Das Cannabis-Dilemma
Rechtliche Hürden der Cannabis-Legalisierung in Deutschland und Europa
Die zukünftige deutsche Bundesregierung will Cannabis legalisieren. Aus kriminologischer Sicht eine richtige Entscheidung. Gesundheitspolitisch bleibt es umstritten, etwa was die schädliche Wirkung auf Jugendliche angeht, doch auch hier scheint die herrschende Meinung in Richtung Legalisierung zu tendieren. Wie das alles konkret umgesetzt werden soll, wird sich zeigen. Worüber erstaunlich wenig diskutiert wird, ist die Frage, ob die Legalisierung rechtlich überhaupt realisierbar ist. Europa- und völkerrechtlich bestehen hohe Hürden, die eine vollständige Legalisierung von Cannabis sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich machen.
Illegal durch die Hintertür
In Deutschland scheint die Ansicht zu überwiegen: wenn es die Niederländer können, können wir das auch – wahrscheinlich sogar besser. Der Plan der Koalition, nicht nur die Abgabe, sondern auch Produktion und Einkauf durch die Endanbieter rechtlich zu regeln ist dabei der wohl wichtigste Punkt der Gesetzesreform. Gerade hier will man die Fehler der Niederländer vermeiden. Dort wurde in den 70er Jahren der Verkauf und Konsum von Cannabis legalisiert, genauer gesagt toleriert. Bis heute aber hat man versäumt, legale Wege für die Coffeeshops zu schaffen, das zum Verkauf bestimmte Cannabis auch einzukaufen. Anbau und Handel blieben stets (und sind bis heute) illegal. ‚Hintertürproblematik‘ nennt man dies in den Niederlanden: Zur Vordertür geht Cannabis quasi-legal hinaus, zur Hintertür kommt es illegal hinein. In diese Lücke stießen die Drogenbanden, die das Cannabis für den rasch wachsenden niederländischen Markt aus Marokko und der Türkei schmuggelten. Innerhalb weniger Jahre wurde ein komplexes Vertriebssystem aufgebaut, das nicht nur die niederländischen Coffeeshops sondern ganz Europa belieferte. Irgendwann diversifizierten die Drogenbanden ihr Geschäft: Ecstasy, Kokain und Heroin kamen hinzu. Heute sind die Niederlande eines der bedeutendsten Transitländer im globalen Drogenhandel. Die schädlichen Nebenwirkungen sind längst im Land zu spüren: Seit Jahren schwelt ein brutaler Konflikt unter den Drogenbanden. Liquidationen auf offener Straße mit voll-automatischen Waffen sind an der Tagesordnung. Oft sterben auch Unbeteiligte oder werden schwer verletzt. 2020 traf es den Strafverteidiger eines Kronzeugen in einem großen Strafprozess gegen die sogenannte ‚Mocro-Mafia‘, ein marokkanisch-stämmiges Netzwerk von organisierten Kriminellen. Der traurige Höhepunkt war die Ermordung des bekannten Investigativjournalisten Peter R. de Vries im Sommer 2021.
Aus Fehlern lernen
Es wäre unredlich, die Niederlande als abschreckendes Beispiel generell gegen die Legalisierung von Cannabis anzuführen. Die Kriminalitätssituation ist komplex, direkte Vergleiche mit Deutschland schwierig. Doch es gibt auch einige Parallelen vor allem was die grenzüberschreitende Kriminalität angeht. Aus deutscher Sicht lohnt es sich dennoch, einen genauen Blick auf die Niederlande zu werfen, um Fehler zu vermeiden. Die Paradoxien und rechtlichen Fallstricke der Cannabislegalisierung in den Niederlanden sind zusammenfassend in dem EuGH Urteil vom 16.12.2010 Josemans gegen den Burgermeester van Maastricht dargestellt. Inhaltlich ging es in dem Urteil um den Kläger Josemans, dem Betreiber eines Coffeeshops in Maastricht, der sich gegen die Schließung seines Etablissements durch die Stadt zur Wehr setzte. Der Bürgermeister hatte verfügt, dass der Zutritt zu Coffeeshops nur Personen gestattet werden dürfe, die wohnhaft in den Niederlanden seien. Der Kläger hatte gegen diese Regelung verstoßen und machte geltend, dass diese Regelung zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von Unionsbürgern führe. Die Stoßrichtung der Maastrichter Regelung, die in vielen grenznahen Städten weiterhin besteht, war eindeutig: Man wollte den lebhaften Drogentourismus aus Deutschland, Frankreich und Belgien eindämmen. Im Ergebnis wurde Josemans Klage übrigens abgewiesen. Die Gründe dafür sollen an dieser Stelle aber nicht weiter interessieren. Viel wichtiger hingegen sind die Ausführungen des EuGH zur europarechtlichen und völkerrechtlichen Fragen der Cannabislegalisierung.
Zunächst bezieht sich der EuGH auf das Schengen-Übereinkommen von 1990.
Nach Art. 71 Abs. 1 dieses Übereinkommens verpflichten sich die Vertragsparteien, in Bezug auf die unmittelbare oder mittelbare Abgabe von Suchtstoffen und psychotropen Stoffen aller Art einschließlich Cannabis und den Besitz dieser Stoffe zum Zwecke der Abgabe oder Ausfuhr unter Berücksichtigung der bestehenden Übereinkommen der Vereinten Nationen alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, die zur Unterbindung des unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln erforderlich sind. (Rn. 8)
Der EuGH verweist explizit also darauf, dass Ausfuhr und Abgabe von Cannabis im Schengenraum zu unterbinden sind. Auch das Unionsrecht sieht in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 vor:
[…] dass jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen trifft, um sicherzustellen, dass u. a. folgende vorsätzliche Handlungen unter Strafe gestellt werden, wenn sie ohne entsprechende Berechtigung vorgenommen wurden: das Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Verkaufen, Liefern — gleichviel zu welchen Bedingungen — und Vermitteln von Drogen. (Rn. 39)
Unter Bezugnahme auf das am 21. Februar 1971 in Wien abgeschlossene Übereinkommen der Vereinten Nationen über psychotrope Stoffe wird unter Drogen auch Cannabis gefasst. Diese Rechtslage stehe auch im Einklang mit verschiedenen internationalen Übereinkommen. Weiter stellt der EuGH klar:
Da die Schädlichkeit von Betäubungsmitteln, einschließlich derjenigen auf Hanfbasis, allgemein anerkannt ist, ist ihr Inverkehrbringen in allen Mitgliedstaaten verboten; lediglich ein streng überwachter Handel, der der Verwendung für medizinische und wissenschaftliche Zwecke dient, ist davon ausgenommen […] (Rn. 37)
Wie haben die Niederländer ihr Cannabis legalisiert?
Soweit, so eindeutig. Angesichts dieser hohen europa- und völkerrechtlicher Barrieren stellt sich die Frage, wie es dann die Niederländer dennoch geschafft haben, den Verkauf von Cannabis zum Freizeitvergnügen (also nicht allein zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken) zu legalisieren?
Das niederländische Betäubungsmittelrecht (Opiumwet) verbietet in Artikel 2 ausdrücklich den Besitz von Betäubungsmitteln, einschließlich Cannabis und dessen Derivaten (Art. 3) mit Ausnahme zu medizinischen oder wissenschaftlichen Zwecken und unter der Voraussetzung einer vorherigen Genehmigung. Dass niederländische Behörden den Verkauf in Coffeeshops dennoch tolerieren (sog. gedoogbeleid) basiert auf dem sog. Opportunitätsprinzip.
Dieses ist auch dem deutschen Recht nicht unbekannt, wenn es auch in weit geringerem Maße Anwendung findet als dies in den Niederlanden der Fall ist. Das Opportunitätsprinzip gibt den niederländischen Ermittlungsbehörden einen Ermessenspielraum bei der Frage, welche Straftaten sie verfolgen und welche nicht. Dabei können eine Reihe von Gesichtspunkten eine Rolle spielen, etwa kriminalpolitische Prioritäten, Kapazitätsgründe, Erfolgsaussichten der Aufklärung, Effizienzgesichtspunkte oder die Schwere der zu verfolgenden Straftaten. Gemeinsam definieren Bürgermeister, Polizei und Staatsanwaltschaften an runden Tischen (sog. wegploegen) Schwerpunkte der Strafverfolgung nach den vorgenannten Kriterien. Alles was nicht darunter fällt bleibt liegen, soll heißen: wird nicht verfolgt.
Die ganze Tragweite des Opportunitätsprinzips wird aber erst deutlich, wenn man das in Deutschland geltende Gegenstück dazu in den Blick nimmt: das Legalitätsprinzip. Vereinfacht gesagt zwingt dieses die deutschen Strafverfolgungsbehörden, jede ihnen zur Kenntnis gelangte Straftat zu verfolgen. Das Prinzip, das auf Feuerbach und sein Werk zum peinlichen Strafrecht aus dem Jahr 1801 zurückgeht, ist tief verwurzelt im deutschen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Mit diesem sollen der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz aus Art 3 I GG sowie die Verpflichtung des Staates zur effektiven Strafverfolgung verwirklicht werden. Verankert ist das Prinzip in zahlreichen gesetzlichen Bestimmungen (z.B. § 152 II und §§ 160, 163 StPO). Dass es das deutsche Recht damit ernst meint, spiegelt sich darin wider, dass Ermittlungsbeamte sich der Strafvereitelung strafbar machen können, wenn sie nicht ermitteln (siehe § 258a StGB) sowie durch das Klageerzwingungsverfahren gemäß § 172 StPO, das den Bürgern ein Instrument an die Hand gibt, eine Strafverfolgung gerichtlich durchzusetzen.
Aber auch mit Blick auf das Legalitätsprinzip gilt der alte Satz: Die Suppe wird nicht so heiß gegessen wie gekocht. Nicht jede noch so kleine Straftat wird in Deutschland mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgt – auch wenn dies Politiker die Bürger oft Glauben machen wollen. Es gibt eine Reihe von Ausnahmen zum Strafverfolgungszwang, wo also das Opportunitätsprinzip gilt und insbesondere der Staatsanwaltschaft ein Ermessensspielraum eingeräumt wird. Beispiele sind neben den §§ 153 ff. StPO etwa Bagatellklauseln, die auch und gerade in Bezug auf Cannabis gelten. So wird der Besitz einer geringen Menge, welche je nach Bundesland variieren kann, durch die Polizei nicht verfolgt. Vor allem aber in der Praxis stößt das Legalitätsprinzip an seine Grenzen: Ein beträchtlicher Teil der Ermittlungsverfahren in Deutschland enden nach einigen Monaten (oder Jahren) mit einem Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft. Das Ergebnis ist also oft das gleiche wie in den Niederlanden, nur dass die niederländischen Behörden sich den bürokratischen Aufwand eines förmlichen Ermittlungsverfahrens von vornherein sparen.
Die Schizophrenie niederländischer Cannabislegalisierung
Was bedeutet das mit Blick auf die Frage der Legalisierung von Cannabis in Deutschland? Erneut lohnt sich der Blick in die Urteilsbegründung des EuGH. Darin heißt es zunächst, dass die Einführung von Betäubungsmitteln außerhalb eines streng überwachten Handels im Rahmen des Verkaufs in Coffeeshops in den Wirtschafts- und Handelsverkehr der Union verboten ist (Rn. 42):
Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass das Königreich der Niederlande, wie sich aus den Randnrn. 12 bis 14 des vorliegenden Urteils ergibt, eine Politik der Toleranz gegenüber dem Verkauf von Cannabis anwendet, obwohl der Handel mit Betäubungsmitteln in diesem Mitgliedstaat verboten ist. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird dieses Verbot nicht dadurch eingeschränkt, dass die mit seiner Durchsetzung betrauten Behörden in Anbetracht der begrenzten personellen und materiellen Ausstattung der Verfolgung einer bestimmten Art des Drogenhandels eine geringere Priorität einräumen, weil sie andere Arten für gefährlicher halten. Eine solche Haltung kann insbesondere nicht zur Gleichstellung des unerlaubten Drogenhandels mit dem von den zuständigen Stellen streng überwachten Handel im medizinischen und wissenschaftlichen Bereich führen. Dieser Handel ist nämlich tatsächlich legalisiert, während der unerlaubte Handel, selbst wenn er in bestimmten Grenzen toleriert wird, verboten bleibt. […]
Diese zwei Absätze des Urteils bringen die Schizophrenie eines halben Jahrhunderts niederländischer Cannabislegalisierung auf den Punkt. Der Verkauf von Cannabis in Coffeeshops ist nur möglich, weil man sich zum Ziel setzte, den Handel im großen Stil zu verfolgen – also eben jenen Handel, der den Verkauf im Kleinen überhaupt erst möglich machte. Voraussetzung dafür ist das Opportunitätsprinzip. Nur dies ermöglicht diese Prioritätensetzung in der Strafverfolgung. Es ergaben sich also zwei Probleme, die man zwar früh erkannte, aber dennoch ignorierte: zum ersten fallen unter die gefährlichen Arten des Drogenhandels eben Produktion und Handel von Cannabis zu nicht-wissenschaftlichen und nicht-medizinischen Zwecken. Auch wenn seit Jahrzehnten über lizensierten Anbau unter staatlicher Kontrolle geredet wird, ist dies im Kern eine Scheindebatte. Internationales Recht steht dem eindeutig entgegen. Zum zweiten aber stößt mit Blick auf den lizensierten Anbau auch das Opportunitätsprinzip an die Grenzen. Es ermöglicht zwar die Tolerierung des Verkaufs von kleinen Mengen. Auch über eine Handvoll Zimmerpflanzen für den Eigenbedarf lässt sich problemlos hinwegsehen. Das Ermessen ist aber dann überschritten, wenn es um den Anbau im großen Stil geht, um ganze Plantagen und Containerladungen von Cannabis, die im Hafen von Rotterdam gelöscht werden. Produktion und Handel im großen Stil sind auch nach dem relativ laxen niederländischen Betäubungsmittelrecht schwere Straftaten, die sich nicht einfach über das staatsanwaltliche Ermessen wegdefinieren lassen.
Um also einerseits den internationalen Verpflichtungen gerecht zu werden und andererseits den Verkauf in den Coffeeshops zu sichern, praktiziert die niederländische Polizei seit Jahren einen Balanceakt: Immer mal wieder werden die illegalen Plantagen im Land hochgenommen und Container in den Häfen abgefangen. Gern erzählt man etwa von den kreisenden Polizeihubschraubern über niederländischen Städten beim ersten Schneefall des Jahres: So ist es ein Leichtes, die wärmeintensiven Dachgeschossplantagen zu identifizieren. Dort schmilzt der Schnee zuerst. Die Bürgermeister sind befugt, diese Drogenhäuser schließen zu lassen und die Bewohner über mehrere Monate auf die Straße zu setzen. ‚Damocles‘ nennt man dies in der Praxis. In 2019 allein sollen es 1250 Schließungen gewesen sein. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Strafverfolgung eher anekdotischen Charakter hat. Zu Lieferengpässen in den Coffeeshops hat sie nie geführt. Zudem liegen die Prioritäten der Strafverfolger auf den um ein vielfaches gefährlicheren harten Drogen. Die durch den Cannabishandel geschulten Drogenbanden haben das Land als europäisches Drehkreuz des Kokainhandels etabliert. Die südliche Provinz Limburg ist zu einem Silicon Valley der Ecstasy-Produktion geworden. Dass man dies lange nicht wahrhaben wollte, ist ein Kollateralschaden dieser schizophrenen Strafverfolgung.
Hoffnung wider Realitätscheck
Was bedeutet dies für die Legalisierung von Cannabis in Deutschland? Nichts Gutes, steht zu befürchten, solange die internationalen Verträge sind, wie sie sind. Die große Koalition kann nicht einfach Cannabis aus dem Strafrecht streichen und damit Produktion, Verkauf und Konsum entkriminalisieren. Alles außerhalb der medizinischen und wissenschaftlichen Nutzung und kleiner Mengen zum Eigenbedarf würden schlicht und ergreifend gegen europäisches und internationales Recht verstoßen. Andererseits steht Deutschland auch nicht der Weg einer Tolerierung über das Opportunitätsprinzip offen, wie es bei den Niederländern praktiziert wird. Wie soll der großangelegte und lizenzierte Anbau toleriert werden, wenn nicht einmal die rechts-pragmatischen Niederländer dies geschafft haben?
Diesen Widerspruch aufzulösen, wird juristisch schwierig. Diese Erfahrung hat Luxemburg gerade erst machen müssen. Das kleine Nachbarland war 2018 mit dem Versprechen angetreten, eine konsequente Cannabislegalisierung durchzusetzen. Heute, drei Jahre später, ist von diesem großen Wurf nicht mehr viel übrig: Der Konsum im privaten Bereich wird erlaubt. Ein paar Pflänzchen darf man sich im heimischen Wohnzimmer ziehen. Alles andere bleibt illegal. Ob die großen Ambitionen der deutschen Regierungskoalition einen ähnlichen Realitätscheck erfahren werden, bleibt abzuwarten. Eine Legalisierung light wie in Luxemburg dürfte dabei wohl schon rauskommen. Für eine saubere Lösung des Cannabis-Dilemmas kommen wir um eine Änderung europäischen und internationalen Rechts nicht herum. Dass dies innerhalb der Legislaturperiode zu bewerkstelligen ist, scheint wenig realistisch. Allerdings: Realismus war noch nie prägendes Element der Cannabispolitik. Man sollte die Hoffnung also nicht aufgeben.