03 May 2019

Das CETA-Gutachten des EuGH – Neue Maßstäbe allerorten…

Das lang erwartete EuGH-Gutachten 1/17 zur Frage der Unionsrechtskonformität des CETA – insb. zu dessen investitionsschutzrechtlichem Kapitel Acht – hat eine große Menge offener Rechtsfragen adressiert (oder erst aufgeworfen). Während Markus Krajewski auf diesem Blog bereits eine erste überblicksartige Betrachtung vorgenommen hat, möchte dieser Beitrag den Fokus auf zwei einzelne, aus meiner Sicht aber besonders bedeutsame Aspekte des Gutachtens legen. Beide betreffen die Maßstäbe der Unionsrechtskonformität völkerrechtlicher Vertragsschlüsse durch die EU, die der EuGH in seinem Gutachten angewendet hat. Zum einen bekräftigt der EuGH eine Tendenz in seiner Rechtsprechung, nach der er das auswärtige Handeln der EU einer vollumfassenden materiell-rechtlichen Anforderungs- und Überprüfungsdichte unterwirft. Zum anderen macht der EuGH rechtlich nur schwer nachvollziehbare Ausführungen zum Zusammenhang zwischen sanktionsbewehrten völkerrechtlichen Kontrollmechanismen und der daraus potentiell folgenden Verletzung der Autonomie der Unionsrechtsordnung. Konsequent zu Ende gedacht dürften sie die Handlungsmöglichkeiten der EU im modernen Völkerrecht erheblich einschränken.

Materiell-rechtliche Maßstäbe für das auswärtige Handeln der EU

In seiner gutachterlichen Bewertung über die Vereinbarkeit des CETA mit dem Unionsrecht hat EuGH hat seine jüngeren Rechtsprechungstendenzen weiter fortentwickelt und nun ausdrücklich festgestellt, dass das auswärtige Handeln der EU nicht nur in kompetenzieller und formeller, sondern auch in materiell-rechtlicher Hinsicht vollumfassend und ohne Einschränkung den Anforderungen des Unionsrechts unterfällt – und durch den EuGH insoweit auch vollumfassend geprüft wird (Rz. 165-167). Eine an der „Partikularität der Außenpolitik“ orientierte Relativierung dieses Maßstabs sieht der EuGH gerade nicht (mehr) vor. Damit zeichnet sich ab, dass der EuGH nun endgültig seine frühere Spruchpraxis aufgibt, in der er noch einen „weiten Ermessensspielraum in Angelegenheiten des Auswärtigen“ zugestand (zum Gesamten siehe insb. schon Stoll/Holterhus/Gött, Investitionsschutz und Verfassung, Mohr Siebeck, 2017) – wie es auch in vielen anderen Rechtsordnungen, inkl. der deutschen, üblich ist.

Wie ernst es dem EuGH mit dieser uneingeschränkten materiell-rechtlichen Überprüfung der völkerrechtlichen Vertragspraxis der EU ist, zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit in seinen Ausführungen zur Vereinbarkeit des CETA mit den in Art. 47 Abs. 2 und 3 EU-Grundrechtecharta niedergelegten Anforderungen an die Effektivität des Zugangs zu Gerichten sowie an deren Unparteilichkeit und Unabhängigkeit (Rz. 189-244). Intensiv prüft der EuGH, ob der durch CETA zu schaffende investitionsschutzrechtliche Streitbeilegungsmechanismus den gleichen hohen Anforderungen an innereuropäische Gerichte genügt. Dabei betont er etwa die Erfordernisse der Ausübung der gerichtlichen Tätigkeit in „völliger Autonomie“, die „Unabsetzbarkeit von Richtern“, „eine der Bedeutung der ausgeübten Funktionen entsprechende Vergütung“ (Rz. 202) sowie die Notwendigkeit einer gesamtheitlichen Konstruktion, die „bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen [ausräumen]“ im Stande ist (Rz. 204). Der EuGH geht sogar so weit, die Vereinbarkeit des CETA mit Art. 47 EU-Grundrechtecharta (und Art. 3 Abs. 5 EUV) an die künftige Gewährleistung der finanziellen Zugänglichkeit zu dem zu errichtenden investitionsschutzrechtlichen Streitbeilegungsmechanismus für kleine und mittlere Unternehmen zu knüpfen (Rz. 205-222).

Dass der EuGH in diesem Zusammenhang in Rz. 191 zuvor noch kurz von der „Berücksichtigung des Wesens, der Besonderheiten und des internationalen Kontexts solcher Organe“ spricht, wirkt angesichts der dann tatsächlich vorgenommenen Prüfungstiefe wie ein reines Lippenbekenntnis. Eine ganze Reihe der gegenwärtig existierenden (und möglicherweise auch für die die EU künftig relevanten) Mechanismen völkerrechtlicher Streitbeilegung dürften ihre Schwierigkeit haben, diesen unionsrechtlichen Anforderungen vollumfänglich zu entsprechen. Die vom EuGH konkret postulierte materiell-rechtliche Anforderungsdichte kann insofern durchaus als erstaunlich bezeichnet werden.

Eine besondere Dimension erlangt die sich abzeichnende materiell-rechtliche Anforderungsverdichtung an die EU-Außenbeziehungen darüber hinaus, wenn man sie im Zusammenhang mit der insoweit zuletzt vermehrt verwendeten Verfassungsrhetorik des EuGH sieht. So spricht der EuGH im hiesigen Gutachten (wie auch schon in seinen Gutachten 2/13 und 1/15) im Kontext der materiell-rechtlichen Anforderungen an das auswärtige Handeln der EU ausdrücklich von europäischen „Verfassungsgrundsätzen“ (Rz. 165) oder dem „verfassungsrechtlichen Rahmen der Union“ (Rz. 110, 112, 118, 119, 150, 166). Die Verbindung dieser beiden Aspekte scheint nicht zufällig zu erfolgen. Fast mutet es an, als wolle der EuGH mit dieser Rhetorik insb. das Feld der EU-Außenbeziehungen (und weniger das Innenverhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten) zum Testballon der Postulierung einer „Verfasstheit“ der Europäischen Union machen. Eine Entwicklung, die auf ebenso viel Zuspruch wie Widerstand treffen dürfte.

Völkerrechtliche Kontrollmechanismen, öffentliches Interesse und die Autonomie der Unionsrechtsordnung

Beachtlich ist auch, dass der EuGH in seinem Gutachten 1/17 tatsächlich festzustellen scheint, dass völkervertragliche Vereinbarungen bereits dann unzulässige Beeinträchtigungen der Autonomie der Unionsrechtsordnung darstellen, wenn sie auf völkerrechtlicher Ebene eine Befugnis begründen, das innerhalb der EU im demokratischen Prozess beschlossenen Schutzniveau in öffentlichen Belangen einer sanktionsbewehrten Kontrolle zu unterziehen (Rz. 137-150, insb. Rz. 144, 148-150). Dabei geht es dem EuGH an dieser Stelle wohlgemerkt nicht um den Zugriff eines völkerrechtlichen Spruchkörpers auf das Unionsrecht als solches (zur bekannten Unzulässigkeit einer solchen direkten Anwendung und Auslegung von Unionsrecht im völkerrechtlichen Streitbeilegungsverfahren siehe Rz. 106-136), sondern tatsächlich allein um die Kontrolle anhand eines völkerrechtlichen Maßstabs.

Eine solche (von der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung des jeweiligen völkerrechtlichen Vertrags- und Kontrollregimes losgelöste) generelle unionsrechtliche Unzulässigkeit jedweder völkerrechtlicher Kontrollbefugnis hinsichtlich des innereuropäischen Schutzniveaus in öffentlichen Belangen ist, gelinde gesagt, nur schwer nachzuvollziehen. Letztlich würde sie den Handlungsmöglichkeiten der EU im modernen Völkerrecht große Steine in den Weg legen. Zu Ende gedacht dürfte zum Beispiel der EMRK-Beitritt der EU – der ohne Zweifel dem EGMR eine sanktionsbewehrte Befugnis der völkerrechtlichen Beurteilung des innereuropäischen Schutzniveaus in öffentlichen Belangen verliehe – damit wohl endgültig ausgeschlossen sein. Auch die (weitere) Zulässigkeit der Beteiligung der EU an der WTO und deren sanktionsbewehrtem Streitbeilegungssystem scheint damit (entgegen der nicht genauer begründeten Ansicht des EuGH in Rz. 146) nur schwer in Einklang zu bringen zu sein.

Wie aber kommt der EuGH auf dieser Grundlage dennoch zu dem erstaunlichen Ergebnis der Unionsrechtkonformität des in CETA vorgesehenen sanktionsbewehrten investitionsschutzrechtlichen Streitbeilegungsmechanismus? Die Antwort lautet, dass er schlicht annimmt, die (unzulässige) Befugnis einer investitionsschutzrechtlichen Überprüfung von Maßnahmen zum Schutz öffentlicher Belange in CETA sei generell nicht gegeben.

Seine Annahme begründet der EuGH dabei mit der „Gesamtbetrachtung“ einiger Ausnahme- und Auslegungsvorschriften des CETA, welche den investitionsschutzrechtlichen Zugriff auf Maßnahmen zum Schutz öffentlicher Belange, vereinfacht gesagt, erheblich erschweren. Umfasst sind etwa Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit oder Moral, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tiere und Pflanzen, sowie zum Sozial- oder Verbraucherschutz (Rz. 152-155). Wörtlich folgert der EuGH aus diesen Ausnahme- und Auslegungsvorschriften, „[dass] die Beurteilungsbefugnis des CETA-Gerichts und der CETA-Rechtsbehelfsinstanz nicht so weit reicht, dass es ihnen erlaubt wäre, das Niveau des Schutzes eines öffentlichen Interesses, das von der Union in einem demokratischen Prozess festgelegt worden ist, in Frage zu stellen.“ (Rz. 156).

Und ohne Zweifel, die vom EuGH betrachteten Regelungen mögen eine Einhegung der Erfolgsaussichten (exzessiver) investitionsschutzrechtlicher „Angriffe“ auf (legitime) europäische oder mitgliedstaatliche, im öffentlichen Interesse liegende Regulierungstätigkeit bedingen. Die Möglichkeit sanktionsbewehrter völkerrechtlicher Kontrolle am Maßstab der investitionsschutzrechtlichen Standards des CETA schließen sie aber gleichwohl keineswegs vollends aus. Dies ergibt sich schon daraus, dass die durch den EuGH herangezogenen Ausnahme- und Auslegungsvorschriften ihrerseits allesamt ausdrücklich unter dem Vorbehalt der „Erforderlichkeit“ oder „Willkürfreiheit“ der jeweiligen Maßnahmen stehen.

Investoren innerhalb der EU werden etwaige sie beeinträchtigende Maßnahmen zum Schutz öffentlicher Belange dementsprechend als „nicht erforderlich“ oder „willkürlich“ angreifen. Eine zumindest (potentiell) sanktionsbewehrte völkerrechtliche Kontrolle wäre damit jedenfalls möglich. Ob die Sanktionen dabei am Ende tatsächlich ausbleiben, liegt dann allein in der Hand der im Rahmen des investitionsschutzrechtlichen Streitbeilegungsverfahrens zur Auslegung der oben genannten Ausnahme- und Auslegungsvorschriften berufenen völkerrechtlichen Spruchkörper des CETA (und nicht mehr des EuGH).

Im Ergebnis lässt sich der EuGH so auf der Grundlage einer ersten fragwürdigen Festlegung hinsichtlich der unionsrechtlichen Unzulässigkeit sanktionsbewehrter völkerrechtlicher Kontrolle von innereuropäischen Maßnahmen zum Schutz öffentlicher Belange in einem zweiten Schritt zu einer weiteren unzutreffenden Einschätzung der potentiellen Zugriffe der investitionsschutzrechtlichen Streitbeilegung im CETA hinreißen.

Fazit

Eine zurückgenommene materiell-rechtliche Anforderungs- und Überprüfungsdichte hinsichtlich des auswärtigen Handelns der EU scheint endgültig passé. Inwieweit (und mit welchem Zielen) der EuGH im Kontext der materiell-rechtlichen Grenzen der EU-Außenbeziehungen seine Verfassungsrhetorik weiter vorantreibt, bleibt abzuwarten.

Soweit der EuGH eine generelle unionsrechtliche Unzulässigkeit sanktionsbewehrter völkerrechtlicher Kontrolle von innereuropäischen Maßnahmen zum Schutz öffentlicher Belange postuliert, wird dies – wenn es wirklich so gemeint war – kaum zu halten sein und in der künftigen Rechtsprechung korrigiert und/oder richtiggestellt werden (müssen).


SUGGESTED CITATION  Holterhus, Till Patrik: Das CETA-Gutachten des EuGH – Neue Maßstäbe allerorten…, VerfBlog, 2019/5/03, https://verfassungsblog.de/das-ceta-gutachten-des-eugh-neue-massstaebe-allerorten/, DOI: 10.17176/20190517-144109-0.

2 Comments

  1. Holly01 Fri 3 May 2019 at 23:11 - Reply

    Wie stellen sich diese Aspekte denn in Bezug auf das rechtliche Verhalten der USA dar?
    Inbesondere Strafen und Strafandrohungen wegen Verstößen gegen US Gesetze im Zusammenhang mit Dritten.
    Auch und gerade, wenn die USA ihr Recht ändern und auf dieser neuen Basis ältere Vorgänge aburteilen.
    Ich nenne als Beispiel die Iran Sanktionen, die absehbare Problematik “Kuba”, aber auch die Sanktionsandrohungen in Bezug auf North Stream II.
    Kann man da eine Positionierung des EuGH absehen?
    Wird man vor dem EuGH Gegenklagen anstrengen können?
    Zum Beispiel gegen die Regierung der USA?
    Das wäre ja die nächste Stufe, wenn man von einem Rechtsraum “EU” ausgeht, dann müssen Verletzungen dieses Rechtsraums ja Folgen haben.

  2. Albert W. Mon 6 May 2019 at 09:55 - Reply

    Frgae zu Ihrem Facit: Eine zurückgenommene materiell-rechtliche Anforderungs- und Überprüfungsdichte hinsichtlich des auswärtigen Handelns der EU scheint endgültig passé. Inwieweit (und mit welchem Zielen) der EuGH im Kontext der materiell-rechtlichen Grenzen der EU-Außenbeziehungen seine Verfassungsrhetorik weiter vorantreibt, bleibt abzuwarten.
    Soweit der EuGH eine generelle unionsrechtliche Unzulässigkeit sanktionsbewehrter völkerrechtlicher Kontrolle von innereuropäischen Maßnahmen zum Schutz öffentlicher Belange postuliert, wird dies – wenn es wirklich so gemeint war – kaum zu halten sein und in der künftigen Rechtsprechung korrigiert und/oder richtiggestellt werden (müssen).
    Könnten Sie´s bitte mal in verständliches Deutsch übesetzen lassen?

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