18 July 2012

Baustelle Bundesstaat? Steven Schällers Replik auf den Kommentar von Alexandra Kemmerer

Auf Einladung der Kolleginnen und Kollegen vom theorieblog habe ich vor einigen Tagen einen Beitrag von Steven Schäller aus der ersten Ausgabe des 2012er Jahrgangs der Zeitschrift für Politische Theorie kommentiert, in dem Steven Schäller einige Überlegungen zur Europa-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und deren Rezeption formuliert. Steven Schäller hat nun reagiert. Ich danke ihm, dem Theorieblog und einigen hier ungenannt bleibenden Kollegen, die sich per mail mit wertvollen Hinweisen an mich gewandt haben, für die Möglichkeit, über die aufgeworfenen Fragen noch einmal neu nachzudenken. In einer kurzen Duplik werde ich auf einige Punkte in Steven Schällers Replik  eingehen. Zunächst aber hier seine Reaktion:

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In der vergangenen Woche hat sich Alexandra Kemmerer die Mühe gemacht, für Verfassungsblog und Theorieblog meinen Aufsatz in der ZPTH zu lesen und kritisch zu besprechen. Ich habe von ihrer Besprechung neue Dinge über meinen Text gelernt und Denkanstöße bekommen, die ich unten nur zum Teil aufgreifen kann, die mir aber auch insgesamt helfen, meine eigene Position besser zu verstehen. Insofern bin ich für die sich hier bietende Gelegenheit sehr dankbar – Alexandra Kemmerer und dem Theorieblog. Der Kern von Kemmerers Kritik lautet, dass mein methodischer und konzeptioneller Zugriff auf das Lissabon-Urteil zu einer Deutung führt, deren Realisierung für die zukünftige Gestalt Europas kaum wünschbar wäre. So habe ich einerseits die Möglichkeit, meine Methode zu verteidigen und/oder andererseits meine Ergebnisse zu rechtfertigen. Ich möchte beides versuchen.

Der Status meiner politischen Theorie

Ich verstehe Kemmerers Kritik als Problem einer disziplinären Abgrenzung: Anscheinend betreibe ich eine Form der politischen Theorie, die sie „normativ nicht unproblematisch – und methodisch einigermaßen absurd“ findet. So führe ich als Politikwissenschaftler den „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ (Schlink) ins Extrem und bestätige im Nachhinein die Kritik Bernhard Schlinks an der Staatsrechtslehre. Ich glaube, es handelt sich hierbei zunächst um eine unpassende Erwartung Kemmerers an ‚die‘ Politische Theorie und ihre Aufgaben und zweitens um eine von mir nicht hinreichend deutlich gemachte Zielstellung des Textes.

Zunächst zu letzterem: Für meinen Geschmack viel zu häufig bieten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Anlass dazu, unsichere Diagnosen in die Feuilletons der Republik zu tragen. Im Fall des Lissabon-Urteils bedeutete das von Seiten der konservativen ‚Freunde‘ des Gerichts ein Lob dafür, dass es endlich mal wieder einen Warnschuss vor den Bug der dynamischen ‚Integrationisten‘ in Brüssel und Berlin gesetzt hat. Andererseits sah sich das Gericht der Kritik ausgesetzt, die Integration Europas jetzt endgültig mausetot geschossen zu haben sowie die Lehren aus der deutschen Geschichte – mehr Europa auf Kosten des Nationalstaates – nicht verstehen zu wollen. Ich habe mich dagegen gefragt, ob Offenheit und Gestaltbarkeit der Zukunft die Apodiktik dieser Diagnosen nicht in Frage stellen. Haben wir nicht doch eine Wahl, indem wir den Text der Entscheidung ernst nehmen und – vielleicht auch gegen die Intention eines Teils des Senats – eine Deutung formulieren, die zwar gegen den Strich gebürstet, aber mindestens ebenso plausibel erscheint, wie die harsche Kritik an dem Urteil? Was also ist eine zunächst unsichere, aber gleichwohl plausible Leseart des Lissabon-Urteils? Für mich ist es die Annahme, mit der Entscheidung bahne das Gericht den Weg zu einem europäischen Bundesstaat, der, wenn er denn gegangen werden soll, bitteschön grundgesetzkonform über Art. 146 GG einzuschlagen ist.

Damit komme ich zu dem, was Alexandra Kemmerer – nicht gerade im besten Sinne – bemerkenswert findet: Ich entwickle eine Verfassungstheorie des Föderalismus, die keinerlei kritisches Reflexionspotential entfalte und lediglich die Positionen des Gerichts reproduziere. Das ist zutreffend. Es ist nicht meine Absicht, eine normative Föderalismustheorie zu entwickeln, mit der Karlsruhe darüber belehrt werden soll, was es eigentlich meinen müsste, wenn es den Bundesstaat und sein föderales Ordnungsprinzips auslegt. So weit stehe ich erst einmal etwas verloren da – eine politische Theorie ohne den Anspruch, dem tristen Sein ein kritisches Sollen entgegenzusetzen. Im Verständnis Vieler handelt es sich also um gar keine politische Theorie.

Ich verstehe die Politische Theorie jedoch als eine vielfältige Subdisziplin der Politikwissenschaft. Neben normativer politischer Theorie hat eine empirisch fundierte Theoriebildung ihren Platz. Ich betreibe genau diese Form der Theoriebildung. Mein Untersuchungsgegenstand ist das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung. Das Gericht steht auf jener Schnittstelle im demokratischen Verfassungsstaat, auf der politische Fragen in einer rechtlichen Semantik verhandelt werden. Ich analysiere diese rechtlichen Semantiken – sowohl die des Gerichts, als auch die der Staatsrechtlehre. Damit erklärt sich auch die Schärfe meines taxonomischen Zugriffs. Reformuliere ich aus dieser Perspektive Alexandra Kemmerers These, meine politische Theorie sei problematisch und methodisch absurd, dann ist sie es, weil sie gerade eine empirische Basis vorweisen kann und diese in überprüfbaren Arbeitsschritten auszuweisen versucht. Damit gelange ich zur kritischen Diskussion meiner Ergebnisse, die Alexandra Kemmerer mit großer Sachkunde und Geduld unternimmt.

Subjekt der Einheitsstiftung in einem Bundesstaat

Das Problem meiner Deutung des Lissabon-Urteils bestehe vor allem darin, dass ich den Weg zum europäischen Bundesstaat allein über den „revolutionären Befreiungsschlag eines constitutional moment“ konzipiere und gleichzeitig mit dem Bundesvolk ein Legitimationssubjekt beschreibe, das – im Gegensatz zu Habermas und von Bogdandy – eine individualistische Fundierung vermissen lässt und stattdessen viel zu sehr alten nationalstaatlichen Kategorien verhaftet bleibt. Beide Punkte sind für mich Aspekte des selben Problems: Wer oder was ist das Subjekt der Einheitsstiftung in einem Bundesstaat?

Bei dieser Frage sind zwei Perspektiven zu unterscheiden, die ich selbst im Text viel zu selten hinreichend deutlich getrennt habe: Einerseits die Perspektive des Bundesverfassungsgerichts und andererseits meine eigene Perspektive, die sich durchaus von den von mir rekonstruierten Thesen des Gerichts über die Gestaltwerdung eines europäischen Bundesstaates unterscheiden. Sofern die vorgeschlagene Lesart des Urteils überzeugen kann, so ist der Weg über Art. 146 GG jener Weg, den das Bundesverfassungsgericht als grundgesetzkonform annimmt. Dieser staatsrechtliche Versuch, die Geltung der Verfassung über den Moment ihrer Außerkraftsetzung hinaus auszudehnen, muss als der Versuch gelesen werden, auch noch dem revolutionären Moment einen rechtliche Rahmen zu verleihen und ihn weniger schauerlich erscheinen zu lassen. Die Furcht der „juristischen Aristokratie“ vor dem unkontrollierbaren Demos spricht aus diesem Artikel. Für das Bundesverfassungsgericht ist dieser Weg gleichzeitig der Modus der Integration zum einem europäischen Bundesstaat. Nimmt man Artikel 146 GG zur Blaupause für den Weg zur europäischen Bundesverfassung, die das Grundgesetz ablöst, dann ist es nach wie vor das bereits unter dem Grundgesetz konstituierte deutsche Volk, das sich mit der Stimmabgabe erst in Zukunft als Teilvolk eines europäischen Bundesvolkes begreifen möchte. Ob eine solche Abstimmung noch etwas gemein hat mit dem prickelnden Schauer einer Revolution, und ob dies tatsächlich eine „ausweglose Verfassungslage“ ist, erscheint aus einer politikwissenschaftlicher Perspektive offener, als vielleicht aus einer juristischen Perspektive.

Jedenfalls steht genau dieser Weg in einem Widerspruch zu der These von Max Steinbeis, die sich auch Alexandra Kemmerer zu eigen macht, wonach die Konstitutionalisierung eines europäischen Bundesstaates nicht mehr im Modus nationaler, sondern nur noch europäischer Willensbildung gedacht werden kann. Das deutsche Volk stimme so über die gemeinsam geschaffene europäische (Bundes-)Verfassung nicht mehr als deutsches Volk ab, sondern bereits als Teil des europäischen Bundesvolkes. Ich selbst bin in dieser Frage unentschieden und habe lediglich eine Frage, die ich hier zur Diskussion stellen möchte: Staatsrechtlich ist die 146er-These des Bundesverfassungsgerichts die normlogische Variante. Hintergrund dieser Logik ist aber die Annahme, dass erst mit einer Verfassung ein neues (europäisches) Bundesvolk konstitutiert werden kann und eine europäische Verfassung diesen Konstitutionsakt dokumentiert und in seiner Legitimität ausweist. Die These von Alexandra Kemmerer scheint dagegen genau anders herum gelagert zu sein. Nicht die Verfassung schafft ein Bundesvolk, sondern das bereits bestehende Bundesvolk beglaubigt verfassungsnotariell seine eigene Existenz. Dies setzt jedoch die von Habermas im Kontext seiner Äußerungen zu Europa immer mit gemeinte Existenz eines gemeinsamen Diskursraumes voraus, in dem sich die Teilvölker bereits kommunikativ integriert haben. Dies für den besseren Weg nach Europa zu halten, zweifle ich nicht an. Ob es aber der wahrscheinlichere Weg ist, der zudem den constitutional moment samt seinen unterstellten Gefahren zu verhindern weiß, bezweifle ich. Ich unterstelle in diesem Punkt dem Gericht einen größeren Pragmatismus als einer normativen Theorie.

Abstrakt bildet sich jedenfalls für mich in diesem Problem der Spannungsbogen ab, ob eine Verfassung ein bereits existierendes Volk voraussetzt (Kemmerer), oder ob ein einheitliches Bundesvolk durch eine Verfassung geschaffen werden kann (BVerfG). In der Antwort auf diese Frage liegt auch die Antwort, ob der von mir aus dem Lissabon-Urteil rekonstruierte Weg zu einem europäischen Bundesstaat ein problematischer sein würde.

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Dieser Text erscheint zugleich auf dem theorieblog.de


SUGGESTED CITATION  Kemmerer, Alexandra: Baustelle Bundesstaat? Steven Schällers Replik auf den Kommentar von Alexandra Kemmerer, VerfBlog, 2012/7/18, https://verfassungsblog.de/baustelle-bundesstaat-steven-schllers-replik-auf-den-kommentar-von-alexandra-kemmerer/, DOI: 10.17176/20170509-143157.

12 Comments

  1. Manuel Müller Wed 18 Jul 2012 at 11:49 - Reply

    Es ist eine interessante Debatte, die sich hier zwischen Alexandra Kemmerer und Steven Schäller entspannt hat; und auch wenn die darin angerissenen Fragen zu viele sind, als dass mach von der Seitenlinie auf jede einzelne eingehen könnte, möchte ich doch kurz zwei Punkte einwerfen, die sich vor allem auf den Gegensatz beziehen, der in den letzten beiden Absätzen des Beitrags hier entwickelt wurde: Konstituierung eines europäischen Volkes durch eine Verfassung oder Verabschiedung einer Verfassung durch ein europäisches Bundesvolk?

    Erstens: Steven Schäller schreibt, die “146er-These des Bundesverfassungsgerichts” sei staatsrechtlich die “normlogische Variante”: “Nimmt man Artikel 146 GG zur Blaupause für den Weg zur europäischen Bundesverfassung, die das Grundgesetz ablöst, dann ist es nach wie vor das bereits unter dem Grundgesetz konstituierte deutsche Volk, das sich mit der Stimmabgabe erst in Zukunft als Teilvolk eines europäischen Bundesvolkes begreifen möchte.” Dies scheint mir jedoch mit einem logischen Problem der zeitlichen Abfolge verbunden zu sein: Wenn das europäische Volk erst durch eine europäische Verfassung konstituiert wird, brauchen wir dann nicht erst einmal eine europäische Verfassung, bevor sich das deutsche Volk via Art. 146 GG als Teil des europäischen Volkes rekonstituieren kann? Und wie soll diese neue Verfassung entstehen, wenn nicht in Form einer europäischen Verfassunggebung? Dass die Deutschen allein beschließen, künftig Teil eines europäischen Volkes zu sein, wäre reichlich irrelevant, solange sie sich nicht mit dem Rest der Europäer darüber einig sind, wie der europäische Bundesstaat beschaffen sein soll. Damit aber sind wir wieder bei der These von Max Steinbeis, die auch von Alexandra Kemmerer (und mir) geteilt wird: Wenn es einen europäischen Bundesstaat geben soll, dann brauchen wir als erstes einen europäischen Willensbildungsprozess, der zu einer europäischen Verfassung führt.

    Zweitens: Dieses logische Problem der zeitlichen Abfolge lässt sich vom staatsrechtlichen Standpunkt recht einfach durch das Konzept eines Verfassungsvertrags lösen. Die verschiedenen Nationalstaaten würden einen Vertrag aushandeln, in dem sie ihre Vereinigung in einen europäischen Bundesstaat (und damit die Vereinigung ihrer Völker zu einem europäischen Volk) beschließen. Die Ratifikation dieses Verfassungsvertrags würde dann jeweils noch durch eine Abstimmung der nationalen Völker erfolgen – in Deutschland via Art. 146 GG -, die dann ab seinem Inkrafttreten nur noch Teil des gesamteuropäischen Volkes wären. Die Aushandlung des Verfassungsvertrags wäre damit zugleich gesamteuropäischer und nationaler Willensbildungsprozess.

    Betrachtet man allerdings die diskurstheoretischen Implikationen eines solchen Vorgangs, so verkompliziert sich das Bild wieder. Tatsächlich erfordert ein solcher Vorgang, dass sich die Bürger während der Aushandlungsphase der europäischen Verfassung sowohl als Bürger ihres Nationalstaats als auch als Europäer verstehen: Denn sie müssen zugleich an einer europäischen Willensbildung über die Beschaffenheit der europäischen Verfassung und an einer nationalen Willensbildung über die Rekonstituierung der eigenen nationalen Verfassung teilnehmen.

    Wenn man jedoch davon ausgeht, dass Bürger zu einem solchen diskursiven Spagat in der Lage sind (und warum sollten sie es nicht sein?), dann zerfällt das gesamte Problem: denn dann wird der Bürger eben nicht erst durch das Inkrafttreten einer europäischen Verfassung zum Europäer, sondern er ist es schon in dem Moment, in dem er beginnt, mit anderen Europäern über eine gemeinsame Verfassung zu verhandeln. Dieser Zeitpunkt aber ist längst überschritten – der gemeinsame europäische Diskursraum existiert schon längst in den Strukturen der heutigen EU (die ja jeder vernünftigen Annahme zufolge auch die Basis des europäischen Bundesstaats sein würde). Insofern macht es wenig Sinn, erst einen rekonstituierenden Akt des “deutschen Volkes” zu verlangen, damit ein “europäisches Volk” ins Leben treten kann. Bundesverfassungsgericht hin oder her, gibt es schon jetzt ein europäisches Volk in Form der Bevölkerung der Europäischen Union; und jeder Bürger kann sich zugleich als Europäer, als Deutscher und als Sachse verstehen. Aber ist das nicht ohnehin schon immer ein Kernmerkmal des Föderalismus gewesen?

    Die interessantere Frage scheint mir deshalb eher, welche dieser verschiedenen Identitätsebenen in einer bestimmten politischen Debatte aktiviert wird, und das war auch das Thema meines Artikels hier (den auch Alexandra Kemmerer in ihrem Beitrag verlinkt hat): Gestaltet man den Prozess einer europäischen Verfassunggebung so, dass das Verfahren eher eine gemeinsame gesamteuropäische Auseinandersetzung über die Funktionsweise der EU fördert? Oder konzentriert man sich allein auf die Rekonstituierung der nationalen Verfassung, in Deutschland etwa in Form eines nationalen 146er-Referendums? Letztlich ist das eine politische Frage, aber von ihr könnte der weitere Erfolg des europäischen Integrationsprojekts abhängen.

  2. Gast Wed 18 Jul 2012 at 14:00 - Reply

    Die Faktizität eines Volkes als pouvoir constituant ist zwingend apriorisch im Verhältnis zu einer normativen Verfassung, die ihm gegenüber Geltung beanspruchen soll.

    Dies ist die Quintessenz einer jeden Demokratie.

  3. StS Fri 20 Jul 2012 at 09:29