Aus Anlass Polens: einige Überlegungen zum Recht auf Widerstand
Ab heute ist es amtlich: Die Mittel, zu denen Polens Regierung, Präsident und Parlamentsmehrheit im Konflikt mit dem polnischen Verfassungsgericht gegriffen haben, sind nicht einfach nur ein Verfassungsverstoß. Das ist ein Angriff auf die Grundlagen der Verfassungsstaatlichkeit selbst – auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte.
(A)s long as the situation of constitutional crisis related to the Constitutional Tribunal remains unsettled and as long as the Constitutional Tribunal cannot carry out its work in an efficient manner, not only is the rule of law in danger, but so is democracy and human rights,
schreibt die Venedig-Kommission des Europarats in ihrem heute veröffentlichten Gutachten.
Wenn man sich in Deutschland in einigen der schmuddeligeren Ecken des öffentlichen Diskurses umsieht, stößt man immer öfter auf die (teilweise mit erheblichem juristischen Begründungsaufwand vorgetragene) Behauptung, die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung löse ein Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz aus. Danach haben alle Deutschen „gegen jeden, der es unternimmt, diese (i.e. die verfassungsmäßige i.S.v. Abs. 1-3) Ordnung zu beseitigen, … das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Ich will diese unsägliche Position hier gar nicht groß analysieren (vielleicht nur so viel, falls jemand sich versucht fühlt, das auch nur entfernt plausibel zu finden: Verfassungsmäßige Ordnung => Volkssouveränität => Volk => deutsches Volk => ethnisch homogenes deutsches Volk. Finde den Fehler!)
Die Frage, die ich mir stelle, ist vielmehr diese: Wäre eine Konstellation, wie sie im Augenblick in Polen zu finden ist, ein Anwendungsfall für ein Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz entsprechendes Recht auf Widerstand? Mir scheint, das wäre sie – wenn die polnische Regierung sich dem Gutachten der Venedig-Kommission nicht beugt.
Das Recht auf Widerstand spielt in der deutschen Verfassungsrechtsdoktrin bislang (gottlob) keine große Rolle. Es gibt keinen Fall, wo es mal angekannt wurde, und die einzige verfassungsgerichtliche Judikatur dazu, soweit ich sehe, ist das zurzeit aus ganz anderen Gründen wieder viel zu Rate gezogene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum KPD-Verbot aus dem Jahr 1956. Da stand der Artikel 20 Abs. 4 freilich noch gar nicht im Grundgesetz; er wurde bekanntlich erst 1968 im Zuge der Notstandsverfassung aufgenommen.
Aus meinem Jurastudium in den 90er Jahren in München habe ich zum Recht auf Widerstand nur noch die Süffisanz in Erinnerung, mit der diese Grundgesetznorm in der Ö-Recht-Vorlesung abgehandelt wurde: wolkige Rechtsphilosophie sei das, sowohl vom Tatbestand als auch von der Rechtsfolge vollkommen unpraktikabel, ein Beruhigungspflaster für die Protestbewegung der 68er, damit die ihre Angst vor der Notstandsverfassung besser reguliert bekommt. Wenn der Rechtsstaat noch funktioniert, habe man vor Gericht zu ziehen, um sich gegen Verfassungsverstöße zu wehren („… wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“). Wenn er nicht mehr funktioniert und das Grundgesetz über den Haufen geworfen ist, dann herrsche Anarchie, und dann helfe einem ein solches im Grundgesetz verbürgtes Recht auch niemandem mehr. Kurzum, so die Botschaft: vergesst Art. 20 Abs. 4!
Das polnische Verfassungsgericht ist, wie alle Institutionen eines Rechtsstaats, durch Recht konstituiert – durch Verfassungsrecht in seiner Existenz, seiner Funktion und den Grundlagen seines Handelns, in seinen Verfahren und Zuständigkeiten im Einzelnen durch ordentliches Gesetz. Dieses Gesetz hatte der polnische Gesetzgeber am 22. Dezember 2015 geändert, und zwar in der kaum verhohlenen Absicht, das Gericht lahm zu legen und seiner Unabhängigkeit zu berauben. Unter anderem sieht das Gesetz seither vor, dass das Gericht regelmäßig in voller Besetzung entscheiden muss, mit 13 der 15 Richter_innen am Tisch. Als das Gericht über die Verfassungsmäßigkeit dieser Änderungen zu entscheiden hatte, ließ es dieselben unbeachtet – sonst wäre es auch gar nicht entscheidungsfähig gewesen, da wegen der seinerseits verfassunsgrechtlich umkämpften Besetzung von drei der 15 Richterposten nur 12 derselben unstreitig besetzt waren.
Kann das Gericht das einfach machen? Eigentlich nimmt es damit die Antwort auf die Frage, die das Gericht zu geben hat, vorweg: Die neuen Regeln zur Besetzung der Richterbank sind verfassungswidrig, deswegen sind die alten anzuwenden, und in alter Besetzung entscheidet das Gericht dann, dass die neuen Regeln verfassungswidrig sind – man bekommt einen Knoten ins Hirn.
Die Venedig-Kommission löst das Dilemma auf, indem sie direkt auf die Verfassung rekurriert: Das Verfassungsgericht sei, anders als die ordentlichen Gerichte, nicht an Verfassung und Recht gebunden, sondern nach Art. 195(1) nur an die Verfassung (RNr. 39). Und selbst wenn nicht: Die Aufgabe, über die Einhaltung der Verfassung zu wachen, sei ihm vom Verfassungsgeber, nicht vom Gesetzgeber verliehen (Art. 40). Daher seien Gesetze, die das Verfassungsgerichtsverfahren regulieren, bei ihrer Kontrolle im Zweifelsfall unanwendbar:
A simple legislative act, which threatens to disable constitutional control, must itself be evaluated for constitutionality before it can be applied by the court. Otherwise, an ordinary law, which simply states “herewith, constitutional control is abandoned – this law enters into force immediately” could be the sad end of constitutional justice. The very idea of the supremacy of the Constitution implies that such a law, which allegedly endangers constitutional justice, must be controlled – and if need be, annulled – by the Constitutional Tribunal before it enters into force. (Art. 41)
Streng genommen wird damit der oben beschriebene logische Zirkel nicht aufgelöst. In welcher Besetzung das Gericht sich überhaupt eine Meinung dazu bildet, ob ein simple legislative act threatens to disable constitutional control, lässt sich der Verfassung ja gar nicht entnehmen. Es bleibt dabei, dass die Besetzung, in der das Gericht die ihm gestellte Frage beantwortet, die Antwort bereits vorweg nimmt.
Aber das ist genau der Punkt: Es kommt darauf an, dass der Gesetzgeber das Gericht gar nicht erst in eine solche zirkuläre Situation bringen kann. Deshalb muss das Verfassungsgericht, wenn es Gesetze, die das Verfahren und die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts verändern, auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, dieselben ganz generell erst mal unangewendet lassen können. Die Venedig-Kommission löst den Zirkel nicht auf, sie zerschlägt ihn einfach.
Nach dieser Erfahrung scheint mir die Süffisanz meiner Münchner Staatsrechtslehrer damals doch etwas deplazierter als zuvor.
Dass die KPD sich damals gegen das „Adenauer-Regime“ wegen deren „Kriegs- und Spaltungspolitik“ zum Widerstand berechtigt wähnte, war kein Fall von Art. 20 Abs. 4 (avant la lettre), denn das sind Meinungsverschiedenheiten, die man in einer funktionierenden rechtsstaatlichen Demokratie durch politische und juristische Mittel austragen kann. Das gleiche gilt auch für Herrn Schachtschneider und seine Eurogegnerschaft, und die Völkischen noch weiter rechts allemal. Wenn sie niemand wählt (wenn! schreibe ich vor dem Wahlsonntag) und wenn sie vor den Gerichten unterliegen, dann ist das nicht ein Fall von „keine andere Abhilfe möglich“, sondern dass sie halt politisch bzw. juristisch nicht so richtig überzeugen.
Aber ein solcher Zirkel, wie ihn die polnische Regierung installiert hat, um das Verfassungsgericht darin einzusperren, ist keine Frage inhaltlicher Meinungsverschiedenheiten. Er korrodiert die Herrschaft des Rechts. Und zwar ganz egal, was man politisch für gut oder schlecht und juristisch für richtig oder falsch hält. Er schafft eine Situation, wo niemand mehr konstitutionell autorisiert sagen kann, was das Verfassungsrecht und damit das Recht generell ist, und wenn das niemand mehr sagen kann, dann sagt das eben die Regierung. Und das ist ja auch offenbar die Absicht dahinter.
Das Niederträchtige daran ist, dass wir es mitnichten mit einem Staatsstreich zu tun haben. Das wäre ja einfach. Die polnische Regierung denkt nicht daran, tatsächlich einen revolutionären Moment zu propagieren (insoweit war die ungarische Regierung 2011 fast noch ehrlicher), sondern sie zehrt weiterhin vom Legitimitätsreservoir der geltenden Verfassungsordnung, auf die sich sich stützt, wenn sie die das Ergebnis der im Rahmen dieser Verfassungsordnung verlaufenen Wahlen als Legitimitätsgrundlage ihrer Macht in Anspruch nimmt. Ich will hier keine 1933-Vergleiche ziehen. Just saying…
In der polnischen Verfassung gibt es keinen Art. 20 Abs. 4. Aber das ändert nichts daran, dass der verfassungsgerichtliche Zirkel, solange er besteht, auf das, was das Recht von den polnischen Bürgerinnen und Bürgern verlangen kann, durchschlagen wird. Wenn die Herrschaft des Rechts nicht mehr gilt, dann gibt es ein Recht zum Widerstand.
Update: Apropos Polen – am Montag um 19:00 laden wir gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaft zu einer Diskussionsveranstaltung, bei der vier sehr interessante Experten beleuchten werden, was Europa gegen eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit in Polen tun kann: Christoph Grabenwarter, Verfassungsrechtsprofessor aus Wien und Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichts, war als Berichterstatter der Venedig-Kommission an dem Gutachten beteiligt. Adam Bodnar ist der unabhängige Ombudsman Polens für Menschenrechte. Armin von Bogdandy, Direktor am MPI für Völkerrecht, forscht seit Jahren zu den europarechtlichen Möglichkeiten, gegen mitgliedsstaatliche Verfassungs-Sauereien vorzugehen. Und Renáta Uitz von der CEU Budapest trägt als Expertin für vergleichendes Verfassungsrecht die Perspektive ihres Heimatlands Ungarn bei.
Wer sich für die Vorgänge in Polen interessiert, ist herzlich eingeladen. Die Veranstaltung wird hier live auf dem Verfassungsblog gestreamt (www.verfassungsblog.de/live). Fragen und Kommentare des Online-Publikums werden live in die Diskussion auf der Bühne eingespeist.
Dank an Philip Weyand für Input zum Thema Widerstandsrecht im nationalistischen Spektrum.
Sehr plausible Erläuterung, die mir gut gefallen hat!
Ich hoffe, der Verfassungsblog hat nicht nur ein Auge auf die Entwicklungen in Polen, sondern auch etwa in der Türkei. Der türkische Präsident erklärte kürzlich wiederholt öffentlich, ein Urteil des Verfassungsgerichts nicht zu respektieren und sich nicht daran zu halten. Dabei geht es um die Freilassung der Cumhuriyet-Journalisten Can Dündar und Erdem Gül, die Informationen über Waffenlieferungen aus der Türkei an islamistische Gruppen veröffentlichten. Erdogan spricht davon, dass das Verfassungsgericht gegen Land und Leute agiere (Stichwort: „Volksverräter“), wirft dem Gericht Verfassungsbruch vor und droht ihm offen.
Ich würde mich über eine türkische Stimme auf dem Verfassungsblog in dieser Sache freuen.
@Eckart: danke, freut mich.
@CB: würde ich auch! Ich habe keine Autor_in dafür, leider. Wer sich da auskennt und mir was schreibt dazu, ist mehr als willkommen.
Dass Waldstein seine groteske Abhandlung mit einem Zitat von Gandhi beginnt und mit einem von Brecht abschließt, ist an Ironie kaum zu überbieten…
In der Tat. Die Flexibilität in der Deutung erinnert beinahe schon an jene eines gewissen Josef Fischer: Noch jeder Marschflugkörper wurde in dessen Hand zur zielgenauen Friedenstaube!
Der Zustand des hiesigen Verfassungsgerichts stellt sich gegenwärtig übrigens so dar: Eine Verfassungsbeschwerde zum Thema Völkerwanderung wird kommentarlos zurückgewiesen, aber der Gerichtspräsident lässt das Volk per Talkshow wissen, dass schon alles seine Richtigkeit hat.
Wenn wir es in Polen nicht mit einem Staatsstreich zu tun haben, dann sind wir in Deutschand offenbar einen guten Schritt weiter …
> „Eine Verfassungsbeschwerde zum Thema Völkerwanderung wird kommentarlos zurückgewiesen.“
Verfassungsbeschwerden haben eben (anders als Talkshows) keine „Themen“. Die Verfassungsbeschwerde ist ein Rechtsbehelf, um *Verletzungen in eigenen Rechten* abzuwehren. Und man kann ja zu Merkels und/oder Seehofers Politik verschiedenster Meinung sein, aber die einzigen subjektiven Rechte, die bei der rechtlichen Bewertung eine Rolle spielen, sind (unabhängig davon, ob sie den diversen diskutierten Maßnahmen auch tatsächlich entgegenstehen) diejenigen der Fliehenden. Mit Grundrechten besorgter Bürger hat das Ganze nichts zu tun. Selbst wenn die derzeitige Grenzkontroll- und Aufnahmepraxis rechtswidrig wäre, wäre sie deshalb noch lange nicht grundrechtswidrig. Das hat selbst unter den Juristen, die die derzeitige Flüchtlingspolitik lautstark für rechtswidrig halten, noch nie jemand behauptet. Und wo (eigene) Grundrechte nicht betroffen sind, gibt es eben keine Verfassungsbeschwerde.
Selbstverständlich haben Verfassungsbeschwerden Themen. Und wenn nach verletzten Grundrechten gefragt wird, dann bricht eine Regierung, die nachweisbar rechtswidrig handelt, GG Artikel 20 (3) und gefährdet sind damit alle Grundrechte. Ganz nebenbei darf auch noch auf Artikel 2 und 3 verwiesen werden.
Schon klar, dass Voßkuhle das nicht interessiert, obwohl es sein Job ist. Das ist im Hinblick auf GG Artikel 20 (4) aber durchaus kein Nachteil …
Art. 20 III GG ist objektives Recht, kein subjektives. Dessen Verletzung kann man im Wege der Verfassungsbeschwerde eb