Politisches Neuland, rechtliches Altgebiet
Eine Replik auf Joel S. Bella
Union und SPD diskutieren bei ihren Koalitionsverhandlungen laut übereinstimmenden Medienberichten nicht nur die Schuldenbremse (siehe dazu Meinel), sondern auch zwei neue Sondervermögen: eines für die Bundeswehr, eines für die Infrastruktur. Die neuen Kreditermächtigungen wären nicht von der Schuldenbremse (Art. 109 Abs. 3, 115 GG) erfasst, würden jedoch ebenfalls eine Grundgesetzänderung erfordern. An der Idee gibt es heftige Kritik: Seit der Veröffentlichung des vorläufigen Wahlergebnisses zeichnen sich neue politische Mehrheitsverhältnisse ab, unter denen zumindest ein neues Bundeswehr-Sondervermögen ausgeschlossen scheint. So findet der Vorstand der Linkspartei „Taschenspielertricks wie Sondervermögen“ „falsch“ und plädiert eher dafür, die Schuldenbremse gänzlich aufzuheben (zur Einordnung von Sondervermögen und anderen Nebenhaushalten siehe umfassend Laudage/Haas/Guter-Sandu/Murau). Eine Zusammenarbeit mit der AfD kommt aller Voraussicht nach auch nicht in Betracht.
Vor diesem Hintergrund hält Bella die Idee, das Grundgesetz vor dem Zusammentritt des 21. Bundestages zu ändern, nicht nur für politisch fragwürdig, sondern auch für verfassungsrechtlich unzulässig. Im Kern spricht er dem alten Bundestag die Legitimation ab, das Grundgesetz ändern zu können, und beschneidet damit die Kompetenzen des alten Bundestages.
Die Kompetenzen des Bundestages
Kompetenzen zeichnen sich dadurch aus, dass einem Kompetenzträger eine im Voraus bestimmte und damit begrenzte Rechtsmacht übertragen wird.1) Für das deutsche Verfassungsrecht handelt es sich um einen zentralen, gleichwohl schillernden Begriff, da es „die Demokratie nicht politisch, sondern administrativ – als Ensemble von ‚Organen‘ mit verschiedenen ‚Kompetenzen‘ – [versteht]“ (Neumeier 2022). Deutlich tritt dieses Verständnis etwa in Art. 94 Abs. 1 Nr. 1 GG zu Tage, wenn im Wege des Organstreits vor dem Bundesverfassungsgericht „über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind“ gestritten werden darf (Neumeier 2022, 20; vgl. auch BVerfGE 4, 144 [152]).
Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Änderung des Grundgesetzes – entweder des Art. 87a GG oder der Art. 109 und 115 GG. Nach Art. 79 Abs. 1 GG kann das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Die Gesetzgebungskompetenz liegt auf Bundesebene beim Bundestag. Dies gilt auch für verfassungsändernde Gesetze; anders als in anderen demokratischen Verfassungsstaaten sieht das Grundgesetz hierfür lediglich ein qualifiziertes Mehrheitserfordernis vor. Was in der Staatsrechtslehre zum Teil als Trivialisierung des Verfahrens kritisiert wird (vgl. etwa Dreier, Rn. 15 f.), ist eine bewusste Entscheidung der Väter und Mütter des Grundgesetzes (siehe Herdegen, Rn. 51), die bis zu einer Änderung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber zu respektieren ist.
In der Bundesrepublik Deutschland ist eine Grundgesetzänderung durch den Alt-Bundestag politisch nicht erprobt. Bislang hat der Bundestag in der Zeit nach der Wahl bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages nur ein einziges Mal getagt (BT-Plenarprotokoll 13/248). So beantragte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Oktober 1998 unter Berufung auf Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG die Einberufung des alten Bundestages, um die verfassungsrechtlich erforderliche Zustimmung des Bundestages zum Auslandseinsatz der Bundeswehr im Kosovo einzuholen.
Kompetenzbeschränkung nach dem Wahltag?
Will man sich über den eindeutigen Wortlaut des Art. 79 GG hinwegsetzen und die im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehenen Befugnisse des Bundestages beschneiden, bedarf es hierfür hinreichender verfassungsrechtlicher Gründe. Dessen ist sich auch Bella bewusst, weshalb er vor allem die Dreißig-Tage-Frist des Art. 39 Abs. 2 GG anführt, um aus dem Grundgesetz eine geschwächte Legitimation des alten Bundestages abzuleiten. Zusammen mit einem Verweis auf den Grundsatz der demokratischen Legitimation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt er so zu dem Ergebnis, dass der 20. Bundestag ab dem Zeitpunkt der Wahl das Grundgesetz nicht mehr ändern dürfe.
Aus Sicht des Grundgesetzes bleibt der 20. Bundestag jedoch bis zum Ende der Wahlperiode demokratisch legitimiert. Laut Art. 39 GG wird der Bundestag auf einen bestimmten Zeitraum „gewählt“. Diese Wahlperiode endet wiederum erst mit dem Zusammentritt, nicht mit der Wahl des 21. Bundestages (Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG). So wurde es auch bereits vor der Neufassung des Art. 39 GG im Jahre 1976 einhellig vertreten (vgl. Kochsiek, S. 47 f.). Das Grundgesetz schließt damit bewusst den parlamentslosen Zustand aus, die Wahlperioden gehen in jedem Falle nahtlos ineinander über. Damit ist zum einen sichergestellt, dass die Wählerinnen und Wähler zu jedem Zeitpunkt durch eine bestimmte Gruppe von Abgeordneten im Bundestag vertreten sind, die sich in wiederkehrenden Abständen regelbasiert neu zusammensetzt. Zum anderen ist auf diese Weise die Zusammensetzung des Bundesorgans eindeutig bestimmbar, so dass die Handlungsfähigkeit des Bundestages verfassungsrechtlich stets gewährleistet ist. Denn der Bundestag wird im Grundgesetz als Organ der juristischen Person „Bund“ adressiert, seine Rechte und Pflichten knüpfen an diesen Status an. Sie werden von natürlichen Personen, den Organwaltern, wahrgenommen, im Falle des Bundestages von den gewählten Abgeordneten der jeweiligen Wahlperiode, die für diesen Zeitraum gemäß Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG „Vertreter des ganzen Volkes“ sind.
Man geriete auch in spekulative Fahrwasser, wenn man sich von diesem formellen Verständnis demokratischer Legitimation verabschieden würde. Denn der Wille der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger hat sich seit der Wahl – deren Ergebnis ja heute noch nicht einmal amtlich feststeht – rechtlich gesehen nur darin manifestiert, dass sich der Bundestag neu zusammensetzen wird. Manche Abgeordnete werden aller Voraussicht nach neu in den Bundestag einziehen, andere behalten ihre Stellung auch im 21. Bundestag. Nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG sind die Abgeordneten dabei „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Welcher Partei sie angehören, ist aus Sicht des Grundgesetzes also gleichgültig, ebenso ihre politischen Präferenzen in bestimmten Sachfragen.
Das Grundgesetz zeichnet insoweit ein klares Bild, wer wen in welchem Zeitraum repräsentiert. Bis zum Zusammentritt des 21. Bundestages vertreten die Abgeordneten des 20. Bundestages ausdrücklich das „ganze Volk“ (vgl. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG); wenn 2/3 dieser Abgeordneten das Grundgesetz ändern wollen, sind sie dazu hinreichend demokratisch legitimiert.
… und die geschäftsführende Bundesregierung?
Interessanterweise verweist Bella auf die geschäftsführende Bundesregierung: Es zeige sich an ihr, dass das Fehlen einer parlamentarischen Legitimation nach dem Grundgesetz zu einer Beschränkung der Befugnisse führe, jedenfalls der Befugnisse, die einer besonderen Legitimation bedürften. Dabei verkennt er aber, dass dies das beste Beispiel ist, um seine Argumentation zu widerlegen. Da die geschäftsführende Bundesregierung nicht von der bestehenden Mehrheit des Bundestages getragen wird, stehen ihr nach herrschender Meinung in der Literatur die Rechte nicht zu, die unmittelbar an dieses Legitimationsverhältnis anknüpfen: So kann der geschäftsführende Bundeskanzler keine Vertrauensfrage nach Art. 68 GG stellen, womit ihm zugleich der Zugriff auf den Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG) verwehrt ist. Ansonsten besteht Einigkeit, dass auch die geschäftsführende Bundesregierung die gleichen Befugnisse hat wie die Bundesregierung (siehe m.w.N. aus der Literatur Hermes, Rn. 23). Warum sollte der alte Bundestag, der bis zum Zusammentreten des neuen Bundestages aus verfassungsrechtlicher Sicht demokratisch legitimiert ist, schlechter gestellt werden als die geschäftsführende Bundesregierung, deren Staatsgewalt sich nicht über die Legitimationskette auf den Volkswillen zurückführen lässt?
Nach all dem entspricht es zwar nicht den demokratischen Gepflogenheiten, nach der Wahl noch weitreichende Entscheidungen zu treffen, verfassungsrechtlich ist das allerdings nicht zu beanstanden. Bis zum Ende dieser Wahlperiode ist der jetzige Bundestag demokratisch legitimiert und als einziges Staatsorgan – unter Mitwirkung des Bundesrates – kompetent, das Grundgesetz zu ändern. Ebenso könnte die jetzige Bundesregierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen völkerrechtlichen Vertrag mit bereitwilligen Staaten aushandeln, der ähnlich dem ESM-Vertrag eine Institution schafft, die Finanzhilfen an die Ukraine vergibt, und diesen Vertrag vom Alt-Bundestag zustimmen lassen (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG). Auch eine solch faktisch unumkehrbare Entscheidung könnte der Alt-Bundestag treffen.
References
↑1 | Arbeitsdefinition von Mayer, in Kahl/Ludwigs (Hrsg.), HdB Verwaltungsrecht II, § 33 Rn. 6. |
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