Der Energiecharta-Vertrag im Kreuzfeuer der Kritik
Ist der Rücktritt vom Energiecharta-Vertrag wirklich ein großer Wurf der Ampelkoalition?
Kaum ein anderer völkerrechtlicher Vertrag aus dem Bereich des internationalen Wirtschaftsrechts hat in den letzten Jahren so sehr die politischen Gemüter bewegt, wie der Energiecharta-Vertrag (Energy Charter Treaty – ECT). Am 11. November 2022 hat auch die Bundesregierung erklärt, aus dem Energiecharta-Vertrag auszutreten. Zur Debatte steht jedoch, ob die Gründe dafür überzeugen können. Denn ob man es politisch will oder nicht, mit einem Rücktritt vom Energiecharta-Vertrag sind komplexe rechtliche Probleme verbunden.
Schon das erste Verfahren von Vattenfall gegen Deutschland, das im Jahre 2009 vor einem internationalen Schiedsgericht auf der Grundlage des Energiecharta-Vertrages angestrengt wurde (ICSID Case No. ARB/09/6), löste Diskussionen aus. Während es damals noch um die Betriebserlaubnis für ein Kohlekraftwerk ging, betraf das zweite Vattenfall-Verfahren (ICSID Case No. ARB/12/12) ab 2012 den noch sensibleren Bereich der Kernenergie. Um welche Rechts- und Verfahrensfragen es dabei im Einzelnen ging, lässt sich neben den zitierten umfangreichen Verfahrensdokumenten auch auf YouTube anhand der Videoaufzeichnung der mündlichen Verhandlung über viele Stunden nachverfolgen. Das Verfahren Rockhopper gegen Italien, das parallel zu diesem Beitrag auf verfassungsblog.de analysiert wird, war ein weiterer wichtiger Punkt in der politischen Diskussion. Auch hier ging es um Investitionen im Bereich fossiler Energieträger und damit stand einmal mehr die Frage zur Debatte, ob und gegebenenfalls inwieweit der Energiecharta-Vertrag mit umweltpolitischen Zielsetzungen und den rechtlichen Vorgaben des Pariser Klimaübereinkommens vereinbar ist. Wie Romy Klimke und Jannis Bertling zeigen, kann die Rockhopper-Entscheidung indes nicht dazu dienen, einen Vorrang von Investoreninteressen vor Klimaschutzzielen zu postulieren.
Dessen ungeachtet verlief die Diskussion der letzten Monate politisch in eine andere Richtung. Nach der Ankündigung der polnischen Regierung im August 2022, vom Energiecharta-Vertrag zurückzutreten, folgten innerhalb kurzer Zeit mit ebensolchen Erklärungen Spanien, die Niederlande, Frankreich und Slowenien (ausführliche Informationen zur Entwicklung hier). Am 11. November 2022 hat sich auch die Ampelkoalition der Bundesregierung darauf verständigt, aus dem Energiecharta-Vertrag auszutreten. Das Beschlusspapier zur „Weiterentwicklung der Handelsagenda der Ampel“ wurde vom stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Andreas Audretsch, auf seinem Twitter Account veröffentlicht. Dort heißt es auch, dass sich die Bundesregierung bei der Abstimmung im Ministerrat der EU am 15. November 2022 zur Positionierung der EU zur Modernisierung des Energiecharta-Vertrages enthalten wird.
Die wirtschafts- und rechtspolitische Bewertung des Energiecharta-Vertrages und des dortigen Investor-Staat-Schiedsverfahrens kann sehr unterschiedlich ausfallen, abhängig vom jeweiligen weltanschaulichen Standpunkt. Gewinnbringender scheint es, die Entscheidung der Ampelkoalition zum Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag juristisch einzuordnen. Dabei soll es insbesondere auch um die Frage gehen, ob die politische Einschätzung, dass mit einem Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag Schluss mit Klagen von Investoren im Bereich fossiler Energieträger und damit ein „riesiger Schritt in Richtung mehr Klimaschutz“ getan sei (Andreas Audretsch), überzeugt. Um zu einer politischen Bewertung zu gelangen, müssen erst die komplexen rechtlichen Probleme verstanden werden, die mit dem Rücktritt verbunden sind.
Ein modernisierter ECT
Ein möglicher Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag zum jetzigen Zeitpunkt ist in einem größeren Kontext im Zusammenhang mit der sogenannten Modernisierung des Vertrages zu sehen. Seit Ende November 2017 wird auf der Grundlage eines entsprechenden Beschlusses der Energiecharta-Konferenz über eine Reform des ECT in verschiedenen Bereichen diskutiert. Der Text eines reformierten Energiecharta-Vertrages, der nunmehr am 22. November 2022 zur Abstimmung ansteht, ist seit einigen Wochen öffentlich verfügbar. Im vorliegenden Kontext wichtigste Ergebnisse im Rahmen der Modernisierung des Vertrages sind (eine ausführlichere Analyse findet sich z.B. hier):
- Eine an verschiedenen Stellen und durch einen neuen Artikel gesondert hervorgehobene Bezugnahme auf das Pariser Klimaübereinkommen und die dort festgelegten Klimaschutzziele. Insofern wird explizit auf die Verpflichtung der Vertragsparteien des Energiecharta-Vertrages hingewiesen, alle notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, um den zügigen Übergang in eine klimaneutrale Energiewirtschaft zu erreichen (siehe hier, S. 54 f.). Der vorgeschlagene neue Text des Energiecharta-Vertrages nimmt auch über die besondere Herausforderung des Klimawandels hinaus weitreichend auf das Prinzip einer nachhaltigen Entwicklung Bezug.
- Auch wenn mehr als die Hälfte aller bisherigen ECT-Schiedsgerichtsverfahren den Schutz von Investitionen im Bereich erneuerbarer Energien zum Gegenstand hatte (ausführliche Studie hierzu hier), hat bei den Verhandlungen die Frage eine wichtige Rolle gespielt, ob und gegebenenfalls inwieweit der Energiecharta-Vertrag Investitionen und wirtschaftliche Aktivitäten auf fossile Energieträger bezogen weiterhin erfassen und damit völkervertraglich schützen soll. Hierzu ist nun vorgesehen, dass einzelne Vertragsparteien des Energiecharta-Vertrages wirtschaftliche Aktivitäten im Bereich fossiler Energieträger vom Anwendungsbereich des Vertrages ausnehmen können. Das wird im Einzelnen in einem Anhang zum Vertrag geregelt. Für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten ist hier umfassend geregelt, dass alle Investitionen im Bereich fossiler Energieträger, die nach dem 15. August 2023 erfolgen, nicht vom modernisierten Energiecharta-Vertrag erfasst und damit geschützt werden.
- Auf die Schiedsgerichtsbarkeit bezogen, stellt der neue Vertragsentwurf klar, dass die Möglichkeit von Investor-Staat-Streitverfahren im sog. intra-EU-Verhältnis, also zwischen den Mitgliedstaaten der EU, ausgeschlossen ist (Art. 24 Abs. 3 (neu) des Entwurfs).
- Weiterhin sind neben zahlreichen materiellrechtlichen Anpassungen, die unter anderem das sogenannte „right to regulate“ der Vertragsparteien stärken, umfangreiche Reformen des Schiedsgerichtsverfahrens vorgesehen. Das umfasst etwa weitreichende Transparenz-Vorgaben, den Ausschluss missbräuchlicher Klagen und Regelungen zur Prozessfinanzierung durch Dritte ein (Art. 26 Abs. 6 ff. (neu) des Entwurfs).
Schon jetzt keine Anwendbarkeit des ECT im intra-EU-Verhältnis
Um den Rechtsrahmen zu verdeutlichen, in dem sich die Diskussion über einen Austritt aus dem ECT bewegt, ist auch auf die prominente Komstroy-Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Rs. 741/19, Urt. v. 2.9.2021) hinzuweisen. Hiernach sind Schiedsverfahren nach dem ECT im intra-EU-Verhältnis, also zwischen EU-Mitgliedstaaten und Investoren aus einem Mitgliedstaat, aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der Autonomie des Unionsrechts zwischenzeitlich unzulässig. Diese Rechtsprechung wird von mitgliedstaatlichen Gerichten jedenfalls zum Teil auch auf ICSID-Verfahren, die sich auf den ECT stützen, ausgedehnt. Das OLG Köln hat hierzu vor kurzer Zeit entsprechend entschieden. Auch wenn man an der rechtlichen Überzeugungskraft der Anwendung der Komstroy-Rechtsprechung auch auf ICSID-Verfahren zweifeln kann (ausführliche Analyse hier), wird es realistisch betrachtet zunehmend unmöglich, im intra-EU-Verhältnis Investitionsschutzverfahren nach bilateralen Investitionsschutzverträgen (BITs) oder dem ECT anzustrengen. Die aktuelle Entscheidung des Schiedsgerichts in Green Power gegen Spanien, in der das Schiedsgericht dem EuGH in Komstroygefolgt ist und ein intra-EU-Verfahren nach dem ECT als unzulässig erklärte, ist hier ein weiterer wichtiger Baustein in der Rechtspraxis. Die praktische Relevanz all dessen – wenngleich auch nicht zwingend dogmatisch überzeugend – wird spätestens mit einer entsprechenden Vereinbarung unter den EU-Mitgliedstaaten zur Nichtanwendung des ECT im intra-EU-Verhältnis, wie von der EU-Kommission in einer Mitteilung vom 5.10.2022 (COM/2022/523 final) mit konkretem Textentwurf vorgeschlagen, offensichtlich werden.
Insgesamt hebt der Text des modifizierten Energiecharta-Vertrages deutlich die Interessen eines effektiven Klimaschutzes hervor und begrenzt den Schutz von Investitionen im Bereich fossiler Energieträger. Überdies sind schon jetzt – und der modifizierte ECT stellt dies rechtlich klar – Schiedsgerichtsverfahren jedenfalls faktisch nach dem ECT im intra-EU-Verhältnis ausgeschlossen. Ausgehend von diesen Rahmenbedingungen ist die beabsichtigte Kündigung des ECT durch Deutschland zu bewerten.
Rücktritt vom ECT – wenn es nur so einfach wäre
Ein Rücktritt vom gegenwärtigen ECT ist nach dessen Art. 47 möglich. Der Rücktritt wird gemäß Art. 47 Abs. 2 frühestens ein Jahr nach Eingang der Notifikation des Rücktritts wirksam. Bis dahin bleibt die vollumfängliche Rechtsbindung an den ECT für die entsprechende Vertragspartei bestehen. Für Investitionen, die im Territorium der Vertragspartei, die vom ECT zurücktritt, vor Wirksamwerden das Rücktritts getätigt wurden beziehungsweise von Investoren der betreffenden Vertragspartei im Territorium anderer Vertragsparteien vorgenommen wurden, besteht allerdings ein Investitionsschutz für weitere 20 Jahre (Art. 47 Abs. 3 ECT). Die praktische Relevanz dieser sogenannten sunset- oder auch Fortwirkungsklausel zeigt sich zum Beispiel in der Rockhopper-Entscheidung.
Sunset-Klauseln sind im Völkerrecht nicht ungewöhnlich. Schon der Friedensvertrag von Versailles vom 20. Juni 1919 enthielt zum Beispiel auf bestimmte Verpflichtungen des Deutschen Reiches bezogen eine fünfjährige sunset-Klausel (dort Art. 280); zahlreiche weitere Praxisbeispiele können angeführt werden. Im Investitionsschutzbereich gibt es von den mehr als 2.500 Investitionsschutzverträgen, die in Kraft sind, weltweit kaum welche, die keine sunset-Klausel enthalten; ein Arbeitspapier der OECD spricht von 97% aller Verträge, die eine entsprechende Klausel enthalten. Allerdings variieren die Laufzeiten dieser sunset-Klauseln von fünf bis zu 25 Jahren (zu weiteren Einzelheiten siehe eine aktuelle Studie von A. Kouroutakis für das Europäische Parlament).
Im Kern ist die Regelungsidee von sunset-Klauseln, einen Kompromiss herzustellen zwischen dem wirtschaftlichen Interesse der Investoren an zeitlicher Rechtssicherheit, die zumindest für die Amortisation der Investitionen notwendig ist, sowie auf der anderen Seite der aus Gesichtspunkten staatlicher Souveränität und Regulierungsfreiheit folgenden Notwendigkeit, dass sich Staaten von völkervertraglichen Bindungen wieder lösen können. Die relativ lange Laufzeit von sunset-Klauseln im Energiebereich erklärt sich dabei daraus, dass Investitionen in der Energiewirtschaft regelmäßig ausgesprochen großvolumig mit entsprechend langer Amortisationszeit sind.
Sunset-Klauseln sind klar darauf ausgelegt, im Falle eines unilateralen Rücktritts von einem Investitionsschutzvertrag ihre Wirkung zu entfalten. Eine unilaterale Loslösung von der Fortwirkungsklausel des Art. 47 Abs. 3 ECT wäre, wenn überhaupt, nur auf der Grundlage der clausula rebus sic stantibusdenkbar; Einzelheiten hierzu sind in Art. 62 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) geregelt. Zentral ist hierbei, dass ein Rücktritt von einem völkerrechtlichen Vertrag außerhalb der im Vertrag selbst vorgesehenen Rücktrittsmöglichkeiten nur über eine grundlegende Änderung von beim Vertragsabschluss gegebenen Umstände, die von den Vertragsparteien nicht vorausgesehen wurden, erfolgen kann. Auch wenn unter Berufung auf diese Vorschrift eine unilaterale Loslösung von der sunset-Klausel des Art. 47 Abs. 3 ECT theoretisch denkbar ist, ist auf die hohen Tatbestandsanforderungen der clausula hinzuweisen. Das Sekretariat der Energiecharta hat dies in einer aktuellen Pressemitteilung unterstrichen und unter anderem auch auf die einschlägige Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes (IGH) hingewiesen, nach der neuere Entwicklungen im Umweltrecht und neue Erkenntnisse auf Umweltentwicklungen bezogen keine unvorhergesehenen Umstände im Sinne von Artikel 62 WVK darstellen.
Folglich ist zunächst festzuhalten, dass ein unilateraler Rücktritt Deutschlands vom Energiecharta-Vertrag in jedem Fall erst 21 Jahre ab Notifikation dieses Rücktritts den Investorenschutz auch im Bereich fossiler Energieträger zum Erlöschen bringt. Bis dahin stünden Investoren, die Investitionen bis ein Jahr nach Abgabe der Rücktrittserklärung durch Deutschland getätigt haben, alle Möglichkeiten des Investor-Staat-Schiedsverfahrens nach dem ECT zur Verfügung. Wenn überhaupt, ließe sich dies nur durch ein koordiniertes Vorgehen der Vertragsparteien des ECT ändern.
Wenn man will, geht es? Inter-se-Aufhebung der sunset-Klausel
Die völkervertragsrechtliche Möglichkeit einer Bedingung der sunset-Klausel durch eine nachträgliche Vereinbarung einer bestimmten Anzahl von Vertragsparteien – eine sogenannte inter-se-Modifikation – wurde bereits verschiedentlich diskutiert. Auf die einschlägigen Beiträge (u.a. arbitrationblog, voelkerrechtsblog, European Law Blog und verfassungsblog.de) sei verwiesen. Im Kern geht es um die rechtliche Frage, ob eine entsprechende inter-se-Modifikation des ECT im Sinne von Art. 41 WVK aufgrund von Art. 16 ECT verboten ist. Art. 16 ECT regelt das Verhältnis vom ECT zu anderen völkerrechtlichen Übereinkünften der Vertragsparteien, die unter anderem die Regelungen zum Investitionsschutz des ECT betreffen. Zur Debatte steht hier insbesondere, ob Art. 16 ECT schon unmittelbar seinem Wortlaut nach ein Schlechterstellungsverbot von Investoren aufgrund von späteren Übereinkünften der Vertragsparteien enthält. Die Loslösung von Art. 47 Abs. 3 ECT wäre ein solcher Fall einer Schlechterstellung von Investoren. Zahlreiche Schiedsgerichtsurteile (Nachweise hierzu bei Johannes Tropper auf Kluwer Arbitration Blog), die sich mit Art. 16 ECT im Hinblick auf das Konkurrenzverhältnis zum Unionsrecht befassen, lassen sich klar in diese Richtung interpretieren. Zum selben Ergebnis einer Unzulässigkeit einer inter-se-Modifikation des ECT kommt man bei einer Auslegung und Anwendung von Art. 41 WVK in Verbindung mit Art. 16 ECT. Wenn man anderer Ansicht ist, und eine inter-se-Modifikation des ECT zum Beispiel durch eine Vereinbarung der EU-Mitgliedstaaten untereinander für zulässig erachtet, würde dies im Ergebnis in der völkervertragsrechtlichen Praxis sunset-Klauseln insgesamt leerlaufen lassen; diese hätten letztlich keine Bedeutung mehr, da sie jederzeit aufgehoben oder abgeändert werden könnten.
Unabhängig davon, welche rechtsdogmatische Position man im Hinblick auf die Möglichkeit einer Loslösung von der Fortwirkungsklausel des Art. 47 Abs. 3 ECT einnimmt, steht jedenfalls fest, dass für bis zu 21 Jahre nach Abgabe einer entsprechenden Rücktrittserklärung durch Deutschland oder andere Vertragsparteien des ECT die Möglichkeit besteht, ein Investor-Staat-Streitbeilegungsverfahren anzustrengen, um etwa die fortwirkende Wirksamkeit der sunset-Klausel überprüfen zu lassen. Die sogenannte Kompetenz-Kompetenz eines Schiedsgerichts, über seine Zuständigkeit, hier im Hinblick auf die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Aufhebung der sunset-Klausel zu entscheiden, bleibt in jedem Fall bestehen.
Bleiben ist besser
Es bleibt damit fraglich, ob nicht eine Zustimmung zum modernisierten ECT, wie sie auch die EU-Kommission befürwortet, der bessere Weg wäre, um der effektiven Verfolgung von Klimaschutzzielen unter Einschränkung des Investitionsschutz im Bereich fossiler Energieträger gerecht zu werden. Dabei ist folgendes zu berücksichtigen: der vorliegende Text eines modernisierten ECT stellt völkervertragsrechtlich den Vorschlag einer Vertragsänderung im Sinne von Art. 42 ECT dar. Dieser bedarf zunächst der Annahme durch die Energiecharta-Konferenz. Die Konferenz entscheidet nach Art. 36 Abs. 1 ECT durch Einstimmigkeit, wobei nur abgegebene Ja- oder Neinstimmen, nicht also Enthaltungen zählen (vgl. Art. 36 Abs. 5 ECT). Nach einem entsprechenden Beschluss der Energiecharta-Konferenz werden die Änderungen den Vertragsparteien übermittelt. Abhängig von deren innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben erfolgt dann dort ein Ratifikations- oder sonstiges Zustimmungsverfahren. Sobald drei Viertel der Vertragsparteien den Änderungen durch Ratifikation oder sonstige Zustimmung zugestimmt haben, treten diese für diese Vertragsparteien 90 Tage später in Kraft (Art. 42 Abs. 3 u. 4 ECT).
In gewisser Weise unabhängig hiervon ist es nach Art. 30 Abs. 3 lit. m) ECT für die Energiecharta-Konferenz möglich, die Anlagen des Vertrages mit unmittelbarer Rechtswirksamkeit zu modifizieren. Das ist in der Beschlussvorlage für den 22. November 2022 vorgesehen (Einzelheiten hierzu in dem einschlägigen Dokument der EU-Kommission vom 5.10.2022). Hiernach erfolgt unter anderem durch eine entsprechende Änderung der Anlage NI des ECT für die Europäische Union ein Ausschluss des Schutzes für alle neuen Investitionen für fossile Brennstoffe ab dem 15. August 2023, wobei ein Übergangszeitraum für bestimmte Gaskraftwerke und vergleichbare Einrichtungen gilt. Für alle bestehenden Investitionen in fossile Brennstoffe gilt der Investitionsschutz nur noch für zehn Jahre nach Inkrafttreten beziehungsweise nach Beginn der vorläufigen Anwendung des neuen ECT. Dabei ist vorgesehen, dass die Energiecharta-Konferenz entscheidet, dass die Änderungen des ECT ab dem 15. August 2023 für alle Vertragsparteien vorläufig angewandt werden, es sei denn, eine Vertragspartei erklärt hierzu explizit das Gegenteil (opt out). Überdies ist vorgesehen, dass dem Grundsatz der Gegenseitigkeit entsprechend Investitionsschutz nach Teil III ECT und Investor-Staat-Streitbeilegung nach Art. 26 ECT immer dort ausgeschlossen ist, wo für einzelne Vertragsparteien kein Schutz fossiler Energieträger vorgesehen ist. Wie bereits hervorgehoben, soll dies für die EU umfassend ab dem 15. August 2023 gelten (siehe insgesamt zu diesen und weiteren im Detail komplexen Sonderregelungen für die EU nochmals Vorschlag der EU-Kommission für einen Beschluss des Rates v.5.10.2022).
Es zeigt sich damit im Ergebnis, dass die jetzige Kündigung des ECT durch Deutschland und andere Staaten mit erheblichen Rechtsrisiken verbunden ist. Nach überwiegender Auffassung im völkerrechtlichen Schrifttum ist es nicht möglich, die bestehende sunset-Klausel des ECT für unwirksam zu erklären oder zu modifizieren, solange nicht der gesamte ECT mit Rechtswirkung für alle Vertragsparteien geändert wird. Politisch sind Änderung des ECT dabei im Kreis der 53 Vertragsparteien sehr umstritten; Japan zum Beispiel hat sich lange Zeit sehr deutlich gegen jede Änderung des ECT im Sinne des verstärkten Klimaschutzes gesperrt. Eine komplette Auflösung des ECT einschließlich einer sofortigen Unwirksamkeit der sunset-Klausel ist politisch nicht realistisch. Eine unilaterale Loslösung von der sunset-Klausel ist rechtlich ausgeschlossen. Eine Änderung oder Aufhebung der Klausel im Kreise einer bestimmten Anzahl von Vertragsparteien des ECT ist mit ganz erheblichen rechtlichen Risiken verbunden. All dies ist zu beachten, wenn man sich dafür ausspricht, den rechtssicheren Kompromiss einer klaren Beschränkung des Investitionsschutzes für fossile Energieträger auf weitere 10 Jahre (und eben nicht mindestens 20 Jahre) im Rahmen eines modifizierten ECT abzulehnen. Politische Redlichkeit gebietet es, diese komplexe Entscheidungssituationen transparent zu machen – nicht aber den geplanten Rücktritt vom ECT als Allerheilmittel zu verkaufen.