Wie viel Pay ist Equal Pay?
Zum Daimler-Urteil des LAG Baden-Württemberg
Nach wie vor herrscht ein eklatantes geschlechtsspezifisches Lohngefälle in Deutschland. Frauen verdienen im Durchschnitt pro Stunde unbereinigt weiterhin 18% bzw. 4,46 € weniger Entgelt als Männer – ungeachtet sämtlicher gesetzlicher Regelungen, die Gegenteiliges vorschreiben. Damit ist Deutschland eines der Schlusslichter in der EU (siehe hier). Die Bürde, die eine Equal-Pay-Individualklage mit sich bringt, nehmen Betroffene aber nur selten auf sich. Zu sehr hemmt das strukturelle Machtungleichgewicht im Arbeitsverhältnis, zu groß ist die damit verbundene Angst vor indirekten Sanktionen. Auch die Last, nach einem jahrelangen Gerichtsverfahren im ersten Rechtszug im Arbeitsgerichtsverfahren stets die eigenen Anwaltskosten tragen zu müssen (und zwar unabhängig vom Ausgang des Verfahrens), schreckt Betroffene ab.
Eine Mitarbeiterin der Daimler AG entschied sich trotz alldem für eine Klage und hatte Erfolg: Das Arbeitsgericht Stuttgart stellte eine geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung fest (ArbG Stuttgart, Urt. v. 22.11.2023 – Az. Ca 7069/21) und sprach ihr die Differenz zum Medianentgelt der männlichen Vergleichsgruppe zu. Doch müssen sich Betroffene von Lohndiskriminierung damit zufriedengeben, dass nur der Median der Vergleichsgruppe Zielgröße für das nachzuzahlende Gehalt ist? Diese Frage beantwortete das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 1. Oktober 2024 (Az. 2 Sa 14/24) in überraschender Weise: Es gewährte der Klägerin einen Ausgleich in Höhe der Differenz zwischen dem weiblichen und dem männlichen Medianentgelt – und wich damit von der Rechtsprechung des EuGH und des BAG ab. Eine Entscheidung, die dazu führen würde, dass Betroffene von Lohndiskriminierungen in keinem Fall ein ihnen zustehendes Spitzengehalt gerichtlich geltend machen könnten. Das kann weder mit Blick auf Art. 3 Abs. 2 GG noch auf den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes richtig sein.
Zum Verfahren
Weil die Entscheidungsgründe noch nicht öffentlich sind, beziehe ich mich für die Hintergründe zum Verfahren auf Angaben der Gesellschaft für Freiheitsrechte ( GFF), die das Verfahren seit der ersten Instanz begleitet, ebenso wie bereits zwei wegweisende Verfahren zuvor, in denen Fragen der Entgeltgleichheit bis zum Bundesarbeitsgericht verhandelt wurden (BAG, Urt. v. 25.06.2020 – 8 AZR 145/19, siehe auch hier; sowie BAG, Urt. v. 16.02.2023 – AZR 450/21, siehe auch hier).
Nach Angaben der GFF auf ihrer Website sei die Klägerin seit mehr als 30 Jahren Arbeitnehmerin der Daimler AG bzw. der Daimler Truck AG. Sie sei vor mehr als 15 Jahren auf die dritte Hierarchieebene leitender Führungskräfte (sog. E3-Ebene) befördert worden und damit einer Abteilungsleitung gleichzusetzen. Dabei habe die Klägerin substanziell weniger Entgelt erhalten als ihre männlichen Kollegen aus demselben Unternehmensbereich, die mindestens gleichwertig qualifiziert waren: Ihr Median-Monatsgehalt hätte zwischen 2018 und 2022 circa 18 % unter dem der männlichen Vergleichsgruppe gelegen. Und auch weitere Gehaltsbestandteile, etwa die Zuteilung virtueller Aktien für männliche Kollegen derselben E3-Ebene, seien deutlich höher ausgefallen. Nach weiteren Hintergrundinformationen der GFF hätte die Klägerin insbesondere ab dem Rückkehrzeitpunkt nach der Elternzeit in Teilzeit deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen verdient.
Der GFF zufolge handele es sich aber um keinen Einzelfall bei der Daimler AG. So hätten Befragungen innerhalb des Unternehmens und die Einführung eines Lohntransparenz-Dashboards ergeben, dass circa 90 % der bei der Daimler AG angestellten Frauen unter dem Median-Entgelt ihrer persönlichen männlichen Vergleichsgruppe lägen. Zwischenzeitlich hätten sich deshalb sechs weitere Klägerinnen ebenfalls gerichtlich gegen das Unternehmen gewandt (siehe zum Ganzen hier). Die Daimler AG betonte jedoch, dass es sich bei dem Verfahren vor dem LAG um das einzige anhängige Verfahren gegen die Daimler Truck AG handele und sich die anderen Verfahren gegen die Mercedes-Benz Group AG richteten.
Doppelte geschlechtsspezifische Diskriminierung?
Infolge der Entscheidung des ArbG hatte das LAG also nun zu entscheiden, ob es genügt, das nachzuzahlende Entgelt an der Differenz zum Medianengelt der männlichen Vergleichsgruppe zu bemessen. Im Wesentlichen stellte sich die Frage, ob sich die Klägerin aufgrund der Lohndiskriminierungen mit dem Median der Vergleichsgehälter zufriedengeben müsste oder ob sie auch das Spitzengehalt eines Vergleichskollegen durchsetzen könnte (siehe auch hier).
Mediane sind Lageparameter. Sie bilden den mittleren Wert einer Folge von nach aufsteigender Größe sortierten Werten. Das bedeutet: Oberhalb beziehungsweise unterhalb eines Medians liegen jeweils die Hälfte der Werte. Das Medianentgelt ist also das Entgelt, das genau in der Mitte der Entgeltwerte liegt, das eine bestimmte Vergleichsgruppe enthält.
Das LAG entschied sich, dazu eine neue Bemessungsgrundlage zu nutzen, indem es eine Nachzahlung anhand der Differenz zwischen dem weiblichen und dem männlichen Mediangehalt ermittelte. Diese Entscheidung begründete das LAG damit, dass ein hinreichendes Indiz für eine geschlechtsbezogene Benachteiligung zwar vorliege, weil das männliche Medianentgelt höher war als das weibliche. Allerdings lag das Entgelt der Klägerin auch unterhalb des von der Beklagten konkret bezifferten Medianentgelts der weiblichen Vergleichsgruppe. Daher ergab sich für das LAG keine hinreichende Kausalitätsvermutung dahingehend, dass die volle Differenz des individuellen Gehalts der Klägerin zum Gehalt eines namentlich benannten männlichen Kollegen auf einer unmittelbaren geschlechtsbedingten Benachteiligung beruhte (vgl. Medienmitteilung des LAG v. 01.10.2024). Mit anderen Worten: Weil die Klägerin nicht nur weniger als die männliche Vergleichsgruppe, sondern auch weniger als ihre weiblichen Kolleginnen verdiente, käme eine unmittelbare Benachteiligung hier nicht in Betracht. Aus Art. 157 AEUV bzw. § 3 Abs. 1, § 7 EntgTranspG könne sich daher kein Anspruch auf den maximal denkbaren Differenzbetrag zu dem Spitzenverdiener ergeben. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache für beide Parteien ließ das LAG zu.
Geht man von den Angaben der der GFF aus, so liegt es jedenfalls nahe, dass das niedrigere Entgelt der Klägerin hier nicht nur mit dem Merkmal des Geschlechts allein, sondern auch mit weiteren, mit dem Geschlecht zusammenhängenden Umständen – namentlich der Teilzeitarbeit infolge der Schwanger- und Mutterschaft – zusammenhängt. Es ist in derart gelagerten Fällen zwar schwieriger, eine Vergleichsgruppenbildung zur Ermittlung der unmittelbaren Diskriminierung i.S.v. § 3 Abs. 1 EntgTranspG zu bilden, dennoch kann der Vergleich der Klägerin mit der weiblichen, ihrerseits benachteiligten, Vergleichsgruppe alleine nicht – wie das Gericht wohl annahm – offenbaren, dass hier keine unmittelbare geschlechtsspezifische Diskriminierung vorliege. Vielmehr weisen die angeführten Umstände darauf hin, dass sich hier gerade zwei mit dem Geschlecht zusammenhängende Benachteiligungspotentiale, die eine geschlechtsspezifische unmittelbare Diskriminierung nahelegen, realisiert haben: Einerseits erhält die Klägerin wegen des Geschlechts weniger Gehalt, andererseits aber auch wegen der Teilzeitarbeit infolge der Mutterschaft.
Frauen entscheiden sich nachweislich häufiger dafür, familienbedingt ihre Erwerbstätigkeit zu reduzieren und damit in Teilzeit zu arbeiten. Dies ist eine der Hauptursachen des Gender Pay Gaps (siehe hier sowie ausführlich hierzu Groteclaes, GVRZ 1/2024, 8ff. m.w.N.). Belegen lässt sich dies unter anderem anhand der Teilzeitquote des Statistischen Bundesamts: Während im Jahr 2023 49,9 % der Frauen in Teilzeit arbeiteten, entschieden sich nur 13,3 % der Männer, dies ebenfalls zu tun. Im Ergebnis verkennt das LAG also, dass sich eine Lohndiskriminierung potenzieren kann und das häufig auch tut, wenn mehrere (unmittelbare und/oder mittelbare) Benachteiligungspotentiale zusammentreten. Frauen, die nicht nur Frauen, sondern auch Mütter sind, werden doppelt geschlechtsspezifisch lohndiskriminiert. Sie wegen dieses doppelten Benachteiligungspotentials schlechter zu stellen als weniger benachteiligte kinderlose Frauen, ist nicht hinnehmbar.
Nichtdiskriminierung, nicht nur „ein bisschen weniger Diskriminierung“
Aber auch ungeachtet der mutmaßlichen Benachteiligung im konkreten Einzelfall überzeugt die Lösung des LAG grundlegend nicht. Denn es gilt: „Geboten ist nicht ‚ein bisschen weniger Diskriminierung‘, sondern ‚Nichtdiskriminierung‘, mithin die vollständige Beseitigung der diskriminierenden Differenzierung“ (Zimmer in: Däubler/Beck, AGG, 5. Aufl. 2022, § 8 EntgTranspG Rn. 5). Eine Lohndiskriminierung wird aber nicht vollständig beseitigt, wenn man auf die Mediane abstellt, da der Median nur in der Mitte der gezahlten Gehälter einer Personengruppe liegt. Es ist allgemein anerkannt, dass die Rechtsfolge bei Verletzung der Entgeltgleichheit die Entlohnung entsprechend einer Angleichung „nach oben“ sein muss (grundlegend EuGH, Urt. v. 17.05.1990 – Rs C – 262/88; vgl. auch BAG, Urt. v. 21.03.2018 – 10 AZR 34/17). Das bedeutet aber nicht, dass die Korrektur „nach oben“ am gemessenen Mittelwert endet. Vielmehr muss eine Orientierung an dem höheren Wert erfolgen, der im Einzelfall, konkret zum Vergleich zweier Gehälter geeignet ist. Hierfür muss der Vergleich mit einer nichtbenachteiligten Person erfolgen, die allein wegen ihres Geschlechts ein höheres Entgelt erhält, während sie die gleiche Arbeit verrichtet und gleich qualifiziert ist, wie die benachteiligte Person. Nur so kann das Entgelt richtigerweise „nach oben“ korrigiert werden.
Ferner überzeugt die Orientierung an den Medianen beider Geschlechter bereits vom Wortlaut und der Systematik des EntgTranspG her nicht. Denn das Gesetz stellt schon zur Ermittlung, ob eine Benachteiligung vorliegt, allein auf die Beschäftigten des anderen Geschlechts ab, § 3 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 EntgTranspG. Insofern muss auch deshalb mit einer Vergleichsperson des anderen Geschlechts und nicht mit einem Median – schon gar nicht dem Median der weiblichen Vergleichsgruppe – der Vergleich vollzogen werden.
Der statistische Median dient zudem lediglich der Auskunft nach den §§ 10ff. EntgTranspG. Schon dort kritisiert ihn die Literatur für seine geringe Aussagekraft, da er nur einen Hinweis darauf gebe, wie sich das Entgelt eines Beschäftigten im Verhältnis zur Vergleichsgruppe verhält (vgl. Zimmer in: Däubler/Beck, AGG, 5. Aufl. 2022, § 8 EntgTranspG Rn. 6 m.w.N.) – und gerade nicht, wie sich die konkrete Lohndiskriminierung aufgrund des Geschlechts im Einzelfall genau darstellt. Dies kann nicht anhand eines bloßen Lageparameters ermittelt werden, sondern zeigt sich am deutlichsten durch den Vergleich der konkreten benachteiligten und einer weiteren nicht benachteiligten Person.
Richtigerweise begrenzt also der nach Auskunftsverlangen mitgeteilte Median der Vergleichsgruppe nicht, wie hoch der Erfüllungsanspruch auf Nachzahlung des vorgehaltenen Entgelts ausfällt. Vielmehr kann sich die benachteiligte Person mit jedem Kollegen vergleichen, der tatsächlich gleiche oder gleichwertige Arbeit i.S.v. § 4 EntgTranspG leistet. Es steht ihr dabei frei, sich bei mehreren Vergleichspersonen eine geeignete heraussuchen (Schlachter in: ErfK, 24. Aufl. 2024, § 7 EntgTranspG, Rn. 1), also auch die bestverdienende.
Nie besser bezahlt als der mittlere Mann
Die Lösung des LAG führt jedoch dazu, dass es von vorneherein ausgeschlossen ist, dass eine Frau, die ihre Entgeltlichkeit gerichtlich durchsetzt, mehr nachzuzahlendes Entgelt erhalten kann als das mittlere Entgelt ihrer männlichen Kollegen. Dieses Ergebnis ist nicht hinnehmbar, weil Art. 3 Abs. 2 GG eine vollständige Gleichberechtigung und damit auch Gleichbezahlung gebietet und nicht bloß die Berechtigung und Bezahlung wie die der Mitte der nichtbenachteiligten Gruppe. Der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes gebietet es, dass diese vollständige Gleichberechtigung auch gerichtlich umfassend eingefordert werden kann.
Sachgerechte Lösungen sind schlicht nur dann möglich, wenn die Bemessungsgrundlage des nachzuzahlenden Entgelts im Einzelfall konkret im Vergleich zu einem Kollegen, der die gleiche oder gleichwertige Arbeit bei vergleichbarer Qualifikation und Erwerbsbiografie verrichtet, gewählt wird und diese Nachzahlung im Hinblick auf den effektiven Rechtsschutz dann auch gerichtlich durchgesetzt werden kann.
Daraus folgt auch nicht, dass jede Frau wegen des Equal Pay-Grundsatzes das Spitzengehalt erhalten muss. Vielmehr erhält sie ebenjenes Gehalt, das ein ihr anhand objektiver Kriterien vergleichbarer Kollege ebenfalls erhält. Denn das Ziel des Gleichbehandlungsdenken ist es gerade nicht, jedem das Gleiche zu verschaffen, sondern vielmehr das, was ihm tatsächlich zusteht (in diesem Sinne bereits Frey, Grundsatz der Gleichbehandlung im Arbeitsrecht, Köln 1963, S. 11).
Entgeltgleichheit endet nicht bei Führungspositionen
Ergibt sich also aus der Gehaltspolitik des Unternehmens für eine Führungsebene ein Spitzengehalt für den gewählten Vergleichskollegen, muss es der benachteiligten Person möglich sein, eine anhand dieses Spitzengehalts zu bemessende Nachzahlung des vorenthaltenen Entgelts zu erhalten. Diese Nachzahlung steht ihr zu, wenn – und auch so lag der Fall des LAGs – das Unternehmen für das geringere Gehalt keine objektiven, überprüfbaren Kriterien liefern kann. Der einzig feststellbare Grund für die Ungleichbehandlung ist in diesen Fällen, dass es sich bei dem Spitzenverdiener eben um einen Mann und nicht um eine Frau handelt.
Einer hinreichend qualifizierten Frau durch die bloße Orientierung an männlichen und weiblichen Medianen die Möglichkeit grundsätzlich zu verwehren, ein ihr objektiv zustehendes Spitzengehalt gerichtlich durchzusetzen, verstößt aber gegen das Gleichberechtigungsgebot aus Art. 3 Abs. 2 GG. Frauen würden so bei gleicher Arbeit und Qualifikation allein wegen ihres Geschlechts nie Spitzengehälter gerichtlich einfordern können. Zugleich verhindert dies auch generell effektiven Rechtsschutz im Falle der Lohndiskriminierung. Das LAG sendet aber das klare Signal, dass Frauen sich stets mit dem mittleren Gehalt der männlichen Kollegen zufriedengeben müssen. Spitzengehälter könnten so gerichtlich niemals geltend gemacht werden.
Dass aber bereits die Orientierung allein am männlichen Median unzulässig ist, hat das BAG bereits 2021 in Reaktion auf ein Urteil des LAG Niedersachsen klargestellt. Nur weil es im hiesigen Fall um die Bezahlung in hohen Hierarchieebenen und damit ein für den Arbeitgeber empfindliches nachzuzahlende Spitzengehalt ging, kann nichts anderes gelten. Das Gebot der Entgeltgleichheit endet nicht ab einer bestimmten Hierarchieebene. Zu hoffen bleibt, dass die erwartete Resonanz aus Erfurt unmissverständlich sein wird: Auch hochqualifizierte Frauen verdienen dieser Qualifikation entsprechende Gehälter, die denen ihrer hochqualifizierten männlichen Kollegen entsprechen – nicht mehr, aber vor allem nicht weniger.
Schwierig: Die ausführliche Kritik eines Urteils basierend auf Angaben einer Partei bzw. deren Vertretung und einer Pressemitteilung. Für eine juristische Veröffentlichung wäre es richtig, die Urteilsgründe abzuwarten und sich mit diesen auseinanderzusetzen.
Alle tragenden Aspekte wurden im beck-aktuell- und im LTO-Bericht ebenso wiedergegeben. Auf dem Verfassungs”blog” in meinen Augen überhaupt kein Problem.