Klimaschutz als rechtfertigender Notstand
Zum Freispruch von Klimaaktivist:innen durch das Amtsgericht Flensburg
Mit dem Freispruch eines Klimaaktivisten vor dem Amtsgericht Flensburg hat die Diskussion um die Strafbarkeit bestimmter Formen des Klimaaktivismus einen neuen Höhepunkt erreicht. Erstmals wurde angenommen, dass ein sog. rechtfertigender Notstand vorliegt und der Hausfriedensbruch eines Baumbesetzers damit gerechtfertigt war. Die Bejahung des § 34 StGB, der bislang zur Rechtfertigung zivilen Ungehorsams teils vehement abgelehnt wurde, eröffnet eine neue strafrechtliche Perspektive auf den Klimaaktivismus – und erfordert dabei, auch neue, ungewohnte Blickwinkel zuzulassen.
Ein überraschendes Urteil
Inmitten der Forderungen nach höheren Strafen für Klimaaktivist:innen und der sich beinahe täglich weiter aufheizenden Debatte um Blockade-, Klebe- oder Kunstaktionen erging ein Urteil, mit dem niemand rechnete. Eine Richterin am Amtsgericht Flensburg sprach vergangenen Montag einen Aktivisten frei, der mit anderen gemeinsam wochenlang Bäume in Flensburg besetzt hatte, um gegen die drohende (und letztlich vollzogene) Rodung des städtischen Waldes zu protestieren. Ziel der Rodung war es, Platz für ein Hotelprojekt privater Investoren zu machen. Zwar sah das Gericht den Vorwurf des Hausfriedensbruchs als gegeben an, entschied auf der Rechtswidrigkeitsebene aber für den Angeklagten. Das Ziel des Angeklagten, diesen Wald zu schützen, wiege schwerer als das Interesse der Investoren, so die Richterin, die damit in der Interessenabwägung zugunsten des Aktivisten entschied und einen rechtfertigenden Notstand gem. § 34 StGB bejahte. Das bedeutet, dass die Handlung zwar den Tatbestand des Hausfriedensbruchs gem. § 123 StGB erfüllt, das Verhalten aber nicht rechtswidrig ist. Der Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB nimmt dem Verhalten somit seinen strafrechtlichen Unrechtscharakter. Damit § 34 StGB – wie vorliegend angenommen – greift, müssen dem Wortlaut zufolge folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
„Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“
Das Urteil überrascht. Zum einen ist es (soweit ersichtlich) der erste Freispruch in Umwelt- und Klimaprotestfällen, der auf § 34 StGB basiert. Noch im März 2022 musste Francesca Mascha Klein im Verfassungsblog auf Urteile aus anderen europäischen Ländern verweisen, um die Möglichkeit einer strafrechtlichen Rechtfertigung nach deutschem Recht zu untermauern. Zwar sind seitdem bereits zahlreiche Urteile gegen Klimaaktivist:innen insbesondere der Letzten Generation ergangen, doch diese setzten sich kaum dezidiert mit der Klimawandelproblematik auseinander.
Die Freude auf Seiten der Aktivist:innen dürfte jedoch nur von kurzer Dauer sein: die Staatsanwaltschaft hat bereits Sprungrevision eingelegt. Und da das Urteil „mit den bisherigen Auffassungen des rechtfertigenden Notstands breche“1), ist eine Aufhebung des Freispruchs in nächster Instanz wohl zu erwarten.
Doch wie steht es um diese „bisherigen Auffassungen des rechtfertigenden Notstands“, wenn es um Taten geht, die zum Klima- und Umweltschutz begangen werden und damit auf die Minderung einer globalen und kollektiv drohenden Gefahr abzielen? Das soll Anlass geben, im Folgenden auf § 34 StGB genauer einzugehen.
Klimawandel als Notstandslage
Dass der Klimawandel zunächst eine Gefahr im Sinne des § 34 StGB darstellt, ist wissenschaftlich wohl kaum zu bestreiten. Extremwettereignisse, Fluchtbewegungen, Artensterben und Überschwemmungen (um nur einige Beispiele aufzuzählen) sind Folgen, mit denen bei ungehindertem Temperaturanstieg sicher zu rechnen ist.2) Die Gefahr der Erderwärmung betrifft damit unmittelbar das Kollektivrechtsgut „humanes Klima“ (Kollektivrechtsgüter sind als solche im Rahmen des § 34 StGB anerkannt), mittelbar – mit der Realisierung der Folgen – auch Individualrechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Eigentum.
Diese Gefahr muss jedoch auch gegenwärtig sein. Gegenwärtig ist die Gefahr dann, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nur unter erheblichen Risiken abgewendet werden kann.3) Zwar hat die globale Erderwärmung die kritische Grenze von 1,5 bzw. 2 Grad noch nicht überschritten – doch das steht der Gegenwärtigkeit nicht entgegen. Es kommt vorliegend vielmehr darauf an, bis wann die Gefahr eines solchen Temperaturanstiegs noch hinreichend erfolgreich abgewendet werden kann – die Gegenwärtigkeit erfordert also, dass sofortiges Handeln notwendig ist.4) Ist jener Zeitpunkt nämlich überschritten, kann dem Untergang des zu schützenden Rechtsguts nur noch hilflos zugeschaut werden.5) Bezüglich des Klimawandels steht eine sofortige Interventionsnotwendigkeit jedenfalls fest. Zu berücksichtigen sind dabei auch drohende sog. points of no return, wie das Auftauen des sibirischen Permafrostbodens oder die Gletscherschmelze, die zu noch nicht absehbaren, mit hoher Wahrscheinlichkeit irreversiblen Schäden führen werden. Aktuelle Prognosen bewerten die politischen Ziele und Maßnahmen auf nationaler und globaler Ebene insgesamt als unzureichend, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Somit ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich die genannte Gefahr auch tatsächlich realisiert.
Damit kann man grundsätzlich eine Notstandslage annehmen, die auch im anfangs erwähnten Sachverhalt zu bejahen war: Die drohende Rodung der Bäume stellte insofern eine (wenn auch marginale) Beschleunigung der gegenwärtigen Gefahr „Klimawandel“ dar.
Klimaaktivismus als Notstandshandlung
Neben der Notstandslage muss jedoch auch die Notstandshandlung den gesetzlichen Anforderungen genügen. Konkret gesprochen, muss im vorliegenden Fall das Besetzen der Bäume auch erforderlich (sprich geeignet und das relativ mildeste Mittel zur Gefahrbeseitigung oder -abschwächung) und angemessen gewesen sein. Zudem muss die konkrete Interessenabwägung zwischen dem Eingriffsgut (hier: Eigentum der Investorenfirma) und dem Erhaltungsgut (hier: Wald, mittelbar das Kollektivrechtsgut humanes Klima) zugunsten des Erhaltungsguts ausfallen, und zwar wesentlich.
Sind also Baumbesetzungen von Klimaaktivist:innen konkret geeignet? Geeignet ist ein Mittel nur dann, wenn es jedenfalls nicht völlig nutzlos zur Gefahrbeseitigung oder -abschwächung ist.6) Hier muss ein Moment innegehalten werden: Durch das Besetzen der Bäume wird offensichtlich die globale Emissionsmenge (über einen minimalen Beitrag durch die Rettung der Bäume hinaus) weder signifikant reduziert, noch hat die Besetzung überhaupt direkte positive und feststellbare Auswirkungen auf das Klima.7)
Gerade bei einer komplexen und vielschichtigen Gefahr wie der des Klimawandels kann es aber niemals das eine geeignete Mittel zur Gefahrabwendung geben.8) Vielmehr ist eine Summe politischer und individueller Entscheidungen erforderlich – nur ein inner- und überstaatliches Zusammenwirken kann die Krise aufhalten oder zumindest abschwächen. In dieser Wirkungskette steht auch der Klimaaktivismus: Dieser führt in Form des provozierenden zivilen Ungehorsams zu medialer und sozialer Aufmerksamkeit, kann mittelbar also verstärkten Druck auf Bürger:innen und politische Akteur:innen ausüben, was wiederum dazu führen kann, dass Mehrheitsentscheidungen und Maßnahmen zugunsten eines stärkeren Klimaschutzes ergehen.9) Auch Klimaaktivismus ist damit (jedenfalls mittelbar) geeignet, die Erderwärmung aufzuhalten.
Mit dieser Voraussetzung hat es jedoch nicht sein Bewenden. Denn daneben dürfen auch keine anderen Mittel ersichtlich sein, die gleich effektiv, aber weniger einschneidend sind. Konkret heißt das: Der Klimaaktivismus (in seiner radikalen Form, wie hier in Form eines Hausfriedensbruchs) muss das relativ mildeste Mittel zum Erhalt des Rechtsguts „humanes Klima“ darstellen – und dies insbesondere mit Blick auf die laufenden staatlichen Initiativen, die ihrerseits darauf gerichtet sind, klimaschützende Maßnahmen zu ergreifen und klimaschädliche Handlungen zu verringern. Dies scheint insofern problematisch, als der Vorrang staatlichen Handelns ein klares Postulat ist, das es im Rahmen des § 34 StGB gerade beim Schutz von Allgemeinrechtsgütern einzuhalten gilt. Individuelles Handeln muss grundsätzlich hinter dem staatlichen Gewaltmonopol subsidiär zurücktreten.10) Doch greift dieser Grundsatz immer? Betrachtet man die neuesten Entwicklungen, so wird deutlich, dass sich seit der Festlegung auf das 1,5- bzw. 2-Grad-Ziel im Rahmen des Pariser Klimaübereinkommens die (globale) Klimaschutzpolitik in ihrer Umsetzung als unzureichend darstellt. Bereits jetzt ist absehbar, dass die einzuhaltenden Klimaziele, insbesondere die Emissionsreduzierung, nicht erreicht werden. Deutschlands Klimaschutzpolitik wird vom CAT (Climate Action Tracker) als „insufficient“ bezeichnet.11) Kann also der Vorrang staatlichen Handelns auch dann gelten, wenn nur irgendein staatliches Handeln im Raum steht, aber kein ausreichendes? An dieser Stelle sei auf ein Urteil des OLG Naumburg aus dem Jahr 201812) verwiesen, in welchem der Vorrang staatlichen Handelns vor individuellem Einschreiten in einem Tierschutzfall (die Angeklagten drangen in eine Schweinezuchtanlage ein, um die tierschutzgesetzwidrigen Zustände zu dokumentieren) abgelehnt wurde, weil ein systematisches Behördenversagen vorlag. Staatliche Institutionen einzuschalten sei „von vornherein aussichtslos“ und damit keine vorzuziehende Alternative gewesen. Auch im Bereich des Klimaschutzes lassen sich ähnliche Erwägungen jedenfalls diskutieren, denn staatliche Klimaschutzmaßnahmen sind nicht nur evident unzureichend; sie sind dies auch schon über einen so langen Zeitraum hinweg, dass mit dem OLG Naumburg von einem systemischen Problem ausgegangen werden könnte.
Kein milderes Mittel kann zudem ein Aktivismus ohne Ungehorsam darstellen. Der Rechtsbruch fungiert gerade als Katalysator für Aufmerksamkeit und Provokation: Ohne Gesetzesverletzung wäre der Klimaaktivismus als geeignetes Mittel zur Gefahrabwendung konterkariert.
Zwei weitere Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands gilt es schließlich noch zu untersuchen. Zum einen muss die Interessenabwägung zwischen dem Erhaltungsgut – hier: „humanes Klima“ – und dem Eingriffsgut – hier: das Eigentumsinteresse des Waldeigentümers – eindeutig zugunsten des Erhaltungsguts ausfallen. Zum anderen muss die Handlung auch ein angemessenes Mittel zur Gefahrabwendung darstellen. Was die Interessenabwägung im vorliegenden Fall angeht, so kann der Richterin nur beigepflichtet werden, wenn sie feststellt: „Früher hätte ich gesagt, dass der Staat das Klimaschutzziel von selbst verfolgt, aber im Jahr 2021 lässt sich das nicht halten. Es war ein angemessenes Mittel, im Baum zu sitzen.“13)
Dies insbesondere auch deshalb – und an dieser Stelle sei erneut auf die Entscheidung des OLG Naumburg verwiesen – weil „derjenige, der eine Gefahr für ein geschütztes Rechtsgut verursacht, selber Beeinträchtigungen eigener Rechte eher hinnehmen muss als ein Dritter, der an der Entstehung der Gefahr unbeteiligt ist“.14)
Angemerkt sei an dieser Stelle aber noch die grundsätzliche Legalität der (meisten) klimaschädlichen Handlungen. Wer in Deutschland einen Wald rodet, darf dies mit behördlicher Genehmigung tun (im vorliegenden Sachverhalt wird die genaue Lage diesbezüglich nicht ganz klar). Grundsätzlich trifft der Klimaaktivismus also auf demokratisch legitimierte Mehrheitsentscheidungen (etwa Straßenbau oder die grundsätzliche Zulässigkeit von Autofahren) und muss sich zunächst den Vorwurf gefallen lassen, er versuche demokratische Prinzipien wie das Mehrheitsprinzip15) auszuhebeln. Allerdings leistet hier ein Perspektivenwechsel Abhilfe: Der Prozess einer demokratischen Mehrheitsentscheidung wird mehr anerkannt als negiert, wenn mittels zivilen Ungehorsams Aufmerksamkeit erregt und die Mehrheit der Bevölkerung und Politiker:innen beeinflusst werden soll.16) Ziviler Ungehorsam zielt gerade darauf ab, sich demokratische Prozesse zu eigen zu machen und einen neuen Mehrheitskonsens zu finden bzw. auf die Umsetzung bestehender Mehrheitsentscheidungen zu drängen.
Geht es schließlich um die Angemessenheit der Notstandshandlung, so ist danach zu fragen, ob „das Verhalten des Notstandstäters auch nach den anerkannten Wertvorstellungen der Allgemeinheit als eine sachgemäße und dem Recht entsprechende Lösung der Konfliktlage erscheint“17). Der Angemessenheit kommt damit eine Korrektivfunktion zu.18) So ist die Notstandshandlung beispielsweise unangemessen, wenn ein geordnetes rechtliches Verfahren zur Konfliktlösung greift oder die Inanspruchnahme des Eingriffsguts generell unzulässig ist.19) Ähnlich wie in der Interessenabwägung müssen damit wiederum der Vorrang des staatlichen Gewaltmonopols und die Berücksichtigung demokratischer Prinzipien wie das Mehrheitsprinzip Eingang in die Bewertung finden. Daher können die oben aufgeworfenen Gedanken an dieser Stelle erneut fruchtbar gemacht werden.
In der Angemessenheit geht es damit letztlich um eine (finale) Auflösung des Spannungsfelds zwischen Eingriffs- und Erhaltungsgut, zwischen individuellem Einschreiten einerseits und staatlichen Verfahren und übergeordneten Prinzipien andererseits.
Juristisches Einhorn
Abschließend bleibt zu sagen: Das Urteil ist bisher ein juristisches Einhorn und die Entscheidung der nächsten Instanz kann mit Spannung erwartet werden. Zu hoffen ist in jedem Fall auf eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Klimawandel als Notstandslage, der Interessenabwägung und der Reichweite des staatlichen Gewaltenmonopols im Rahmen des so dringenden Klimaschutzes. Das Echo in Politik und Rechtswissenschaft wird in jedem Fall erheblich sein.
References
↑1 | So P |
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