19 March 2020

Damit die Länder auch morgen noch kraftvoll zubeißen können

Ein Zwischenruf

Der Staat muss ein Wolf sein, damit nicht die Menschen wölfisch übereinander herfallen. Sagt Hobbes. Sinngemäß. Der staatliche Wolf muss gebändigt werden, damit er nicht wölfisch über die Menschen herfällt. Sagt Locke. Die Menschen müssen dem Staat gehorchen, damit dieser seiner Rolle als wölfischer Verhinderer wölfischen Verhaltens der Menschen auch wirksam nachkommen kann. Sagt Hobbes und hier stimmt auch Locke zu. Der Herrschafts- und Gehorsamsvertrag muss aber auch Elemente enthalten, die eine Aufkündigung der Gehorsamspflicht der Menschen vorsehen, falls der Staat wölfisch über die Menschen herfällt. Sagt Locke. Der Staat darf also nicht zu viel Wolf sein, er muss aber, unterm Strich, auch genug Wolf sein, andernfalls die Menschen zu viel Wolf werden und vice versa. Korrespondierende Röhren mit jeweils scharfen Zähnen. Der Bürger beißt den Staat, wenn dieser überzieht (hierfür geht er in Deutschland vor Gericht, andernorts meint man, für diese Fälle eine Flinte unterm Bett liegen haben zu dürfen), der Rechtsstaat muss aber auch Zähne zeigen, wie man etwa in Hinblick auf die Bekämpfung von Terrorismus oder Rechtsextremismus oder beidem zu Recht immer wieder hört. In Zeiten von Corona muss der Staat offenbar zunehmend Zähne zeigen, um zu verhindern, dass die Menschen dadurch Wolf werden, dass sie sich gruppenweise am Isarufer sonnen oder dicht an dicht Latte Macchiato schlürfen.

Die Kanzlerin als Nicht-Leviathan

Welche Maßnahmen hier angemessen sind und wo der Bürger ggfs. den Staat beißen muss, auf dass dieser nicht überzieht, ist dann wieder eine Frage für sich. Die Schließung der äußeren, der nationalen Grenzen (die europäischen Grenzen werfen wieder andere Fragen auf) dürfte tatsächlich davon ablenken, dass in dieser Krise die innernationale Mobilität das eigentliche Problem darstellt, wie zu Recht angemerkt wird. Zurückweisungen an der Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Hamburg werden uns wohl bald beschäftigen, und dies lenkt den Blick auf das deutsche Problem. Ist der Bund für alle diskutierten Maßnahmen für eine vollständige Stilllegung der Nation überhaupt der zuständige Leviathan? Die Kanzlerin kündigte gestern keine weiteren Maßnahmen an. Warum sollte sie auch in Aussicht stellen, was der Bund gar nicht anordnen kann? Sie ist in dieser Sache Nicht-Leviathan, das Grundgesetz hält für den Pandemiefall kein Bundesnotstandsrecht bereit. Dass der bayerische Ministerpräsident heute mit bayernweiten Ausgangssperren drohte, dass das Land Schleswig-Holstein uns alle daran erinnert, dass Länder Staaten sind und daher über Staatsgrenzen verfügen, die man unter Einhaltung der Schranken, der die Schranken aus Art. 11 Abs. 2 GG ihrerseits unterliegen, auch im äußersten Fall schließen kann, all dies zusammengenommen zeigt, dass in dieser spezifischen Not die Länder notstandszuständig sind. Hiervon geht auch Art. 35 Abs. 3 GG aus und begrenzt sogar bei bundesweiten Katastrophenfällen die Bundeskompetenzen auf das Recht, die Länder zur länderübergreifenden Zurverfügungstellung von Polizeikräften anzuweisen, ein polizeifachrechtliches Weisungsrecht ergibt sich daraus nicht. Zwar wird in der Literatur vertreten, im Ergebnis überzeugend, dass aus dem Recht des Bundes, Bundespolizeikräfte abzustellen auch folgt, dass diese dann auf Grundlage des Bundespolizeigesetzes handeln können (und nicht nach dem Polizeirecht des Einsatzlandes), da aber nur Unterstützung durch den Bund geleistet werden kann, ist klar, dass beide Ebenen sich abstimmen müssen. Dass es keine Möglichkeit gibt, eine bundesweite Polizeiverordnung zu erlassen, muss kaum gesagt werden. Der einzige Bundeszugriff, der organisationsrechtlich möglich erscheint, wäre legislativer Natur und könnte in dem Erlass eines Maßnahmegesetzes nach österreichischem Vorbild oder in einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes bestehen, jeweils gestützt auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG und bezogen auf die Schaffung einer Verordnungsermächtigung (Art. 80 Abs. 2 letzte Var. GG) zugunsten der Bundesregierung oder eines Bundesministeriums (denn die Vollziehung des IfSG ist über Art. 83, 84 GG als landeseigene dem fachrechtlichen Zugriff des Bundes von vornherein entzogen), auf deren Grundlage dann bundesweite Ausgangsbeschränkungen angeordnet werden könnten (wie hier).

Bezahnte Staatlichkeit

Solange dies nicht erfolgt, bleibt es dabei, dass allein die Länder am Zug sind und hier käme auch für Ausgangsbeschränkungen wohl eine Anknüpfung an § 28 Abs. 1 IfSG in Betracht, entweder auf dem für die bisherigen Maßnahmen eingeschlagenen, (u.a.) niedersächsischen Weg, also über eine fachrechtliche Anweisung an die Kommunen als untere Infektionsschutzbehörden zum Erlass entsprechender Allgemeinverfügungen, oder auf dem bayerischen Weg des Erlasses einer landesweiten Allgemeinverfügung, soweit das landesinterne Zuständigkeitsrecht dies ermöglicht. Bekanntlich sieht § 32 S. 1 IfSG vor, dass alle auf § 28 IfSG stützbaren Verfügungen immer auch als Landesrechtsverordnungen, also als Normen, ergehen können. Die Länder müssen nun also Zähne zeigen und hierbei sichtbar machen, was Eigenstaatlichkeit bedeuten kann und in dieser Lage wohl auch bedeuten muss. Das schweizerische Bundesgericht hat in einer bekannten Entscheidung aus dem Jahr 1991 (Eidgenossenschaft ./. Sabine Leutenegger Oberholzer u.a.), als es um die Abgrenzung der Staatsschutzkompetenzen zwischen Bund und Kantonen ging, für den Bund festgehalten, dass diesem „als Gemeinwesen grundsätzlich die Kompetenz zusteht, für seine innere und äussere Sicherheit zu sorgen. Diese Zuständigkeit fällt dem Bund wegen seiner Staatlichkeit als notwendige mitgegebene primäre Staatsaufgabe zu und ist im Bestand des gesamtschweizerischen Gemeinwesens als solchem begründet […].“ Das ist im Grunde Hobbes in Reinform und gilt genauso für die Bundesglieder, wie das Bundesgericht indirekt in einer weiteren bekannten Entscheidung aus dem Jahr 2002 (B. ./. Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. u.a.) zugab, allerdings aus der Hobbes noch fremden Perspektive der Volkssouveränität, als es nämlich die kantonale Beschränkung der Zulassung von Urkundspersonen auf Kantonsansässige damit begründete, dass hierin der „demokratische Grundgedanke zum Ausdruck [kommt], wonach die Staatsgewalt durch die Staatsunterworfenen selber ausgeübt wird“. Wieder auf die Schutzfunktion bezogen, kann man eben sagen, dass Staatlichkeit immer auch bedeuten muss, staatliche Kernaufgaben wahrnehmen zu können und ggfs. auch zu müssen: Sicherheit, Schutz der demokratischen Gemeinschaft, Schutz der Gemeinschaft überhaupt usf. Staatlichkeit ist mithin immer auch bezahnte Staatlichkeit.

Da die grundgesetzlich verzurrte Bundeskompetenzordnung nun einmal Seuchenrechtsvollzug und Katastrophenschutz in Länderhand legt, ist es nun an diesen unter Beweis zu stellen, dass sie in der Lage und auch willens sind, die ihnen als Staaten ‚mitgegebene primäre Staatsaufgabe‘ der Abwehr eines Massensterbens auch zu erfüllen und zwar in der erforderlichen Geschwindigkeit. Mitunter ist in Vergessenheit geraten, dass Erforderlichkeit nicht nur bedeutet, das mildeste geeignete Mittel zur Zweckerreichung einzusetzen, sondern auch, dass Erforderliches beizeiten auch getan werden muss. Dass die Stufenlogik unserer Verhältnismäßigkeitsdogmatik in ihrer statischen Grundannahme, wonach immer erst die Wirksamkeit eines Mittels abgewartet werden muss, um die nächste Eskalationsstufe ansteuern zu können, in Konflikt mit der epidemologischen Dynamik geraten kann, ist ein weiteres Problem, das hier nur angerissen werden kann. An dieser Stelle soll etwas anderes gesagt werden. Die Kanzlerin musste gestern keine Zähne zeigen, sondern durfte (und musste) kluge und richtige Dinge sagen, um an den inneren, den moralischen Gesetzgeber in uns allen zu appellieren. Für den heteronomen Zwang sind in diesem Fall die Länder zuständig. Sie müssen nun Zähne zeigen und das bekannte Diktum Isensees, wonach die Länder am Ende nur „Staaten ohne Ernstfall“ seien, widerlegen. Dann kann sogar der vielgescholtene deutsche Föderalismus diese Krise überleben.


SUGGESTED CITATION  Lehner, Roman: Damit die Länder auch morgen noch kraftvoll zubeißen können: Ein Zwischenruf, VerfBlog, 2020/3/19, https://verfassungsblog.de/damit-die-laender-auch-morgen-noch-kraftvoll-zubeissen-koennen/, DOI: 10.17176/20200320-002953-0.

2 Comments

  1. JL Fri 20 Mar 2020 at 10:09 - Reply

    Hallo, ich weiß nicht ob sie Fragen dierekt beantworten. Falls dem so ist: Was darf denn verboten werden und was nicht, im ernstfall versteht sich.

  2. wacaffe Fri 20 Mar 2020 at 12:11 - Reply

    “Dass die Stufenlogik unserer Verhältnismäßigkeitsdogmatik in ihrer statischen Grundannahme, wonach immer erst die Wirksamkeit eines Mittels abgewartet werden muss, um die nächste Eskalationsstufe ansteuern zu können, in Konflikt mit der epidemologischen Dynamik geraten kann, ist ein weiteres Problem, das hier nur angerissen werden kann.”

    Ein ganz wesentlicher Aspekt!

    Bedeutet in der Konsequenz, dass ggf. auch Stufen der Geeignetheit übersprungen werden müssen , um eine exponentielle Entwicklung einzudämmen.

    Die vordergründig zunächst milderen Mittel sind aufgrund der epidemiologischen Eigendynamiken nämlich gerade nicht geeignet eine nachhaltige Abflachung der Kurve, und darum geht es ja, zu erreichen.

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