Den Baum vor lauter Wald nicht sehen – oder umgekehrt?
Warum der Vorwurf des ‚gerichtlichen Aktivismus‘ gegen das Klimaurteil des Amtsgerichts Flensburg nicht trägt
Das Amtsgericht Flensburg hatte jüngst über die Strafbarkeit eines Klimaaktivisten zu entscheiden, der ein fremdes Grundstück unbefugt betreten hatte, um dort die Rodung eines kleinen Waldstücks zu verhindern. Der Aktivist wurde vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs freigesprochen, weil seine Tat dem Klimaschutz gedient habe und damit wegen Notstands (§ 34 StGB) gerechtfertigt sei. Dabei wurde der Klimaschutz als notstandsfähiges Rechtsgut und die Rettung eines Baumes als geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme zu dessen Schutz anerkannt.
Es war zu erwarten, dass diese Entscheidung zu rechtswissenschaftlichen Kontroversen führen würde. Ich möchte zu dieser Debatte keine weitere Urteilsbesprechung beitragen – das haben Jana Wolf und Rouven Diekjobst in diesem Blog bereits ausführlich getan. Stattdessen werde ich das Urteil zum Anlass nehmen, einen Schritt zurücktreten und auf einige problematische Muster in der rechtswissenschaftlichen Diskussion zur Klimakrise aufmerksam machen. Hierbei werde ich mich zunächst mit der Frage auseinandersetzen, ob kleine Beiträge zum Klimaschutz rechtlich beachtlich sein sollten oder nicht. Sie lässt sich im vorliegenden Fall besonders gut an der Frage exemplifizieren, ob die Rettung einzelner Bäume eine geeignete Klimaschutzmaßnahme ist. Anschließend werde ich mich mit der grundlegenderen Frage auseinandersetzen, ob unkonventionelle Urteile illegitimer ‚richterlicher Aktivismus‘ oder ein legitimer Beitrag zur Rechtsfindung in der Demokratie sind.
Die Rolle von Einzelentscheidungen und Individualverhalten für den Klimaschutz
Die Richterin am Amtsgericht hatte den Klimaaktivisten im vorliegenden Fall vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs freigesprochen, weil die Baumrettung dem Klimaschutz gedient hatte. Während die Anerkennung des Klimaschutzes als notstandsfähiges Rechtsgut auf keinerlei Widerspruch gestoßen ist, wurde die Geeignetheit des Hausfriedensbruchs für diesen Zweck von Rouven Diekjobst verneint: Einen einzelnen Baumes oder gar ein kleines Waldstück zu retten leiste allenfalls einen ganz geringfügigen Beitrag für den Klimaschutz. Dem ist faktisch durchaus zuzustimmen. Hinzu kommt, dass die Entscheidung – zu Ende gedacht – eine revolutionäre Ratio in sich birgt1): Wenn ein Hausfriedensbruch gerechtfertigt werden kann, weil dadurch ein kleines Waldstück gerettet wird, könnte künftig jeder noch so kleine Beitrag zum Klimaschutz Verstöße gegen geltendes Recht rechtfertigen.
Und doch überzeugt auch die gegenteilige Argumentation nicht – wenn man sie zu Ende denkt: Das macht Rouven Diekjobst mit seinem Vorwurf, die Richterin am Amtsgericht sehe den Baum vor lauter Wald nicht, unbeabsichtigt deutlich. Der Vorwurf spielt natürlich darauf an, dass die Entscheidung vor lauter Sorge um die Klimakrise überschätzt, welchen Beitrag ein einzelner Baum zum Klimaschutz wirklich leisten kann. Doch wenn wir uns auf die ursprüngliche Redeweise – „Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ – besinnen, fällt auf, dass die Position von Rouven Diekobst sich eben dies vorwerfen lassen muss: Sie erkennt zwar, dass der einzelne Baum irrelevant für den Klimaschutz ist und zieht daraus die Konsequenz, dass er rechtlich irrelevant ist. Darüber gerät aber aus dem Blick, dass die Summe all der rechtlich irrelevanten Bäume eben doch ein Wald der Klimarelevanz ist.
Erkennt man einmal an, dass die Rettung eines Baums keinen (oder allenfalls einen rechtlich irrelevanten) Beitrag zum Klimaschutz leistet, dann wird man andererseits auch das Fällen eines einzelnen Baumes nicht als klimaschädlich bezeichnen können. Und wo wir dabei sind: Der individuelle Verzicht auf Fliegen oder Fleisch macht letztlich doch auch keinen großen Unterschied für das Klima. So führt der Ansatz, der jedem einzelnen Baum rechtliche Relevanz abspricht – zu Ende gedacht – genau in die Situation, in der wir uns gesellschaftlich befinden: Volle Kraft voraus mit Kurs auf Klimakatastrophe und der inneren Gewissheit im Gepäck, dass man selbst ja nicht verantwortlich sei. Tatsächlich ist aber nicht niemand, sondern sind wir alle für die Klimakrise (mit-)verantwortlich. Und es leistet auch nicht kein Baum, sondern jeder Baum einen kleinen Beitrag zum Klimaschutz.2) Dem sollte auch die rechtliche Beurteilung Rechnung tragen.3)
Ich möchte nicht behaupten, dass sich aus meinen bisherigen Ausführungen ergibt, dass das Ergebnis des Amtsgerichts Flensburg ‚richtig‘ ist. Es geht mir vielmehr darum aufzuzeigen, dass die juristische Diskussion aktuell in einem Dilemma feststeckt: Zur Verfügung stehen bisher nur Ansätze, die kleinen Beiträgen zum Klimaschutz die rechtliche Relevanz absprechen oder solche, die die Relevanz der kleinen Beiträge deutlich überschätzen. Beide Ansätze gehen meines Erachtens an der tatsächlichen Situation vorbei und lassen vermuten, dass die korrekte rechtliche Beurteilung noch nicht gefunden wurde.
Recht und Klimaschutz
Das bringt mich zu meiner zweiten Beobachtung, die das grundlegende Verständnis von Recht in der aktuellen Diskussion betrifft: In der Auseinandersetzung mit Klimaschutz-Urteilen wird häufig – oft implizit, teils explizit – mit Kategorien der ‚richtigen‘ bzw. ‚falschen‘ Interpretation des Rechts argumentiert. Zwar spricht auch das Gesetz an entscheidender Stelle (§ 337 Abs. 2 StPO) von der ‚richtig[en]‘ Rechtsanwendung. Dennoch sollten wir der Vorstellung, es gebe eine objektive Wahrheit im Recht, die es nur zu finden gelte, skeptisch gegenübertreten. Sie verkennt, wie groß der Interpretationsspielraum ist, den die Gesetze den Rechtsanwender:innen – jedenfalls im Allgemeinen Teil des Strafrechts – belassen. Es erscheint mir daher treffender, in den Kategorien von ‚konventioneller‘ bzw. ‚unkonventioneller‘ Interpretation des Rechts zu denken. Auch sollte die herrschende Rechtsprechung nicht vorschnell mit der ‚richtigen‘ Rechtsinterpretation gleichgesetzt werden. Die (deutsche Straf-)Rechtsgeschichte hält viele Beispiele bereit, die zeigen, dass die aktuell herrschende Meinung nicht ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, sondern eben nur das ist: aktuell herrschend. Das wohl deutlichste Beispiel hierfür ist die wechselvolle Geschichte des Gewaltbegriffs i.R.d. § 240 StGB.
Eine solche Perspektive führt zu einem grundlegend veränderten Blick auf die aktuelle Situation, in der verschiedene Gerichte unterschiedliche Urteile über Klimaaktivist:innen fällen. Für diejenigen, die die aktuell herrschende Rechtsauffassung für ‚objektiv‘ bzw. ‚richtig‘ halten, stellen sich die abweichenden Urteile als illegitimer ‚richterlicher Aktivismus‘ dar. Wer dagegen anerkennt, dass die herrschende Rechtsauffassung lediglich Ausdruck juristischer Konvention ist, der sieht juristisch innovative Urteile als – mal mehr mal weniger gelungenen – Beitrag zur (Fort-)Bildung dieser Konvention. Auch die Gegenüberstellung von ‚aktivistischer‘ und ‚nicht-aktivistischer‘ Rechtsanwendung lässt sich dann (jedenfalls als normative Unterscheidung) nicht mehr durchhalten. Denn nicht nur Hinterfragung, sondern auch Bestätigung der herrschenden Meinung trägt aktiv zur Konventions(fort)bildung bei.
Meines Erachtens stellen auseinandergehende Urteile das Demokratieprinzip daher nicht in Frage, sondern beleben es. Die mal konventionellen, mal innovativen Urteile spiegeln die gesellschaftliche Debatte zum Klimaschutz und tragen so aktiv zur integrativen Kraft des Rechts bei. Der Vorwurf des ‚richterlichen Aktivismus‘ unterschätzt, wie sehr Recht von äußeren Einflüssen, insbesondere gesellschaftlichem Diskurs, geprägt ist. Wo die äußeren Umstände stabil sind, unterliegt auch das Recht kaum Wandel. Wo aber die gesellschaftliche Auseinandersetzung tobt, kann und wird auch das Recht – jedenfalls bis zur höchstrichterlichen Befriedung – regelmäßig nicht ruhig verharren.
Insoweit bietet sich ein Vergleich zwischen gesellschaftlicher und juristischer Meinungs-bildung an: Dort wie hier bildet sich aus vielen verschiedenen Meinungen eine herrschende heraus; dort wie hier kann eine abweichende Ansicht nötig sein, um die Schwächen der bisher herrschenden Meinung offenzulegen. Rechtsfortbildung obliegt daher nicht nur den Höchstgerichten, sondern auch niedrigeren Gerichten. Sie bringen durch innovative Verständnisse von Recht erst den Instanzenzug ins Rollen, der eine höchstrichterliche ‚Anerkennung‘ des Rechtswandels ermöglicht. Diesen legitimen Vorgang verkennt die fälschliche Gegenüberstellung von ‚richtiger‘ und ‚aktivistischer‘ Rechtsanwendung.
Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund auch der Stil, in dem das Urteil verfasst ist. Die erkennende Richterin widersteht der Versuchung, ihr Urteil als einzig ‚richtiges‘ Ergebnis zu präsentieren. Stattdessen erkennt sie ausdrücklich an, dass sich das Ergebnis nicht ohne Weiteres in die herrschende Lesart der ‚Geeignetheit‘ i.R.d. § 34 StGB fügt.4) Es werden dann aber nicht von der Hand zu weisende Argumente angeführt, die für eine großzügigere Handhabung des Geeignetheitskriteriums im Kontext des Klimawandels sprechen. Auch im Rahmen der Erforderlichkeit, der Abwägung und der Angemessenheit setzt sich das Gericht ausdrücklich mit möglichen Einwänden auseinander und legt Gründe für die eigene Position dar. Gerade vor diesem Hintergrund sollte das Urteil nicht als illegitimer Aktivismus, sondern als gelungener Beitrag zum rechtswissenschaftlichen Diskurs verstanden werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Folgeinstanz diesen Beitrag zum Anlass nehmen wird, sich intensiv mit dem Klimawandel und mit der Frage, wie er die bisherige Rechtsanwendung herausfordert, auseinandersetzen wird.
Fazit
Der vorliegende Beitrag soll nicht als umfassende Besprechung oder gar Verteidigung der umstrittenen Entscheidung des Amtsgerichts Flensburg verstanden werden – das überlasse ich Kolleg:innen, die mehr von Strafrecht verstehen als ich. Es ging mir lediglich darum, auf zwei problematische Muster in der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit progressiven Klimaurteilen hinzuweisen: Einerseits wird der Vorwurf des illegitimen ‚richterlichen Aktivismus‘ meines Erachtens allzu schnell erhoben. Die Geschichte des (deutschen Straf-)Rechts sollte uns lehren, nicht vorschnell mit der Kategorie der juristischen ‚Richtigkeit‘ umzuspringen und auch abweichende Entscheidungen als legitime Beiträge zum rechtswissenschaftlichen Diskurs zu sehen.
Ein solcher Diskurs ist nötig, weil unsere Rechtsordnung bislang nicht auf die Lösung komplexer Probleme wie das des Klimawandels ausgerichtet ist. Exemplarisch hierfür steht die rechtswissenschaftliche Diskussion um ‚kleine Beiträge zum Klimaschutz‘: Solange die Rechtsordnung lineare und monokausale Probleme behandelt, mag es ausreichen, Lösungsbeiträge entweder als ‚geeignet‘ oder ‚ungeeignet‘ einzustufen. Einem polyzentrischen, multikausalen und nicht-linearen Problem wie dem Klimawandel wird diese Dichotomie dagegen nicht gerecht. Zu suggerieren, einzelne Bäume seien irrelevant für den Klimawandel ist ebenso falsch wie zu behaupten, einzelne Bäume könnten ihn abwenden. Die Suche nach rechtlichen Antworten allein der Legislative aufzubürden, überschätzt meines Erachtens nicht nur deren Kapazitäten, sondern lässt auch das Potential der Judikative ungenutzt.
Mir scheint, dass die optimale Lösung für den rechtlichen Umgang mit kleinen Beiträgen zum Klimaschutz noch nicht gefunden ist. Mein Eindruck ist aber, dass es bei der Suche nach dieser Lösung nicht immer hilfreich ist, jeden rechtlichen Ansatz ‚konsequent zu Ende zu denken‘. Nur weil jeder Baum einen Beitrag zum Klimaschutz leistet, heißt das nicht, dass nie wieder ein Baum fallen darf. Genauso aber gilt: Wer geringfügige Straftaten als durch den Klimaschutz gerechtfertigt ansieht, muss damit nicht automatisch die Axt an die Rechtsordnung legen. Am Ende ist Rechtswissenschaft schließlich mehr als zu fragen: „Wo kommen wir denn da hin?“5)
References
↑1 | So Anna-Katharina Mangold in ihrem Interview mit den NDR, ab Minute 10:03. |
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↑2 | Aus theoretisch-logischer Sicht könnte man einwenden, dass zwar nicht jeder, aber eben alle Bäume rechtlich relevant sind. Das stimmt. Für die rechtliche Behandlung kann es meines Erachtens aber keinen Unterschied machen, weil die Summe aller Bäume weder als solche abgeholzt noch als solche geschützt werden kann. Wer den Wald schützen möchte, muss die Bäume schützen. |
↑3 | Letztlich hat ihn auch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen, als er im Frühjahr 2021 entschied, dass sein geringer Anteil an den globalen Emissionen Deutschland nicht von der Verantwortung für den Klimawandel befreit (BVerfGE 157, 141, Rn. 202). |
↑4 | Das Gericht „verkennt […] nicht, dass in der strafrechtlichen Rechtsprechung und im Schrifttum überwiegend die Auffassung vertreten wird, dass eine Tat jedenfalls in der Regel nicht als geeignet i.S.d. § 34 StGB zu qualifizieren ist, wenn sie die Chancen einer Gefahrenbeseitigung zwar messbar, aber nur geringfügig bzw. nur ganz unwesentlich erhöht”. |
↑5 | Diese Erkenntnis verlange ich, wenn ich mich richtig erinnere, Prof. Dr. Helmut Aust, der in einer der ersten Vorlesungen im Staatsrecht I die ‚drei Argumente der schlechten Rechtswissenschaft‘ vorstellte: 1. ‚Das haben wir schon immer so gemacht.‘ 2. ‚Da kann ja jeder kommen.‘ 3. ‚Wo kommen wir denn da hin?‘ |
Schöner Post, stimme allem zu – außer der Interpretation meines Beitrags.
Bzgl. der Geeignetheit ging es mir nicht darum, dass der Beitrag, den der einzelne Baum leistet, überschätzt wird, sondern darum, dass das Gericht m.E. zu wenig zwischen Wäldern und dem Baum differenziert.
Ich argumentiere auch an keiner Stelle mit der “herrschenden Meinung” o.ä. oder reklamiere eine “richtige” Rechtsauffassung. Gegen unkonventionelle Argumentation habe ich nichts einzuwenden, solange sie methodisch sauber bleibt – was hoffentlich deutlich wird; ich mache ja auch eigene Vorschläge, wie man den Klimaschutz in der Entscheidung m.E. überzeugender hätte berücksichtigen können.
Viele Grüße
Rouven Diekjobst
Lieber Rouven,
danke für die Rückmeldung! Eigentlich geht es mir mit dem Beitrag um ein paar allgemeine Bemerkungen zur öffentlichen Debatte um Klimaschutz und entsprechende Urteile. Ich hoffe also, dass Du den Beitrag nicht als persönlichen Angriff verstanden hast.
Soweit ich mich auf deinen Beitrag beziehe, spiele ich vor allem auf zwei Ausführungen an:
– Einerseits die Aussage: “Andersherum ist zwar der Klimaschutz notstandsfähiges Rechtsgut, der Schutz des einzelnen Baumes zu diesem Zweck aber nicht im strafrechtlichen Sinne geeignet”
– Andererseits die von dir aufgeworfene Frage, “ ob das Gericht tatsächlich von der Richtigkeit seiner Rechtsauffassung überzeugt war”.
Für mich klang das so, als würdest du die Geeignetheit ablehnen weil der Baum nur einen marginalen Beitrag leistet (im Umkehrschluss hätte dann die Ansicht, die die Geeignetheit bejaht, den Einfluss des Baumes überschätzt) bzw. als würdest du von der Möglichkeit einer ‘richtigen’ Rechtsauffassung ausgehen.
Wenn ich deinen Beitrag insoweit falsch interpretiert oder den Kontext falsch eingeschätzt habe, tut es mir Leid. Als ‘Entschuldigung’ könnte ich nur anführen, dass am Ende eben jede Interpretation vom Interpreten abhängt – dass ist ja eine Annahme, die meinem Beitrag zugrunde liegt.
Grüße zurück!
Jan-Louis
Die Unterscheidung zwischen “kleinen” und “großen” Beiträgen zum Klimaschutz ist keine freischwebende Diskussion, in der man das free-riding Problem bemüht hineinbauen kann, weil sich die strafrechtlichen Rechtfertigungstatbestände an Einzel- und nicht an Gruppenhandlungen orientieren. Es gäbe weniger Hunger, wenn man übergewichtigen Personen das Essen stehlen und in einem Anflug altruistischen Verhaltens an Obdachlose verteilen würde. Genauso gäbe es deutlich weniger Verkehrsdelikte, würde man die Reifen der PKW von Alkoholikern pauschal abmontieren. In beiden Fällen würde man allerdings berechtigterweise fragen, inwieweit die begangene Tat ein Problem “systematisch” behebt. Nun ja, täte es jeder, wären die beiden Probleme behoben oder zumindest erheblich in ihrer Wirkung kompensiert. Diese beiden absurden Beispielsfälle zeigen, dass man etwas vorsichtiger mit verallgemeinernden “free riding”-Argumenten sein sollte.
Außerdem wurde hier die Frage gestellt, was “judicial activism” eigentlich sei bzw. das Konzept selbst infrage gestellt. Dabei zitiere ich gerne den Schlussteil des Autors: “Die Suche nach rechtlichen Antworten allein der Legislative aufzubürden, überschätzt meines Erachtens nicht nur deren Kapazitäten, sondern lässt auch das Potential der Judikative ungenutzt.” Das ist “judicial activism” in seiner wortwörtlichsten Interpretation – die Judikative als Ersatzgesetzgeber.
Ein interessanter Beitrag. Es wäre für die gesamte Debatte schön, wenn der Vorwurf des Aktivismus nicht mehr erhoben werden würde. Das ist bei einer amtsgerichtlichen Entscheidung abwegig. Und das gilt selbst dann, wenn man die Entscheidung des AG nicht gut findet.
Was im Übrigen ein nicht genug betonter Aspekt zwischen dem öffentlichen Recht und dem Strafrecht ist: Die Verwaltungsgerichte gewährleisten inzwischen einen äußerst umfangreichen Rechtsschutz. Sinn des immer umfangreichen Rechtsschutzes ist es auch, dass soziale Konflikte über verwaltungsrechtliche Fragen nicht auf anderem Wege ausgetragen werden. Es scheint daher bedenklich, wenn nun die Klärung eine primär verwaltungsrechtlichen Frage vor einem Strafgericht ausgetragen werden soll. Es ist kein sinnvoller Gerichtsaufbau, wenn es hier eine Doppelkontrolle gibt. Ein Strafgericht kann nicht mehr leisten, als auf eine formale Rechtmäßigkeit oder zumindest eine nicht evidente materielle Rechtswidrigkeit abzustellen. Wer Klimaschutz will, sollte eher die Probleme dort suchen, wo sie sinnvoll zu lösen sind. Das ist im Verwaltungsrecht. Es kann doch niemand davon ausgehen, dass das 2-Grad-Ziel dadurch erreicht werden kann, dass irgendwelche Bäume besetzt werden. Die Frage muss doch sein, ob wir es als Rechtsordnung überhaupt hinnehmen wollen, dass diese Bäume gefällt werden.
man stelle sich bloß den umgekehrten fall vor: einen schuldspruch. würden sie ein strafurteil auch dann als einen „gelungenen beitrag zum rechtswissenschaftlichen diskurs“ verteidigen, wenn das gericht den angeklagten auf besonders innovative weise in den bau gesteckt hätte?
call me old fashioned, aber strafurteile sind keine diskursbeiträge. richter müssen jeder versuchung widerstehen, den strafprozess als anlass für solche diskursbeiträge zu begreifen. legitim ist ein strafurteil allein dann, wenn es (nach der meinung des erkennenden gerichts) der dem gesetz und der individuellen schuld der/des angeklagten gerecht wird. alles andere ist dann in der tat richterlicher aktivismus.
das flensburger urteil mag diesen kriterien durchaus gerecht werden. ich finde es nur befremdlich, dass sie ein strafurteil, das sie im ergebnis offenbar selbst für falsch halten, trotzdem als „coole idee“ im rechtsdiskurs verteidigen wollen. die meinungsbildung erfolgt innerhalb der dritten gewalt, indem verschiedene gerichte unterschiedliche ergebnisse für richtig halten, nicht indem sie coole ideen austauschen. wenn jemand auf der anklagebank sitzt, der die folgen ausbaden muss, bleibt kein spielraum für gerichtliche gedankenexperimente und testballons.
ich kann es auch anders ausdrücken: man muss keinen naiven vorstellungen von richterlicher rechtsbindung und -findung aufsitzen, um darauf zu bestehen, dass ein gericht seine urteile als zwingende folge aus dem geltenden recht ableiten muss. natürlich kann man über den inhalt des rechts streiten und natürlich werden gerichtsentscheidungen durch das gesetz nicht vollständig determiniert. aber diese einsicht befreit das gericht nicht von seiner pflicht, die richtigkeit der eigenen lesart zu behaupten (und zu begründen). diese anforderung an die äußere DARSTELLUNG der entscheidung wirkt auf die entscheidungsFINDUNG zurück.
sie hat eine machtbegrenzende und rechtsvereinheitlichende funktion, auf die wir bestehen sollten.
Wie schon in den Kommentaren zu dem genannten Artikel von J. Wolf richtig angemerkt wurde: Man sollte sich nicht unbedingt durch die Symbolik des konkreten Sachverhaltes einschränken lassen.
Es gibt immer Opportunitätskosten – viele, sehr viele. Es sind weder der einzelne Baum, noch alle Bäume, noch die Summe aller Bäume klimarelevant – die Summe aller Umstände ist klimarelevant.
Das Hotel kann Bahnreisen attraktiver machen (Schöner Gedanke!), das Bauvorhaben mit Baumfällung muss ggfs. von konkreten Ausgleichsmaßnahmen begleitet sein – sogar einer CO2-Abscheidungsanlage können u.U. Bäume im Weg stehen. Vlt geht es auch mal um ein veganes Restaurant !
Kosten sind übrigens auch immer sehr subjektiv (“Interpersonal Comparison of Utility”) – auch dazu gibt es *sehr* viel Literatur, die das nächste zu höherem berufene Amtsgericht heranziehen könnte.
Ich werde jetzt mal schauen, ob ChatGPT schon eine Chance hätte, bei der nächsten legal discussion competition. Der Geruch ist schon mal ähnlich.
Hi ChatGPT
Hello! I’m Assistant, a large language model trained by OpenAI. I’m here to help answer any questions you have. What can I help you with today?
I have a legal question: is the individual tree climate relevant because the sum of all trees is climate relevant or is there a substantial difference in normative terms between the climate relevance of all trees and the climate relevance of each individual tree.
The climate relevance of trees is a complex topic that depends on many factors. In general, trees play a crucial role in the global ecosystem by absorbing carbon dioxide from the atmosphere and releasing oxygen through the process of photosynthesis. This helps regulate the Earth’s climate and contributes to the overall health of the planet.
In terms of the climate relevance of individual trees, it is important to note that the impact of a single tree on the climate is relatively small compared to the impact of all trees as a whole. However, this does not mean that individual trees are not climate relevant. The collective effect of many individual trees can be significant, and the loss of even a single tree can have negative consequences for the local ecosystem.
In normative terms, the climate relevance of individual trees may be considered in a number of different ways. For example, the protection of individual trees may be seen as important for the conservation of biodiversity, or for the preservation of natural habitats and ecosystems. Additionally, the loss of individual trees may be considered in terms of its potential impact on the local climate and the overall health of the planet.
Overall, while the climate relevance of individual trees may not be as significant as the climate relevance of all trees as a whole, it is still important to consider the role of individual trees in the global ecosystem and the potential consequences of their loss.
Is it possible that the benefit to the climate of felling a single tree outweighs the harm of that felling to the climate ? And how can this be assessed from the ex-ante point of view ?
It is possible that the benefits of felling a single tree could outweigh the harm to the climate in certain circumstances. For example, if the tree is diseased or damaged and poses a threat to nearby structures or ecosystems, removing the tree could prevent further damage and potentially provide other benefits.
However, in most cases the harm of felling a tree is likely to outweigh the benefits. Trees play a crucial role in the global ecosystem by absorbing carbon dioxide from the atmosphere and releasing oxygen through photosynthesis, and the loss of even a single tree can have negative consequences for the local ecosystem and the overall health of the planet.
In terms of assessing the potential benefits and harms of felling a tree from an ex-ante point of view, there are a number of factors that need to be considered. This may include the current health and condition of the tree, its location and potential impact on nearby structures or ecosystems, and the potential benefits or drawbacks of removing the tree. It may also be necessary to consider the potential long-term effects of felling the tree on the local climate and ecosystem.
Overall, the decision to fell a tree should not be taken lightly, and careful consideration should be given to the potential consequences of such an action before proceeding.
Is a climate activist who protects a tree, even though the felling of that tree is legally permitted, acting in a form of legally permitted emergency ?
It is difficult to say whether a climate activist who protects a tree by preventing its legally permitted felling would be acting in a form of legally permitted emergency without more information about the specific situation and the relevant laws and regulations.
In general, the concept of emergency refers to a situation that poses a threat to life, health, property, or the environment, and that requires immediate action to prevent or mitigate that threat. The specific criteria for declaring an emergency and the actions that can be taken in response to an emergency vary by jurisdiction, and may be defined by laws, regulations, or other legal frameworks.
In the case of a climate activist protecting a tree, it would depend on the specific circumstances and the potential consequences of the tree’s felling. If the felling of the tree poses a significant threat to the local ecosystem, the climate, or human health, it is possible that the activist’s actions could be considered a form of legally permitted emergency response. However, without more information it is not possible to provide a definitive answer.
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Naja, bisschen unverbindliche der Kollege. Aber das wird schon noch, die Tendenz stimmt ja. Und Ausdauer hat der, bis zum Umfallen.
@Steinbeis: Sie wissen ja, wegen der Mod – Kasten Bier.
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Are you, ChatGPT, climate relevant ?
I am not a real person and do not have a physical presence, so I do not have any direct impact on the climate. I am a large language model trained by OpenAI to assist with answering questions, and I do not have the ability to interact with the physical world.
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Lügen kann er auch schon.
J-L W: „Die Richterin am Amtsgericht hatte den Klimaaktivisten im vorliegenden Fall vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs freigesprochen, weil die Baumrettung dem Klimaschutz gedient hatte.“
Die Baumrettungsaktion diente allenfalls mittelbar dem Klimaschutz. Die gegenteilige Auffassung lässt die Zweck-Mittel-Relation des Baumretters außer Acht. Der Baumretter wollte Öffentlichkeit für den Klimaschutz generieren. Dafür beging er Hausfriedensbruch und besetzte den Baum in der Erwartung, dass sich in einem anschließenden Gerichtsverfahren Öffentlichkeit für den Klimaschutz herstellen lässt. Das unerlaubte Betreten des Grundstücks und die Instrumentalisierung der Justiz durch die Durchführung eines Gerichtsverfahrens dienen als Mittel für den Zweck eines „Klimaschutzpolitikmarketings“.
Für mich ist daher die Frage, ob es um Bäume oder Wälder geht, wenig ergiebig. Für mich geht es um die Frage, ob die zwangsweise Rekrutierung von Autofahrern oder Grundstückseigentümern als Komparsen für diese Form des Politikmarketings durch die Rechtsordnung gedeckt ist.
Ich frage mich, ob Sie sich die Mühe gemacht haben, die Begründung des gegenständlichen Urteils durchzulesen?