegen den Tatbestand der Sachbeschädigung nach § 303 II StGB erfüllen. Die gemeinschädliche Sachbeschädigung nach § 304 I, II StGB würde hingegen die Änderung des Erscheinungsbilds von Gegenständen voraussetzen, „welche zum öffentlichen […] Nutzen dienen“, worunter nicht schon allgemein Gegenstände zur behördlichen Aufgabenerfüllung fallen.4)

Im Raum stehen zudem Delikte nach § 86a StGB bzw. § 20 I Nr. 5 VereinsG, durch den Gebrauch der Parole „from the river to the sea“ sowie das Zeichen eines roten Dreiecks. Letzteres ist allerdings schon nicht in der gegen die Hamas gerichteten Verbotsverfügung des Bundesministerium des Innern genannt und ist auch keinem der dort genannten Kennzeichen i.S.d. § 86a II 2 StGB, § 9 II 1 VereinsG „zum Verwechseln ähnlich“. Einem Einbezug in die Strafbarkeit dürfte deshalb schon der nulla-poena-Grundsatz des Art. 103 II GG entgegenstehen. Bzgl. der Parole „from the river to the sea“ ist aktuell hochumstritten, wann und unter welchen Voraussetzungen ihr Gebrauch als Kennzeichen der verbotenen Hamas zu bewerten ist, da sie auch ganz unabhängig von dieser konkreten Organisation gebraucht wird und sich schon lange vor deren Gründung im Gebrauch befand. Neben Art. 103 II GG dürfte auch die Meinungsfreiheit einer Kriminalisierung der Parole enge Grenzen setzen, da nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG (Rn. 126) bei mehrdeutigen Äußerungen nicht die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrunde gelegt werden darf, ohne vorher die anderen möglichen Deutungen mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen zu haben.

Ermessensreduktion?

Demnach lagen die Voraussetzungen für den Erlass eines Platzverweises und dessen anschließender Durchsetzung gegenüber den Besetzer:innen zwar grundsätzlich vor. Hieraus folgt aber noch keineswegs, dass die Präsidentin auch rechtlich verpflichtet gewesen wäre, zu diesen Mitteln zu greifen.

Das Gefahrenabwehrrecht ist geprägt durch das sogenannte Opportunitätsprinzip. Danach stehen sowohl das Entschließungsermessen hinsichtlich des „Ob“ eines Einschreitens als auch das Auswahlermessen hinsichtlich des „Wie“ eines Einschreitens im Ermessen der Behörde. Eine Ermessensreduktion kommt dagegen grundsätzlich erst in Betracht, wenn besonders wichtige Rechtsgüter unmittelbar gefährdet sind.5)

Dabei sind vorliegend nur wenige Gründe ersichtlich, die für eine Ermessensreduktion sprechen könnten: Eine nachhaltige Störung des Forschungs- und Lehrbetriebs durch die Besetzung war nicht gegeben: Vorlesungen und Seminare wurden online durchgeführt, Mitarbeiter:innen wechselten ins Homeoffice. Die Verstöße gegen die Hausordnung können eine Pflicht zum Einschreiten von vornherein nicht begründen. Der Hausfriedensbruch wurde durch die Duldung gleichsam legalisiert. Bzgl. der Sachbeschädigung durch das Besprühen der Wände dürfte fraglich sein, inwieweit zum Zeitpunkt der Räumung noch die reelle Gefahr bestand, dass hier weitere Beschädigungen hinzukommen würden; die bereits geschehenen Beschädigungen ließen sich jedenfalls nicht mehr abwehren. Eine pauschale Beurteilung des gegen Israel gerichteten Protests als antisemitisch ist angesichts der verfassungsgerichtlich geforderten Sorgfalt bei der Interpretation von Meinungsäußerungen abzulehnen. Es ist insoweit auch nichts ersichtlich, was dafür sprechen würde, dass die Proteste sich nicht gegen die Kriegsführung des Staates Israel, sondern stattdessen gegen „die Juden“ gerichtet hätten, zumal sich auch jüdische Personen unter den Besetzer:innen befanden.

Schließlich ging es vorliegend auch nicht um das „Ob“ eines Vorgehens, also das Entschließungsermessen. Denn die Präsidentin war keineswegs untätig geblieben, sondern versuchte den rechtswidrigen Zustand auf eine weniger eingriffsintensive Weise zu beseitigen, nämlich im Dialog mit den Besetzer:innen. Ein solches Vorgehen war weder von vornherein ungeeignet, die Besetzung zu beenden, wie zuvor die Bewältigung einer Protestaktion an der TU Berlin durch die dortige Präsidentin gezeigt hat. Es kann zudem für sich in Anspruch nehmen, mit der Aufgabenbeschreibung der Hochschule nach § 4 I, II BerlHG im Einklang zu stehen und dem Schutz- und Gewährleistungsauftrag des § 3 I VersFG zu entsprechen. Dies gilt umso mehr, als es nach vorangegangen Erfahrungen nicht unwahrscheinlich war, dass die eingesetzten Polizeikräfte bei der Räumung ihrerseits Straftaten zum Nachteil der Besetzer:innen begehen würden.

Im Ergebnis spricht nach den bislang bekannten Tatsachen wenig dafür, dass ein Verzicht auf die Räumung seitens der Präsidentin und eine Fortführung des Dialogs rechtswidrig gewesen sein sollten. Dass der Berliner Senat als aufsichtführende Stelle andere Mittel als vorzugswürdig angesehen haben mag, reicht im Rahmen der Rechtsaufsicht gerade nicht für ein Tätigwerden aus.

„Universitätsfreundliches Verhalten“

Selbst wenn man bei anderer Sachlage von einer rechtlichen Verpflichtung der Präsidentin ausgehen würde, die Räumung anzuordnen, würde hieraus noch nicht  automatisch die Rechtmäßigkeit einer entsprechenden Weisung folgen. Im Verhältnis zwischen der Hochschule als Selbstverwaltungskörperschaft und dem aufsichtführenden Senat gilt vielmehr der Grundsatz des „universitätsfreundlichen Verhaltens“.6) Demnach hat der Senat bei der Ausübung des Aufsichtsrechts den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf nicht stärker als unbedingt notwendig in die Hochschulautonomie eingreifen.

Dies gilt dabei nicht nur für die eigentliche Weisung, sondern auch für etwaige vorgelagerte Maßnahmen. So würde sich vorliegend auch die Androhung einer Weisung als rechtswidrig darstellen. Eine solche Androhung kann als mildere Maßnahme zwar ebenfalls auf § 12 AZG gestützt werden und aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ggf. sogar geboten sein. Sie ist aber nur dann rechtmäßig, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Weisung tatsächlich vorliegen.

Schließlich verstieß auch der Tweet, den der Regierende Bürgermeister absetzte, während die Präsidentin noch mit den Besetzer:innen verhandelte, gegen den Grundsatz des „universitätsfreundlichen Verhaltens“. Als Aufsichtsorgan hat der Senat die Hochschulautonomie zu respektieren. Selbst dann, wenn das Vorgehen der Präsidentin rechtswidrig gewesen wäre, hätte es gegen entsprechende Rücksichtnahmepflichten verstoßen, öffentlichen Druck auf sie auszuüben.

Fazit: Die Verwaltungsorganisation ist kein rechtsfreier Raum

Die Berliner Hochschulen sind kein rechtsfreier Raum, verfügen aber über Autonomie. Als Selbstverwaltungskörperschaften unterliegen sie nur einer begrenzten Aufsicht des Landes. In Angelegenheiten des Hausrechts, das der Präsidentin der Hochschule übertragen ist, beschränkt sich dies auf die bloße Rechtsaufsicht. Die Aufsicht ist hier darauf beschränkt, rechtswidriges Handeln zu korrigieren; darüber hinausgehende Möglichkeiten, eigene Auffassungen durchzusetzen, stehen ihr nicht zu.

Dafür, dass der von der Präsidentin der HU eingeschlagene Weg, auf eine gewaltsame Räumung des Instituts zu verzichten und einen Dialog mit den Besetzer:innen zu führen, rechtswidrig war, liegen keine Anhaltspunkte vor. Zwar hätte die Präsidentin wohl grundsätzlich die Möglichkeit gehabt, das Institut räumen zu lassen. Sie war hierzu aber keineswegs verpflichtet, sondern konnte nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen darüber entscheiden, wie sie auf die Besetzung reagierte. Eine Weisung seitens des Senats wäre, ebenso wie die Androhung einer Weisung, rechtswidrig gewesen. Rechtswidrig war zudem der Versuch des Regierenden Bürgermeisters, mittels sozialer Medien während des laufenden Entscheidungsprozesses Druck auf die Präsidentin aufzubauen.

References

References
1 Bäcker, in: Lisken/Denninger, 7. Aufl. 2021, Kap. D Rn. 26.
2 Zum Hausrecht vgl. BeckOK HochschulR Bayern/Jaburek, 26. Ed. 1.8.2022, BayHSchG Art. 21 Rn. 39.
3 Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schittenhelm, 30. Aufl. 2019, StGB § 125 Rn. 6.
4 BeckOK StGB/Weidemann, 60. Ed. 1.2.2024, StGB § 304 Rn. 7, 8.
5 Graulich, in: Lisken/Denninger, 7. Aufl. 2021, Kap. E Rn. 114.
6 BeckOK HochschulR NRW/von Coelln, 30. Ed. 1.3.2024, HG § 76 Rn. 22.

SUGGESTED CITATION  Plöse, Michael; Rusteberg, Benjamin: Besetzte Hochschulautonomie: Berliner Verhältnisse am Tag des Grundgesetzes, VerfBlog, 2024/6/03, https://verfassungsblog.de/besetzte-hochschulautonomie/, DOI: 10.59704/4deb5faab59ccec2.

4 Comments

  1. JF Lindner Thu 6 Jun 2024 at 09:33 - Reply

    Zwei Anmerkungen:

    1. “Da die Präsidentin mit der Angelegenheit der Besetzung auch tatsächlich befasst war, schied ein eigenständiges Tätigwerden der Polizei aus.” Diese Aussage ist in ihrer Pauschalität nicht haltbar (vgl. § 4 Abs. 1 BerlASOG). Es kann bei erheblichen Gefährdungen der öff. Sicherheit durchaus Situationen geben, in denen sich die Polizei über ein Nichtsstun der eigentlich zuständigen Stelle hiunwegsetzen darf oder sogar muss.

    2. Selbst wenn die (angebliche) Weisung an die Präsidentin rechtswidrig gewesen sei sollte, hätte die Präsidentin sie nicht einfach unbeachtet lassen dürfen (Regelungswirkung des wirksamen, wenn auch rechtswidrigen Verwaltungsaktes, wenn man einen solchen annimmt).

  2. Sven Hansen (Rechtsanwalt) Thu 6 Jun 2024 at 11:31 - Reply

    Zitat aus dem Artikel [nach der Überschrift “Ermessensreduktion]

    “Es ist insoweit auch nichts ersichtlich, was dafür sprechen würde, dass die Proteste sich nicht gegen die Kriegsführung des Staates Israel, sondern stattdessen gegen „die Juden“ gerichtet hätten, zumal sich auch jüdische Personen unter den Besetzer:innen befanden.”

    Wenn die beiden Autoren sich da mal nicht den Sachverhalt zusammengebogen (oder diesen in relevanten Teilen schlicht negiert) haben!

    Denn die Presse (u.a. Tagesspiegel) hat berichtet [1]:

    “An Fenstern waren auch umgedrehte rote Dreiecke zu sehen – ein Symbol, das seit dem 7. Oktober mehrfach in Videos der Hamas verwendet wurde, um Angriffsziele zu markieren. Der Spruch „From the river to the sea“ prangte ebenfalls an einem Fenster.”

    Umgedrehte, rote Dreiecke sollen sich nicht gegen Juden richten?

    Der Spruch „From the river to the sea“ stammt von der (in D verbotenen) Hamas und wird teilweise als strafrechtlich relevant eingeschätzt – und diese und der Spruch sollen sich nicht gegen “die Juden” richten?

    Völlig absurd ist dann die Anmerkung, es hätten sich auch jüdische Personen unter den Besetzer:innen befunden, was im Kontext dagegen sprechen soll, dass die Proteste sich nicht gegen “die Juden” gerichtet hätten.

    Wenn auf der Demo einer rechtsextremen Partei, die sich gegen Ausländer richtet, ein:e Deutsche:r mit Migrationshintergrund mitläuft – soll die Partei dann aufgrund dieser Person so bewertet werden (können), als richte sie sich nicht gegen Ausländer?

    Ich kann mich daher des Eindrucks nicht erwehren, dass der Artikel im Hinblick auf ein gewünschtes rechtliches Ergebnis hin verfasst worden sein könnte.

    [1]
    https://www.tagesspiegel.de/berlin/pro-palastina-besetzung-beendet-berliner-polizei-raumt-humboldt-universitat–wegner-machte-druck-11700143.html

    • Sven Hansen (Rechtsanwalt) Thu 6 Jun 2024 at 19:19 - Reply

      Im drittletzten Absatz meines Kommentars muss es richtigerweise lauten:

      .., was im Kontext dafür sprechen soll, dass..

  3. Benjamin Rusteberg Thu 6 Jun 2024 at 23:36 - Reply

    Lieber Herr Lindner,
    die Nummer 1 Ihrer Anmerkungen überzeugt mich nicht: Nach § 4 I ASOG wird die Polizei “im Rahmen der Gefahrenabwehr […] in eigener Zuständigkeit nur tätig, soweit die Abwehr der Gefahr durch eine andere Behörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint.” In dem Fall, dass die Ordnungsbehörde die Sache “an sich zieht” und sich für ein anderes Vorgehen entscheidet, ist die Gefahrenabwehr für sie nicht unmöglich, eine Zuständigkeit der Polizei besteht nicht. Dies entspricht auch der Nachordnung der Polizei ggü. den Ordnungsbehörden, wie sie nach der Entpolizeilichung gewollt war. Eingreifen kann hier die Aufsicht, die im Falle des Hausrechts der Hochschulpräsidentin aber eben – anders als sonst – keine Fach-, sondern lediglich eine Rechtsaufsicht ist.
    Zu Nummer 2 d’accord, diesbezüglich haben wir aber auch nichts Gegenteiliges behauptet. Hier müsste die Hochschule im Fall der Fälle einstweiligen Rechtsschutz vor dem VG suchen.

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