Bezirksämter ohne Legitimation
I. Ausgangslage
Mit deutlichen Worten hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Mitte November vergangenen Jahres die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin vom 26. September 2021 für ungültig erklärt: Aufgrund einer „rechtsfehlerhaft unzureichende(n)“ Wahlvorbereitung sei es zu mehreren Wahlfehlern gekommen, die in ihrer Häufigkeit die Verteilung der Sitze beeinflusst hätten, was zur Ungültigkeit der Wahlen im gesamten Wahlgebiet führe – wegen der Häufigkeit und Schwere der Wahlfehler sei allein dieses Ergebnis der erfolgten Wahlanfechtungen geeignet, erforderlich und angemessen, „um eine Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen zu gewährleisten, die den rechtlichen Anforderungen an demokratische Wahlen entspricht“.1) Aufgrund der Wiederholungwahl, die daraufhin am 12. Februar 2023 stattfand, haben sich nicht nur die Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhaus, sondern auch in einigen Bezirksverordnetenversammlungen verschoben.
Nach der Wahl 2021 hatten die Bezirksverordnetenversammlungen bereits ihre Aufgabe wahrgenommen, die Mitglieder der Bezirksämter (Bezirksbürgermeister/in und Stadträte/Stadträtinnen) „für die Dauer der Wahlperiode“ zu wählen (§ 35 Abs. 1 BezVG); diese Wahlperiode entspricht der des Abgeordnetenhauses (§ 5 Abs. 1 Satz 1 BezVG) und bleibt von der Wiederholungswahl unberührt.2) Das Bezirksamt wird grundsätzlich auf Grund von Wahlvorschlägen der Fraktionen in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) entsprechend ihrem Stärkeverhältnis nach Maßgabe des (fragwürdigen) Höchstzahlverfahrens nach d’Hondt gebildet (§ 35 Abs. 2 BezVG).
Dass sich diese Stärkeverhältnisse durch die Wiederholungswahl verändert haben, wirft die Frage auf, ob die Wiederholungswahl auch Auswirkungen auf die Wahl der Mitglieder des Bezirksamtes hat. Offenbar führt es zu einem demokratietheoretischen „Störgefühl“, dass die Bezirksbürgermeister / innen (und die anderen Mitglieder des Bezirksamtes) gleichwohl für die verbleibende Dauer der Wahlperiode – ca. 3,5 Jahre – im Amt bleiben sollen. Auch der Wissenschaftliche Parlamentsdienst des Abgeordnetenhauses hat in einem Gutachten von Anfang Februar 2023 in diesem Zusammenhang auf das Demokratieprinzip (Art. 20 GG) verwiesen.3)
II. Die „Legitimation der Entscheidung“
Ein solcher grundsätzlicher Zusammenhang zwischen der (demokratischen) Legitimation der Mitglieder der Bezirksämter und einem unveränderten Stärkeverhältnis der in einer BVV vertretenen politischen Kräfte kann indes bei näherem Hinsehen nicht angenommen werden. Für die Verbindlichkeit der von einer zuständigen Stelle getroffenen Entscheidungen, seien dies Sachentscheidungen („Beschlüsse“) oder auch Wahlen („Wahlbeschlüsse“), kommt es grundsätzlich nur auf die Entscheidungszuständigkeit im Zeitpunkt der Entscheidung an, nicht aber den (unveränderten) Fortbestand der entscheidenden Stelle. Die Wahlentscheidung eines Kollegialorgans – etwa des Abgeordnetenhauses oder einer BVV – in seiner jeweiligen Zusammensetzung oder auch durch das „Wahlvolk“ als Ganzes entfaltet grundsätzlich eine legitimierende Wirkung für einen bestimmten, gesetzlich vorgegebenen Zeitraum (Wahlperiode / Amtszeit). Diese Wirkung entfällt aber nicht dadurch, dass sich die personelle Zusammensetzung der wählenden Gruppe oder auch die politischen Stärke- / Mehrheitsverhältnisse ändern. Wenn ein Kollegialorgan – etwa eine Bezirksverordnetenversammlung – im Rahmen der jeweiligen Zuständigkeit eine Wahlentscheidung trifft, trägt diese vielmehr für die jeweilige Wahlperiode. Ein „Ausspruch des Vertrauens“4) der neu konstituierten BVV gegenüber den Mitgliedern des Bezirksamts ist daher zumindest aus der Perspektive des Demokratieprinzips nicht erforderlich. In Berlin fehlt es sogar an einer Verknüpfung der Amtszeit der Regierung mit der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses (dazu näher J. Klein)
Ein anderes Beispiel: Nach dem früheren („britischen“) Kommunalverfassungsrecht in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen wurde die jeweilige Verwaltungsspitze (Gemeindedirektor/in, Stadtdirektor/in, Oberstadtdirektor/in) von der Vertretung (Rat bzw. Kreistag) für eine Amtszeit von 8 (§ 49 GO NW a.F.) bzw. 12 Jahren (§ 61 NGO a.F.) gewählt. Die Länge dieser Amtszeiten begegnete zwar mit Blick auf das Erfordernis der Erneuerung demokratischer Legitimation bei Wahlbeamten und -beamtinnen mit erheblichen Entscheidungskompetenzen durchaus Bedenken; die (auch mehrfache) Neuwahl und Neukonstituierung des wählenden (Kollegial‑) Organs während der Amtszeit der Hauptverwaltungsbeamtinnen und ‑beamten ist hingegen nicht problematisiert worden; die Unabhängigkeit der Verwaltungsspitze von den Mehrheiten in der Vertretung war vielmehr beabsichtigt.
III. Der einfach-gesetzliche Befund
Dies wiederum kann man mit Blick auf das Verhältnis zwischen Bezirksverordnetenversammlung und Bezirksamtsmitgliedern nach Maßgabe des einfachen Rechts durchaus anders sehen, da einfach-gesetzlich eine weitergehende Verknüpfung der Amtszeiten vorgesehen ist: Das Bezirksamt wird nicht nur für die Dauer der Wahlperiode der BVV gewählt, seine Zusammensetzung soll auch grundsätzlich die Mehrheitsverhältnisse in der BVV widerspiegeln (§ 35 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BezVG), seine Mitglieder bedürfen nach der ausdrücklichen Regelung in § 1 Abs. 1 Satz 2 des Bezirksamtsmitgliedergesetzes (BAMG) des Vertrauens der Bezirksverordnetenversammlung. Ersichtlich ging der Gesetzgeber demnach von einem „politischen Gleichlauf“ von Bezirksverordnetenversammlung und Bezirksamt aus. Dessen Unterbrechung durch eine mehrheitsverändernde Wahlwiederholung innerhalb einer laufenden Wahlperiode würde demnach eine verdeckte Regelungslücke offenbaren, die nur schwer korrigierbar zu sein scheint. Der Verfassungsgerichtshof hat unter Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts5) ausdrücklich entschieden, dass die Ungültigerklärung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen allein ex nunc wirke und alle bis zur erneuten Konstituierung dieser Organe ergangenen Rechtsakte wirksam bleiben.6)
IV. Wahlfehler und demokratische Legitimation
Dass dieses Diktum des Verfassungsgerichtshofes auch auf fortdauernde Wirkungen von Personalentscheidungen über die Konstituierung des neu gewählten Abgeordnetenhauses oder der Bezirksverordnetenversammlungen zu erstrecken ist, versteht sich indes nicht von selbst, denn die oben (II.) skizzierte Legitimation der Entscheidung setzt ihrerseits voraus, dass das wählende / beschließende Organ demokratisch hinreichend legitimiert ist. Das ist hier aber mit Blick auf die fehlerbehaftete Wahl der Bezirksverordnetenversammlungen zu bezweifeln.
Das Erfordernis demokratischer Legitimation erfordert zunächst eine Unterscheidung zwischen einer personellen und einer materiellen („sachlich-inhaltlichen“) Legitimationskomponente. Der Aspekt der personellen Legitimation betrifft die Frage, inwieweit sich Auswahl und Berufung der mit der Wahrnehmung von Staatsfunktionen betrauten Personen durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf das Volk zurückführen lassen. Demgegenüber geht es bei der materiellen Legitimation um die Rückbindung des Inhalts einer Entscheidung an den Volkswillen durch die Verpflichtung der handelnden Personen an inhaltliche Vorgaben und die Kontrolle ihrer Beachtung. Diese verschiedenen Formen demokratischer Legitimation haben Bedeutung „nicht je für sich, sondern nur in ihrem Zusammenwirken“. Gefordert wird ein „bestimmtes Legitimationsniveau“, das bei den verschiedenen Erscheinungsformen staatlichen Handelns namentlich im Bereich der „vollziehenden Gewalt“ unterschiedlich ausgestaltet sein kann.7) Zwar ist daher eine Mediatisierung der personell-demokratischen „Legitimationskomponente“ bei sich verlängernden Legitimationsketten einer Kompensation durch Elemente der materiellen Legitimation zugänglich. Ein vollständiger Verzicht auf personell-demokratische Legitimation in Fällen, in denen einer Person oder Stelle in weitem Umfang eigene Entscheidungsbefugnisse zugewiesen sind, muss jedoch auf Bedenken stoßen. In einer Entscheidung betreffend die Hamburger Bezirksversammlungen hat das Bundesverfassungsgericht hierzu ausgeführt, dass eine Legitimation, bei der „einzelne Legitimationselemente zurücktreten“ nur ausreichend sei, wenn „die Aufgaben eines Amtsträgers einen besonders geringen Entscheidungsgehalt“ haben, weil nur gegenständlich eng begrenzte und inhaltlich vorstrukturierte Entscheidungskompetenzen sowie umfassende Evokations- und Letztentscheidungsrechte eines übergeordneten Organs bestehen.8)
Mit Blick auf Spitzenbeamtinnen und Spitzenbeamten (sowie auch Regierungsmitglieder) wird danach auf eine personell-demokratische Legitimationskomponente nicht (vollständig) verzichtet werden können. Ist eine Wahl aber in so hohem Maße fehlerbehaftet, dass eine vollständige Wiederholung erfolgen muss, so muss bezweifelt werden, dass die Wahl den damit kreierten Kollegialorganen eine hinreichende demokratische Legitimation vermittelt, die diese dann auch „weitergeben“ können. Hierzu hat der Verfassungsgerichtshof in der Entscheidung vom 16. November 2022 festgestellt, dass bei den Wahlen vom 26. September 2021 die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verletzt wurden, weil Tausende Wahlberechtigte ihre Stimme am Wahltag nicht wirksam, nur unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben konnten,9) was auch Auswirkungen auf die Sitzverteilung gehabt habe;10) wegen der Häufigkeit und Schwere der Wahlfehler sei allein eine Wahlwiederholung geeignet, eine den rechtlichen Anforderungen an demokratische Wahlen entsprechende Zusammensetzung von Abgeordnetenhaus und Bezirksverordnetenversammlungen zu gewährleisten.11) Eine in diesem Maße fehlerbehaftete Wahl kann indes auch keine demokratische Legitimation vermitteln.
Dieser Sachverhalt hindert andererseits nicht, entsprechend der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs im Interesse der Handlungsfähigkeit des Staates die Befugnis der fehlerbehaftet gewählten (Kollegial-) Organe zu Rechtsakten sowie deren (fortdauernde) Gültigkeit anzuordnen. Insoweit in Rede steht letztlich ein Konflikt zwischen Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip, wie er in ähnlicher Form auch der Diskussion um einen „Bestandsschutz“ für Parlamente zugrunde liegt. Nicht ersichtlich ist hingegen, aus welchem Grunde es mit Blick auf die Handlungsfähigkeit des Staates geboten sein sollte, eine von einem nicht hinreichend demokratisch legitimierten (Kollegial-) Organ getroffene Wahlentscheidung über die Zeit der Neukonstituierung des Organs hinaus aufrechtzuerhalten und damit weitergehende Personal- und / oder Sachentscheidungen zu ermöglichen. Die Funktionsfähigkeit des Staates ist insoweit nicht tangiert; die erneute Vermittlung demokratischer Legitimation ist kein prima facie demokratiewidriger Vorgang.12)
V. Konsequenzen
In Ermangelung hinreichender demokratischer Legitimation der im September 2021 gewählten Bezirksverordnetenversammlungen bedarf es nach deren Neukonstituierung auch einer Neuwahl der zwischenzeitlich gewählten Mitglieder der Bezirksämter. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes betreffend die Gültigkeit der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen und Rechtsakte erfordert insoweit eine einschränkende Interpretation, denn das Rechtsstaatsgebot und ein Gebot der Handlungsfähigkeit des Staates gebieten nicht die fortdauernde Anerkennung von Personal- und Sachentscheidungen von Personen, deren Wahl mangels hinreichender personell-demokratischer Legitimation des wählenden Organs ebenfalls fehlerhaft ist. Eine gesetzliche Regelung über die Neuwahl der Mitglieder der Bezirksämter, wie sie derzeit diskutiert wird, ist daher verfassungsrechtlich geboten.
References
↑1 | VerfGH, Urt. v. 16.11.2022 – 154/21, Umdruck, S. 32 f. = Rn. 42 f. (juris). |
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↑2 | VerfGH (Anm. 1), S. 150 = Rn. 254 (juris). |
↑3 | Wiss. Parlamentsdienst, Gutachten v. 06./09.02.2023 zu den Rechtsfolgen des Urteils des VerfGH vom 16. 11.2022 für das Abgeordnetenhaus von Berlin und die Bezirksverordnetenversammlungen, S. 17 sub II.H.2. b) mit dem merkwürdigen – mit Blick auf das Demokratieprinzip verfehlten – Zusatz, bei der Tätigkeit einer BVV / des Bezirksamtes gehe es nicht „lediglich um die Selbstverwaltung eigener Angelegenheiten, sondern um die unmittelbare Wahrnehmung staatlicher Aufgaben“. |
↑4 | Wiss. Parlamentsdienst, Gutachten v. 06./09.02.2023 (Anm. 2), a.a.O. |