27 June 2016

Brexit im europäischen Verfassungsverbund

Eine vernünftige Entscheidung von David Cameron im Zusammenhang mit dem Brexit war der Rücktritt vom Amt des Premierministers. Wenn dahinter nicht wieder ein Spiel und eine verborgene Agenda stehen, dann ist auch das Hinausschieben des Zeitpunkts in den Herbst 2016 vernünftig, ebenso wie der Entschluss, dem Nachfolger die Entscheidung über den Brief nach Brüssel gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags zu überlassen. So bleibt Zeit zum Nachdenken über das, was am 23. Juni 2016 passiert ist.

Am 23. Juni 2016 fand ein konsultatives Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union statt. Bei einer Wahlbeteiligung von 72% haben 51,9% der stimmberechtigten Briten für den Austritt gestimmt. Nicht stimmberechtigt waren die Briten, die fünfzehn Jahre und länger im EU-Ausland wohnen, also von ihrer im Unionsrecht garantierten Freizügigkeit Gebrauch gemacht oder sich als Unionsbeamte in Brüssel, Luxemburg oder Strassburg für das gemeinsame öffentliche Interesse der Union eingesetzt haben. Bei ca. 2 Millionen in anderen EU-Staaten lebenden „britisch citizens“ und einer Stimmendifferenz von 1.269.501 zwischen „out“ und „in“ im Referendum könnte der Ausschluss derjenigen, die Europa wirklich leben, je nach ihrer Verweildauer im Ausland durchaus ein relevanter Faktor für den Ausgang der Abstimmung gewesen sein. Man könnte argumentieren, dass hier eine Manipulation gegeben ist, die mit dem Diskriminierungsverbot des EU-Rechts kaum vereinbar ist.

Die vier Präsidenten politisch maßgebender EU-Institutionen, des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates und des Rates der EU, Schulz, Juncker, Tusk und Rutte, haben in ihrer „am Tag danach“ veröffentlichten Erklärung einen schnellen Vollzug der „Entscheidung“ des britischen Volkes angemahnt; etwas voreilig wird schon das Ergebnis eines möglichen langen Prozesses vorweggenommen: Jede Vereinbarung, die „mit dem Vereinigten Königreich als Drittstaat“ geschlossen werde, müsse die Interessen beider Seiten widerspiegeln und ausgewogen sein. Die sehr nüchtern formulierte Erklärung ist hoch-politisch. Auch die Außenminister der Gründerstaaten, die Außenminister Steinmeier zu einem Krisentreffen nach Berlin eingeladen hatte, fordern, dass die „getroffene Entscheidung so schnell wie möglich umsetzt“ wird und sprechen bereits von den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten. Ob diese Eile politisches Manöver ist, um die Briten vor ihre Verantwortung zu stellen, ob sie wirklich klug ist, sollte bedacht werden.

Denn es stellen sich eine Reihe grundsätzlicher Fragen, von deren Beantwortung abhängen dürfte, was in der Realität die nächsten Schritte sein können und müssen:

  1. Welches ist die rechtliche Bedeutung, die Bindungskraft eines konsultativen Referendums? Die Antwort kann nur sein, dass der Politik damit angezeigt wird, welches die überwiegende Meinung der Befragten ist. Es gibt ein Stimmungsbild. Von einer „Entscheidung“ des britischen Volkes zu sprechen, geht weit über das hinaus, was solch ein Referendum bedeuten kann, es impliziert fälschlich eine rechtliche oder politische Bindungswirkung.
  2. Kann ein Referendum überhaupt für das Parlament oder für die Regierung des Vereinigten Königreichs eine Bindungskraft entfalten? Oder überhaupt: Kann es die Regierung legitimieren, die Erklärung nach Art. 50 EUV über den Austritt des Landes aus der Union abzugeben? Vielleicht das grundlegendste Prinzip der – nur fragmentarisch geschriebenen – britischen Verfassung ist nicht die Volkssouveränität, wie in Deutschland, sondern die „parliamentary sovereignty“. Die Webseite des Parlaments selbst erklärt: „Parliamentary sovereignty is the most important part of the UK constitution“. Wie sollte ein Referendum bindend sein, ohne dieses Prinzip in Frage zu stellen. Nur ein Beschluss des Parlaments kann den Premierminister legitimieren, der EU gegenüber den Austritt zu erklären.
  3. Eine Vorfrage wäre, ob der Premierminister für die Erklärung des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU überhaupt einer Legitimierung bedarf, etwa der Ermächtigung durch das Parlament. Art. 50 EUV schweigt zu den Fragen der innerstaatlichen Willensbildung. Die Voraussetzungen einer solchen Erklärung sind eine Frage des nationalen Verfassungsrechts. Sicher dürfte die deutsche Bundeskanzlerin den Austritt Deutschlands weder aus eigener Autorität noch aufgrund einer Volksbefragung erklären. Auch ein einfaches Gesetz genügt nicht, denn die Pflicht zur Mitwirkung an der Europäischen Union ist in Art. 23 Abs. 1 GG verankert. Der Austritt wäre ein actus contrarius zum Beitritt und setzte eine Verfassungsänderung voraus. Im Vereinigten Königreich gibt es keine Verfassungspflicht für Europa; aber ohne eine Abschaffung oder Änderung des European Communities Act von 1972 durch das Parlament kann ein Austritt nicht erklärt werden. Denn die Mitteilung nach Art. 50 EUV bewirkt die Beendigung der Mitgliedschaft automatisch, es sei denn, die Zweijahresfrist für die Festlegung der Einzelheiten des Austritts würde einstimmig verlängert. Dies betrifft aber nur den Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Austritts, nicht das Ende der Mitgliedschaft selbst. Das Parlament wäre in jedem Falle gezwungen, durch Änderung des European Communities Act die Konsequenzen zu ziehen, ob es ein Austrittsabkommen gibt oder nicht. Würde der Premierminister ohne eine Ermächtigung durch das Parlament den Austritt erklären, brächte er das Parlament in einen Zugzwang, der mit dessen sovereignty nicht vereinbar ist. Mit dem Wandel des Status des Vereinigten Königreichs vom Mitgliedstaat zum Drittstaat wäre für das britische Parlament zudem der Verlust von Rechten in der EU verbunden, die ihm die Verträge zuweisen (vgl. den Katalog des Art. 12 EUV). Ebenso wären Rechte und Status der britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament und der britischen Beamten in allen Institutionen der EU in Frage gestellt.
  4. Die große Tragweite der Austrittserklärung geht mit ihren rechtlichen Folgen aber weit über das interinstitutionelle Problem hinaus. Denn sie bewirkt auch die Aufhebung oder Änderung einer Vielzahl von Rechten nicht nur der rund 3 Millionen Unionsbürger im Vereinigten Königreich sowie der 2 Millionen Briten in anderen Mitgliedstaaten der EU. Betroffen ist vor allem der gemeinsame, grundlegende verfassungsrechtliche Status, den die über 500 Millionen Unionsbürgerinnen und Unionsbürger miteinander teilen. Potentiell wäre durch den Austritt des Vereinigten Königreichs jede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger betroffen. Sie alle verlieren Rechte und Freiheiten, die ihnen das Unionsrecht garantiert. Zu diesen Rechten gehört vor allem die Freizügigkeit; aber auch in allen anderen Grundfreiheiten sind die Unionsbürger insgesamt betroffen, einschließlich des Schutzes vor Diskriminierungen und der Gewährleistung der „Inländerbehandlung“ im fremden Land. Zu fragen wäre deswegen, ob die verfassungsrechtliche Dimension der Entscheidung über den Austritt nicht nur einen Akt des Parlaments, sondern sogar eine qualifizierte Mehrheit voraussetzt.

Die Erklärung des Austritts aus der EU ist nach allem keine Entscheidung allein über die Mitgliedschaft des betreffenden Staates in einer internationalen Organisation. Wenn sie vielmehr den verfassungsrechtlichen Status und grundlegende Rechte und Pflichten von über 500 Millionen Menschen in Europa unmittelbar betrifft, überrascht es nicht, dass Millionen von – vor allem wohl jüngeren – Bürgern des Vereinigten Königreichs jetzt ein zweites Referendum fordern; sie sehen ihre Zukunft durch das Votum vom 23. Juni in Frage gestellt, und diese Zukunft ist die der Freizügigkeit und des friedlichen Zusammenlebens in Europa. Es ist eine Zukunft, die die Jugend im Vereinigten Königreich mit der Jugend aller anderen Mitgliedstaaten der Union teilt, ihre gemeinsame Zukunft. Dass der scheidende Premierminister diese Zukunft verspielt hat, kann nicht das letzte Wort sein. Die Reaktion der Finanzmärkte deutet düstere Zeiten an, Depression, Arbeitslosigkeit über die Grenzen Englands hinaus. Das kann die Jugend in Europa insgesamt, die schon ausreichend krisengeschüttelt ist, nicht unberührt lassen. Die Entscheidung über die Mitgliedschaft des Landes in der Union geht alle Unionsbürger an, denn die EU ist ein gemeinsames Friedensprojekt, das aufs Spiel zu setzen sich niemand leisten kann.

Viele Menschen im Vereinigten Königreich werden die unmittelbaren und möglichen mittel- und langfristigen Folgen eines Austritts vielleicht nicht zutreffend eingeschätzt haben. Wer nach dem Votum für den Brexit von „Independence Day“ spricht, vergisst, gegen wen sich dieses Wort seinerzeit gerichtet hat und vermengt in demagogischer Weise despotische Herrschaft von außen mit der Mitgliedschaft in einer demokratisch strukturierten supranationalen Union, die von den Bürgern ihrer Mitgliedstaaten zur gemeinsamen Erfüllung gemeinsamer Aufgaben geschaffen wurde: Aufgaben, die jenseits der Handlungsmöglichkeiten des einzelnen Staates liegen. Hierfür steht das grundlegende Prinzip der Subsidiarität. Wenn diese Aufgaben auf Unionsebene erfüllt werden, wird dem einzelnen Staat nichts weggenommen, sondern die Bürgerinnen und Bürger schaffen sich zusätzliche Handlungsinstrumente zur Verfolgung ihrer gemeinsam definierten Ziele. Allein in der Wüste ist jeder von uns „independent“. Diese Art von Independence wünsche ich keinem von uns.

Wer jetzt auf den raschen Vollzug der „Entscheidung“ vom 23. Juni drängt, tut dies im besten Interesse der Stabilität und der Sicherheit. Wer dagegen Zeit gibt, zur Besinnung zu kommen und richtige Konsequenzen aus der neuen Erfahrung zu ziehen, könnte dem langfristigen Interesse Europas besser dienen. Nichts ist entschieden, nichts ist den „Nach-Denken“ entzogen. Wenn vor dem Referendum die Mehrheit des demokratisch gewählten britischen Parlaments für den Verbleib in der EU eingetreten ist, ebenso wie die Mehrheit der Minister der britischen Regierung, was erlaubt es dann, von einer Entscheidung des Vereinigten Königreichs für den Austritt auszugehen? Wiegt die Meinung der Mitglieder des Parlaments plötzlich nichts mehr? In ihrer politischen Verantwortung liegt es zu entscheiden, ob sie dem Stimmungsbild des Referendums folgen oder ob es Gründe gibt, die eine andere Entscheidung näher legen. Der Brexit könnte angesichts der Mehrheitsmeinung in Schottland, Wales und Nordirland zum Zerfall des Vereinigten Königreichs führen. Ist das kein relevanter Gesichtspunkt für die Abgeordneten des Unterhauses? Ist der Frieden, den die EU in Europa gebracht hat, sind die Potentiale, die sie für die wirtschaftliche Entwicklung in allen Mitgliedstaaten und für die Mitgestaltung der globalen Ordnung bietet, nicht Grund genug, das europäische Projekt zu stützen und zu nutzen anstatt es zu zertrümmern?

Der Meinungsumschwung des Anführers der Brexit-Kampagne, Boris Johnson, der jetzt den Briten verspricht, dass der Austritt an ihren Rechten und Vorteilen nichts ändern würde, ist ein Zeichen dafür, dass beim Referendum letztlich andere Dinge im Spiele waren als das, was real mit einem Austritt verbunden wäre. Vielleicht ist eine Neuwahl an der Tagesordnung, vielleicht ein zweites Referendum, vielleicht ist nur Zeit nötig zum Nach-Denken über das was passiert ist und was passieren könnte, wenn das Parlament seine Verantwortung wirklich wahrnimmt. Jedenfalls: Nichts ist entschieden, viele Fragen sind offen und es bleibt die Hoffnung, dass die Vernunft, wie sie auch die Idee Europas als Rechtsgemeinschaft und Verfassungsverbund prägt, letztlich die Oberhand behält.


SUGGESTED CITATION  Pernice, Ingolf: Brexit im europäischen Verfassungsverbund, VerfBlog, 2016/6/27, https://verfassungsblog.de/brexit-im-europaeischen-verfassungsverbund/, DOI: 10.17176/20160628-110159.

40 Comments

  1. Demokrat Mon 27 Jun 2016 at 22:49 - Reply

    Wenn sich die abgehalfterten politischen Eliten der EU vollends den Rest geben wollen, dann wäre, dem Autor folgend, das subtile Missachten dieses Votums eine glänzende Idee.
    Wer bei solchen Vorschlägen die Vernunft an seiner Seite wähnt hat eine durchaus robustes Selbstbild.

  2. Christian Boulanger Tue 28 Jun 2016 at 08:43 - Reply

    Herr Demokrat, können Sie mir mal erklären, warum kaum eine europakritische Meinungsäußerung ohne die langweiligen und wenig “subtilen” Klischees aus dem Populisten-Phrasenbuch auskommt (“abgehalfterte Eliten”)? Ich gehe einmal optimistisch davon aus, dass Sie ernst genommen werden und an der Diskussion teilnehmen möchten.

  3. EU_member Tue 28 Jun 2016 at 11:20 - Reply

    Während meines Besuchs in GB letzte Woche konnte ich feststellen, dass es genau der stumpfe Populismus war, den Herr Demokrat hier offenbart, der den Brexit getragen hat. Wie sich diese Debattenkultur a la Trump und Johnson verbreitet, finde ich sehr erschreckend.

  4. schorsch Tue 28 Jun 2016 at 11:43 - Reply

    Vor allem, lieber Demokrat, sind es weniger die “politischen Eliten der EU”, die den raschen Vollzug des Referendums in Frage stellen. Es sind die politischen Eliten des Vereinigten Königreiches. Es sind ausgerechnet Cameron, der das Referendum herbeigeführt hat, und Boris Johnson, der es gewonnen hat.