Bundestag macht Unmögliches möglich
Aufstellung von Kandidaten für die Bundestagswahl 2021
Der Bundestag hat heute festgestellt, dass die Durchführung von Versammlungen zur Aufstellung von Kandidaten für die Bundestagswahl 2021 infolge der Covid-19-Pandemie unmöglich ist. Er gibt dem Bundesinnenministerium damit grünes Licht, von einer zentralen Vorgabe des Wahlrechts durch Rechtsverordnung abzuweichen: Die Parteien sollen ihre Kandidaten auch ohne Versammlung aufstellen können. Die Ausrufung dieses „Wahlvorbereitungsnotstands“ lässt aufhorchen: Ist es nicht eigentlich Aufgabe des Bundestages selbst, das Wahlrecht zu ändern? Sind Aufstellungsversammlungen wirklich „unmöglich“? Wie weit darf das Ministerium mit seinen Abweichungen gehen? Und: Was machen die Länder, in denen im „Superwahljahr“ 2021 ebenfalls unter pandemischen Bedingungen gewählt wird?
Wer regelt was?
Seit dem Sommer 2020 wird in Berlin darüber diskutiert, wie die Parteien ihre Direkt- und Listenkandidaten für die Bundestagswahl „pandemiekonform“ aufstellen können. Das Bundeswahlgesetz sieht eine Kandidatenwahl in Mitglieder- oder Delegiertenversammlungen vor, deren Durchführung durch die Covid-19-Pandemie aber erschwert wird. Der Bundestag hat daher Ende Oktober 2020 mit § 52 Abs. 4 BWahlG eine Regelung geschaffen, die das Bundesinnenministerium dazu ermächtigt, von den bestehenden Vorschriften über die Kandidatenaufstellung abzuweichen. Der Erlass einer entsprechenden Rechtsverordnung bedarf der Zustimmung des Bundestages, der bereits zuvor feststellen muss, dass die Durchführung von Versammlungen ganz oder teilweise unmöglich ist. Diese Feststellung wurde heute auf Antrag der Koalitionsfraktionen getroffen.
Dass § 52 Abs. 4 BWahlG ein legitimes Ziel verfolgt, nämlich eine pandemiekonforme Kandidatenaufstellung zu gewährleisten, steht außer Frage: Ohne Kandidaten, keine Wahl, ohne Wahl keine Demokratie. Die Bundestagswahl 2021 kann nicht bis „nach Corona“ verschoben werden. Der demokratische Grundsatz der Periodizität fordert ihre Abhaltung kompromisslos ein. Der Weg, den der Bundestag aus diesem Dilemma weist, ist jedoch mehr als fragwürdig. Denn die Kandidatenaufstellung ist ein zentraler Schritt der Wahlvorbereitung. Ihre rechtliche Ausgestaltung obliegt in erster Linie dem Gesetzgeber. Das Nähere regeln die Parteien in ihren Satzungen. Die Exekutive hat in diesem für die Demokratie so wesentlichen Bereich nichts zu sagen. Man darf das Wahlrecht nicht zur Disposition der Zweiten Gewalt stellen, will man die Wahlen nicht dem Verdacht der unzulässigen Einflussnahme durch die Regierung aussetzen. Schon früh wurde daher kritisiert, dass der Bundestag die Rechtsetzungsmacht delegiert hat, anstatt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen (Heinig/Kingreen/Lepsius/Möllers/Volkmann/Wißmann, JZ 2020, 861 [868]). Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt der Kritik ist die Wesentlichkeitstheorie: Das Parlament muss die grundlegenden Fragen des Gemeinwesens selbst entscheiden („Parlamentsvorbehalt“). Dass die Aufstellung von Wahlbewerbern zu diesen grundlegenden Fragen zählt, lässt sich nicht ernsthaft bestreiten.
Man mag eine Ausnahme für die (Extrem-)Fälle anerkennen, in denen der Bundestag selbst nicht mehr rechtzeitig handeln kann. Der Parlamentsvorbehalt soll schließlich die Demokratie schützen, nicht aber um den Preis ihrer selbst. Doch das Paradoxe an § 52 Abs. 4 BWahlG ist, dass er gerade nicht (nur) diesen Fall betrifft. Schließlich trifft der Bundestag die ermächtigungsauslösende Feststellung und entscheidet am Ende auch über die Zustimmung zur Rechtsverordnung. „Aber warum kann der Bundestag ein von ihm selbst erlassenes Gesetz nicht auch selbst ändern, statt einer ministeriellen Rechtsverordnung zuzustimmen, die von diesem abweicht?“, möchte man mit Thorsten Kingreen fragen. In der Tat führt der Zustimmungsvorbehalt die Begründung des § 52 Abs. 2 BWahlG als Ausnahmeregelung ad absurdum. Es ist nämlich ein gewaltiger Unterschied, ob der Bundestag eine Rechtsverordnung „anguckt“ und „ein Häkchen drunter“ macht – wie es ein Parlamentarier in der Debatte zu § 52 Abs. 4 BWahlG formulierte –, oder ob die Abgeordneten selbst um die bestmögliche gesetzliche Lösung ringen. Im Zustimmungsverfahren können sie nur „Ja“ oder „Nein“ sagen, im Gesetzgebungsverfahren gibt es auch „Ja, aber“ und „So nicht, aber so“.
Was heißt „unmöglich“?
Nicht nur die Übertragung der Gestaltungsmacht an die Exekutive ist kritikwürdig, sondern auch die Formulierung des Ermächtigungstatbestandes: § 52 Abs. 4 BWahlG beschreibt nämlich eine Situation, die es strenggenommen gar nicht geben kann. Wie Anna von Notz zutreffend bemerkt hat, ist die vom Bundestag heute festgestellte Unmöglichkeit der Durchführung von Versammlungen selbst ein „Ding der Unmöglichkeit“. Sich unter pandemischen Bedingungen zu versammeln ist möglich, es ist nur nicht besonders gesund. Auch rechtliche Unmöglichkeit scheidet aus, da Wahlversammlungen nicht verboten werden können. Das Wahlrecht geht dem Infektionsschutzrecht als speziellere Materie vor. Daher haben die meisten Länder die Wahlversammlungen von vorneherein von den Versammlungsverboten ihrer Infektionsschutzverordnungen ausgenommen. Auch die Koalitionsfraktionen haben übrigens erkannt, dass es die von § 52 Abs. 4 BWahlG vorausgesetzte Unmöglichkeit gar nicht geben kann. In ihrem Antrag sprechen sie nur noch davon, dass die Durchführung von Aufstellungsversammlung angesichts des verschärften Lockdowns der Öffentlichkeit „nicht vermittelbar“ wäre. „Nicht vermittelbar“ ist aber nicht gleichbedeutend mit „unmöglich“. Vermittelbarkeit ist eine politische Kategorie, keine rechtliche.
Was passiert jetzt?
Der Bundestag hat mit seiner heutigen Feststellung also Unmögliches möglich gemacht. Nun bleibt abzuwarten, wie das Bundesinnenministerium den neuen Gestaltungsspielraum nutzt. Nach § 52 Abs. 4 BWahlG kann es von den Vorschriften des Bundeswahlgesetzes und den Satzungen der Parteien abweichen, um eine Kandidatenaufstellung auch „ohne Versammlung“ zu ermöglichen. Das Gesetz lässt dem Ministerium dabei weitgehend freie Hand. § 52 Abs. 4 BWahlG nennt am Ende nur einige beispielhafte Regelungen, die aber gerade keinen verbindlichen, nach Eingriffsintensität gestuften Katalog von möglichen Verordnungsinhalten darstellen. Schlimmer noch: Manche Regelungsbeispiele sind selbst unverhältnismäßig. So soll das Ministerium die satzungsmäßige Zahl der Delegierten herabsetzen und im Wege der Satzungsdurchbrechung statt einer Mitglieder- eine Delegiertenversammlung zulassen können. Das sind schwerwiegende Eingriffe in die binnendemokratische Ordnung der Parteien, deren Erforderlichkeit man bezweifeln muss. Schließlich steht mit der Zulassung virtueller Aufstellungsversammlungen ein milderes Mittel zur Verfügung, das gleich – ja sogar besser – geeignet ist, das Infektionsrisiko bei der Kandidatenaufstellung gering zu halten. Bezeichnend für die Prioritäten in der Covid-19-Gesetzgebung ist, dass § 52 Abs. 4 BWahlG zwar den Einsatz von elektronischen Kommunikationsmitteln zulässt, aber keine Bild- und Tonübertragung vorschreibt. Man kann Wahlbewerber also auch per WhatsApp-Chatgruppe aufstellen. Bei der Regelung der virtuellen Hauptversammlung von Aktiengesellschaften hat sich der Gesetzgeber mehr Mühe gegeben: Dort ist die audiovisuelle Übertragung zwingend (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 COVMG). Im Recht der Pandemiegesellschaft ist die Mitwirkung von Aktionären besser geschützt als die Partizipation von Parteimitgliedern.
Kryptisch sind die Vorgaben, die § 52 Abs. 4 BWahlG für die eigentliche Wahl der Kandidaten macht. Die „Schlussabstimmung über einen Wahlvorschlag“ soll nämlich von der elektronischen Kommunikation ausgeschlossen sein und stattdessen im Wege der Briefwahl oder Urnenwahl stattfinden. Mit Blick auf den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ist das zu begrüßen. Er gilt als demokratisches Prinzip jedenfalls in seinem Kern auch für Kandidatenwahlen und schließt den Einsatz von E-Voting-Programmen aufgrund ihrer notorischen Intransparenz (von den Sicherheitsrisiken ganz zu schweigen) aus (anders sieht das Anna von Notz). Aber was soll „Schlussabstimmung“ in diesem Zusammenhang bedeuten? Der Ausdruck ist bislang nur im Parlamentsrecht gebräuchlich, wo er die Abstimmung über ein Gesetz am Schluss der Dritten Lesung bezeichnet, nachdem über alle Änderungsanträge abgestimmt wurde (§ 83 GOBT). Übertragen auf die Aufstellung von Landeslisten könnte das heißen, dass nur die Abstimmung über die Liste „im Ganzen“ vom E-Voting ausgenommen wäre. Die einzelnen Listenplätze könnten hingegen in elektronischen Wahlen besetzt werden. Das würde den Öffentlichkeitsgrundsatz aushebeln: Denn gewählt wird bei der Besetzung der Listenplätze. Bei der Abstimmung über die Liste im Ganzen können die Mitglieder oder Delegierten nur noch „Ja“ oder „Nein“ zu allen Kandidaten sagen. Das ist ein parteiinternes Miniaturplebiszit, aber keine demokratische Wahl.
Angesichts dieser augenfälligen Defizite des § 52 Abs. 4 BWahlG bleibt zu hoffen, dass sich das Bundesinnenministerium bei der Formulierung seiner Rechtsverordnung eine größere inhaltliche und terminologische Stringenz auferlegt als der Gesetzgeber und vor allem die Erforderlichkeit der Regelungen im Blick behält: innerparteiliche Mitwirkungsrechte, Chancengleichheit der Bewerber, Öffentlichkeit der Wahl und Satzungsautonomie der Parteien sind trotz ihrer schwachen Verankerung im Verfassungstext (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG) keine Verfassungsgüter, die man leichtfertig „wegwägen“ sollte. Es sind Grundpfeiler unserer Demokratie, die eben auch Parteiendemokratie ist. Denn ohne Parteien keine Kandidaten, ohne Kandidaten keine Wahl, usw.
Was machen die anderen?
2021 wird nicht nur im Bund, sondern auch in sechs Ländern ein neues Parlament gewählt. In Hessen und Niedersachsen stehen außerdem Kommunalwahlen an. Noch hat – soweit ersichtlich – keines der betroffenen Länder eine dem § 52 Abs. 4 BWahlG vergleichbare Regelung beschlossen. Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, deren Landtage am 14. März 2021 gewählt werden, kommen ohne Abweichungen vom geltenden Wahlrecht aus: Die Kandidaten sind dort bereits aufgestellt. Ob Thüringen am vereinbarten Termin der vorgezogenen Neuwahl, dem 25. April 2021, festhält, ist unklar. Der Landtag in Erfurt berät derzeit ein „Maßnahmengesetz“ für eine vorgezogene Neuwahl in der Pandemie, das auch die Kandidatenaufstellung erleichtern soll. Obwohl der Entwurf der Thüringer Koalitionsfraktionen nicht in jedem Detail überzeugt, lässt er doch die erfreuliche Bereitschaft des Parlaments erkennen, die wesentlichen Fragen in einem Gesetz zu regeln. Den übrigen Ländern (Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin) ist zu raten, sich am Bund kein Vorbild zu nehmen. Wenig optimistisch stimmt dabei, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung eine Verordnungsermächtigung „[a]nalog § 52 Abs. 4 BWahlG“ in das Landeswahlgesetz aufnehmen will, obwohl an Rhein und Ruhr erst im Herbst 2022 gewählt wird (vgl. dazu die kritische Stellungnahme von Sophie Schönberger). Etwas mehr legislative Eigeninitiative würde den Ländern gut zu Gesicht stehen – gerade in Zeiten der Pandemie kann der Wahlrechtsföderalismus seine Stärken unter Beweis stellen.
Anm. d. Redaktion: Der Satz “Bezeichnend für die Prioritäten in der Covid-19-Gesetzgebung ist, dass § 52 Abs. 4 BWahlG zwar den Einsatz von elektronischen Kommunikationsmitteln zulässt, aber keine Bild- und Tonübertragung vorschreibt.” wurde nachträglich ergänzt.
Neben der Frage, wie in Pandemien Aufstellungsversammlungen abgehalten werden können, steht die nächste Frage auf dem Plan: die Unterstützerunterschriften.
Je Bundesland muss eine Partei, die noch nicht im Bundes- bzw. einem Landtag vertreten ist, bis zu 2000 solcher Unterschriften vorlegen. Neben den eigenen Mitgliedern werden diese Unterschriften in der Regel im öffentlichen Raum (Straßenfeste, Stände, …) gesammelt. Doch genau das ist in Zeiten der Kontaktvermeidung nicht möglich. Selbst Personen, die einer solchen Partei nahe stehen, gehen nun auf Distanz. Zwar besteht auch die Möglichkeit, auf Brief auszuweichen, doch die Hürden und Kosten (Porto) sind wesentlich höher. Ich bin gespannt, ob hier der Gesetzgeber ebenso nach Lösungen suchen wird – oder wie im Bundesland Baden-Württemberg erst die Gerichte involviert werden müssen.
Lieber Dr. Michl,
spannende Analyse, vielen Dank!
Einen Kritikpunkt kann ich aus theoretischen Gesichtspunkten zwar sehr nachvollziehen, aus der Praxis allerdings nicht. Die von ihnen angesprochene Konsequenz, dass mit dem Terminus “Schlussabstimmung” nur eine endgültige Ja/Nein-Abstimmung über die Liste via Brief- oder Urnenwahl stattfinden muss, lässt leider eine praktische Analyse vermissen. Denn im typischen Parteienleben wird bereits heute in aller Regel genau so agiert. Zwar findet bei einer Listenaufstellung schon eine A