14 February 2011

BVerfG: Das Ende der “objektiven” Auslegungsmethode?

Von MATTHIAS KÖTTER (Gastautor)

Ende letzter Woche hat das Bundesverfassungsgericht den BGH in punkto nachehelicher Unterhalt in die Schranken gewiesen. Die Entscheidung dürfte aber  nicht nur Familienrechtlerinnen und Familienrechtlern Spaß machen. Denn im Grunde handelt es sich um eine Methoden-Entscheidung, die an uralte Fragen rührt und die teilweise zu überraschenden Einsichten führt. Denn:

Erstens betätigt sich das BVerfG hier ziemlich unverblümt als Superrevisionsinstanz. Es weist diese Aufgabe − anders als in vielen ähnlich gelagerten Fällen − nicht weit von sich, sondern erfüllt sie vielmehr sorgfältig und nachvollziehbar. Den Ansatzpunkt für die Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidung ist Art. 2 I GG, der verletzt sei, soweit die „Grenzen vertretbarer Auslegung“ und der „Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung“ überschritten sind. Die Zuständigkeit der Fachgerichte für die Auslegung des einfachen Rechts, der Wahl der Auslegungsmethode sowie die Anwendung auf den Einzelfall, wird zum Lippenbekenntnis. Denn um einen „krassen Widerspruch“ der fachgerichtlichen Auslegung zu den zur Anwendung gebrachten Normen festzustellen, der „ohne entsprechende Grundlage im geltenden Recht Ansprüche begründet oder Rechtspositionen verkürzt, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipien gewährt hat“, setzt der Senat seine − geradezu schulmäßige − Auslegung von § 1578 I BGB der des Fachgerichts in revisionsgerichtlicher Manier entgegen. Und am Ende rechnet er sogar noch den Eurobetrag aus, auf den die verfassungsgemäße Ermittlung des Unterhalts im Fall zu kommen hätte, und verweist den Fall zurück ans OLG. Wie, wenn nicht genau so, würde eine Superrevisionsinstanz sonst entscheiden?

Zweitens schränkt das BVerfG den Spielraum zulässiger Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte erheblich ein. Zwar betont der Senat die Aufgabe der Gerichte, angesichts „des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen“ das geltende Recht an veränderte Verhältnisse anzupassen, und beschränkt die verfassungsgerichtliche Kontrolle darauf, ob die rechtsfortbildende Auslegung durch die Fachgerichte die gesetzgeberische Grundentscheidung und dessen Ziele respektiert und ob sie den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung folgt. Gleichzeitig betont der Senat, dass eine „Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, … unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers“ eingreift. Dass dem BVerfG das BGH-Konzept zum nachehelichen Unterhalt zu weit geht, leuchtet ein. In der Rigorosität der Aussage wäre dagegen jede nicht vom Wortlaut umfasste Fortbildung ausgeschlossen, was nicht selten auch Fälle der verfassungskonformen Auslegung betrifft.

Und drittens folgt das BVerfG der sog. subjektiven Auslegungslehre. Um den Gesetzeszweck zu ermitteln, bezieht sich der Senat an mehreren Stellen ganz ausdrücklich auf den Willen des Gesetzgebers („Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen.“) und bezieht dabei auch die Gesetzesbegründungen mit ein. Dieser zur Ermittlung des Gesetzeszwecks methodisch einleuchtende Rekurs auf den Willen des historischen Gesetzgebers macht ein weiteres Mal deutlich, dass das BVerfG heute keineswegs mehr der lange von ihm favorisierten objektiven Lehre folgt, die nach einem objektiven Regelungsgehalt des Gesetzes fragt und die Entstehungsgeschichte und die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe nur zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses heranzieht (BVerfGE 11, 126, 129f.). Das sollten auch die Lehrbücher zum Verfassungsrecht und zur Methodenlehre endlich anerkennen.

Von MATTHIAS KÖTTER (Gastautor)

Ende letzter Woche hat das Bundesverfassungsgericht den BGH in punkto nachehelicher Unterhalt in die Schranken gewiesen. Die Entscheidung dürfte aber  nicht nur Familienrechtlerinnen und Familienrechtlern Spaß machen. Denn im Grunde handelt es sich um eine Methoden-Entscheidung, die an uralte Fragen rührt und die teilweise zu überraschenden Einsichten führt. Denn:

Erstens betätigt sich das BVerfG hier ziemlich unverblümt als Superrevisionsinstanz. Es weist diese Aufgabe − anders als in vielen ähnlich gelagerten Fällen − nicht weit von sich, sondern erfüllt sie vielmehr sorgfältig und nachvollziehbar. Den Ansatzpunkt für die Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidung ist Art. 2 I GG, der verletzt sei, soweit die „Grenzen vertretbarer Auslegung“ und der „Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung“ überschritten sind. Die Zuständigkeit der Fachgerichte für die Auslegung des einfachen Rechts, der Wahl der Auslegungsmethode sowie die Anwendung auf den Einzelfall, wird zum Lippenbekenntnis. Denn um einen „krassen Widerspruch“ der fachgerichtlichen Auslegung zu den zur Anwendung gebrachten Normen festzustellen, der „ohne entsprechende Grundlage im geltenden Recht Ansprüche begründet oder Rechtspositionen verkürzt, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipien gewährt hat“, setzt der Senat seine − geradezu schulmäßige − Auslegung von § 1578 I BGB der des Fachgerichts in revisionsgerichtlicher Manier entgegen. Und am Ende rechnet er sogar noch den Eurobetrag aus, auf den die verfassungsgemäße Ermittlung des Unterhalts im Fall zu kommen hätte, und verweist den Fall zurück ans OLG. Wie, wenn nicht genau so, würde eine Superrevisionsinstanz sonst entscheiden?

Zweitens schränkt das BVerfG den Spielraum zulässiger Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte erheblich ein. Zwar betont der Senat die Aufgabe der Gerichte, angesichts „des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen“ das geltende Recht an veränderte Verhältnisse anzupassen, und beschränkt die verfassungsgerichtliche Kontrolle darauf, ob die rechtsfortbildende Auslegung durch die Fachgerichte die gesetzgeberische Grundentscheidung und dessen Ziele respektiert und ob sie den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung folgt. Gleichzeitig betont der Senat, dass eine „Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, … unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers“ eingreift. Dass dem BVerfG das BGH-Konzept zum nachehelichen Unterhalt zu weit geht, leuchtet ein. In der Rigorosität der Aussage wäre dagegen jede nicht vom Wortlaut umfasste Fortbildung ausgeschlossen, was nicht selten auch Fälle der verfassungskonformen Auslegung betrifft.

Und drittens folgt das BVerfG der sog. subjektiven Auslegungslehre. Um den Gesetzeszweck zu ermitteln, bezieht sich der Senat an mehreren Stellen ganz ausdrücklich auf den Willen des Gesetzgebers („Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen.“) und bezieht dabei auch die Gesetzesbegründungen mit ein. Dieser zur Ermittlung des Gesetzeszwecks methodisch einleuchtende Rekurs auf den Willen des historischen Gesetzgebers macht ein weiteres Mal deutlich, dass das BVerfG heute keineswegs mehr der lange von ihm favorisierten objektiven Lehre folgt, die nach einem objektiven Regelungsgehalt des Gesetzes fragt und die Entstehungsgeschichte und die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe nur zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses heranzieht (BVerfGE 11, 126, 129f.). Das sollten auch die Lehrbücher zum Verfassungsrecht und zur Methodenlehre endlich anerkennen.


SUGGESTED CITATION  Kötter, Matthias: BVerfG: Das Ende der “objektiven” Auslegungsmethode?, VerfBlog, 2011/2/14, https://verfassungsblog.de/bundesverfassungsgericht-auf-methodisch-neuen-wegen/, DOI: 10.17176/20181008-124659-0.

8 Comments

  1. Schwienetünnis Mon 14 Feb 2011 at 13:52 - Reply

    1. Keineswegs Superrevision

    Um festzustellen, dass es keine vertretbaren Argumente für die vom Fachgericht befürwortete Auslegung gibt, muss die Norm zunächst schulmäßig ausgelegt werden. Das allein hat meiner einem unzulässigen Übergriff des Verfassungsgerichts noch nichts zu tun. Problematisch sind solche Erwägungen nur dann, wenn das Verfassungsgericht sich unter verschiedenen verfassungsrechtlich vertretbaren Auslegungen für eine entscheidet und damit die der Fachegrichtsbarkeit vorbehaltene Auslegungsaufgabe übernimmt. Das ist auch hier nicht der Fall gewesen. Vielmehr hat das Verfassungsgericht die vom BGH vertretene Auffassung als unvertretbar qualifiziert und daraus die einfach-rechtlich zwingenden Konsequenz gezogen.

    2. Zur Rechtsfortbildung

    Auch insofern den Maßstäben nach nichts Neues. Entscheidend ist für jede Rechtsfortbildung, dass ein Anhalt im Gesetz besteht. Dieser kann im Wortlaut, aber auch in anderen Auslegungskriterien liegen.

    3. Zur subj. Auslegungsmethode

    Keineswegs hat sich das BVerfG für die subj. Auslegung, indem es an die Materialien angeknüpft hat. Dann hätte es sich bereits in einer Vielzahl zurückliegender Entscheidungen entsprechend entschieden. Man mag eine solche Entscheidung zwar für mehr oder weniger wünschenswert halten, jedoch wendet sich das Verfassungsgericht lediglich gegen solche Argumente, die keinerlei Anhalt im Gesetz für sich haben und die deshalb den Willen des Gesetzgebers in sein Gegenteil verkehren.

    Fazit: Die Bedeutung der Entscheidung liegt nicht in den besprochenen Gesichtspunkten, sondern nur darin, dass die bisherige BGH-Rspr. nicht mehr fortgeführt werden darf.

  2. Jurastudent Mon 14 Feb 2011 at 16:17 - Reply

    Der Wille des Gesetzgebers soll Bedeutung haben für die Rechtsprechung? Ja wo leben wir denn, etwa in einer Demokratie? NEIN, NEIN und nochmals NEIN! Wir leben in einer Richterdiktatur und so soll das bitte bleiben!

  3. Malte S. Mon 14 Feb 2011 at 16:47 - Reply

    “Die Grenze der Auslegung bildet der Wortlaut der Norm.” lautete seit jeher eine der prägnantesten Formulierungen zur Gesetzauslegung. Auch mehrfach vom BVerfG dergestalt vertreten. Da ist keine Änderung erfolgt. Auch bei der Superrevisionsinstanz wage ich zumindest so weit zu widersprechen, dass hier keine Änderung der Rechtssprechung vorliegt und schließe mich meinem Vorposter an.

  4. Jurastudent Mon 14 Feb 2011 at 19:35 - Reply

    Das BverfG hat doch in seinen Entscheidungen bei Auslegungsfragen immer mal wieder nach dem Willen des Gesetzgebers gefragt, ohne sich von der objektiven Theorie zu lösen. Diese Entscheidung also soll das Gericht dauerhaft auf den Pfad der Tugend gelenkt haben? Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.

    Nicht nur, dass die objektive Auslegung die Grenzen des Gewaltenteilungsgrundsatzes sprengt, nein selbst bestehendes Gesetzesrecht war (und ist) vor den BverfG-Richtern nicht sicher (siehe Soraya). Mir geht das Vertrauen in unsere dritte Gewalt zu weit. Wir haben weder den Richtern an Bundesgerichten, noch denen am BVerfG unsere Stimme gegeben und sie damit beauftragt, ein (nach subjektiven Vorlieben der Richter) “objektives” System von Werten zu suchen. Entsprechend sollten die Richter sich bei der Rechtsfortbildung zurückhalten.

  5. Rieger Tue 15 Feb 2011 at 00:04 - Reply

    @ Malte S.

    ” Die Grenze der Auslegung bildet der Wortlaut der Norm ” . Dieser Grundsatz gilt nur fürs Strafrecht. Der Wortlaut einer Norm ist im übrigen der Ausgangspunkt der Auslegung und leicht überwindbar. Das BVerfG mag diesen Satz “mehrfach” in Strafrechtsentscheidungen “vertreten” haben. Das hier im Kontext eines zivilrechtlichen Falles anzuführen verfehlt indes den Kern der Thematik.

    Es ist auch richtig so, dass in den Übrigen Bereichen des Rechts der Richter den Gedanken, den der Gesetzgeber hat denken wollen, aber nicht denken konnte, weil er den nunmehr vorliegenden Fall nicht in seine Überlegungen einbezogen hatte, oder nicht einmal konnte, an seiner Stelle und in seinem Sinne zu denken. Seine eigenen Vorstellungen unterzuschieben, und sich an Stelle des Gesetzgebers zu setzen ist das Problem.

    Anerkannt ist insofern dass ein Gesetz nicht in dem Sinne ausgelegt werden darf, dass ihm kein nennenswerter Anwendungsbereich verbleibt (was m.E. hinsichtlich des Versammlungsgesetzes und der verfassungskonformen “Auslegung” der wortlautklaren Auflösungsbefugnis wegen mangelnder vorheriger Anmeldung erfüllt ist, – hier hätte nach Art. 100 GG vorgelegt und für nichtig erklärt werden müssen) oder der ihm vom Gesetzgeber beigelegte Sinn in sein Gegenteil oder aliud verkehrt wird (was wohl im hier diskutierten Beitrag relevant ist).

    Last but not least: Die objektive Auslegung ist die subjektive. Die subjektive Auslegung die objektive. Think about it.

  6. Schwienetünnis Wed 16 Feb 2011 at 15:02 - Reply

    Zum Argument, der Wortlaut sei die Grenze der Auslegung:

    “… Am Wortlaut einer Norm braucht der Richter dabei nicht Halt zu machen. …” (BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 29. 7. 2004 – 1 BvR 737/00 -, NJW 2004, S. 2662).

    Jedenfalls kann von einer Wortlautgrenze in der Allgemeinheit keine Rede sein. Man mag z.B. hinsichtlich des Strafrechts anderer Ansicht sein. Im Übrigen ist der Gesetzeszweck Grenze. Der diesem zugrundeliegende Wille des Gesetzgebers darf nicht konterkariert werden. Ob der Wille mehr subjektiv oder mehr objektiv bestimmt wird, richtet sich keineswegs nach einer einheitlichen Methode, sondern insbes. nach dem Inhalt der vorhandenen Materialien und den übrigen Auslegungskriterien. Oft stehen keine eindeutigen Äußerungen des Gesetzgebers hinsichtlich eines Details zur Verfügung oder die Äußerungen sind gar widersprüchlich (z.B. ZPO-Reform und Bedeutung des § 529 ZPO nach Auffassung des BGH).

  7. Rieger Fri 18 Feb 2011 at 12:27 - Reply

    hins. des Strafrechts wird die Wortlautgrenze vom BVerfG in st.Rspr betont.

  8. […] zu sein. Auf der Plagiats-Enthüllungsseite Vroniplag taucht eine Passage aus einem Blogpost von Matthias Kötter auf, die die Autoren eines Buchs über juristische Methodenlehre offenbar so interessant fanden, […]

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