14 October 2021

Investitionsschutz über Klimaschutz?

Warum ein Rücktritt aus dem Energie-Charta-Vertrag völkerrechtlich möglich und klimapolitisch richtig ist

Der sogenannte Energiecharta-Vertrag (ECT) steht wegen seiner investorenfreundlichen Bestimmungen und der Bedrohung, die er für die Energiewende darstellt, bereits seit längerer Zeit in der Kritik. Vom 28. September bis 1. Oktober 2021 hat nun die siebte Verhandlungsrunde über eine “Modernisierung” des Abkommens stattgefunden. Bislang blieben die Bemühungen der EU, den ECT mit den EU-Klimazielen und neuen Investitionsstandards in Einklang zu bringen, erfolglos und in den seit 2018 andauernden Verhandlungen konnte kein Durchbruch erreicht werden. Deshalb erwägen immer mehr EU-Mitgliedstaaten, darunter etwa Frankreich und Spanien, einen Rücktritt vom ECT. Auch die EU-Kommission selbst schließt einen koordinierten Rücktritt zwischenzeitlich nun nicht mehr aus.

Ein solcher Rücktritt einiger, aber nicht aller, Vertragsstaaten vom ECT hat eine solide völkerrechtliche Basis. Im Gegensatz zum jüngsten Änderungsvorschlag der EU, könnte er, bei Aufhebung der Fortgeltungsklausel des ECT, ein rasches Ende des ECT-basierten Schutzes fossiler Brennstoffe und der Investitionsschutzbestimmungen unter den zurücktretenden Staaten herbeiführen. Ein koordinierter Rücktritt aller EU-Mitgliedstaaten würde außerdem das vom ECT verursachte Klagerisiko erheblich reduzieren, da 60% der auf dem ECT basierenden Schiedsklagen innerhalb der EU stattfinden. Der Ausstieg der EU-Mitgliedstaaten aus der besonders klimaschädlichen Kohle würde so deutlich vereinfacht und die EU und ihre Mitgliedstaaten wären in der Lage, die selbstgesteckten Klimaziele sowie das EU-Recht einzuhalten, nach welchem innergemeinschaftliche ISDS Verfahren nicht zulässlich sind.

1. Der ECT – ein wachsendes Rechtsrisiko für den Klimaschutz

Der Energiecharta-Vertrag ist ein multilateraler Vertrag, der 1994 unterzeichnet wurde und derzeit 54 Vertragsparteien hat, darunter die EU und EURATOM. Ursprünglich als multilateraler Rahmenvertrag für die Zusammenarbeit im Energiesektor gedacht, ist er heute vor allem wegen der weitreichenden Privilegien bekannt, die er privaten Energieinvestoren gewährt, einschließlich des Zugangs zu sogenannten Investor-Staat-Schiedsverfahren (ISDS).

ISDS Verfahren, die kürzlich auf Grundlage des ECT von Kohlekraftwerksbetreibern eingereicht wurden, verdeutlichen, wie verhängnisvoll diese Privilegien für den staatlichen Klimaschutz sein können. Zuletzt haben die deutschen Unternehmen RWE und Uniper im Jahr 2021 ISDS Schiedsverfahren gegen die Niederlande eingeleitet, um die Entscheidung der niederländischen Regierung zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen bis 2030 anzufechten. Zusammen fordern die beiden Investoren Schadensersatz in Höhe von mehr als 2,4 Milliarden Euro. In der Zwischenzeit hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) bestätigt, dass EU-interne Schiedsgerichtsverfahren auf der Grundlage des ECT nicht mit dem EU-Recht vereinbar sind.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten nehmen seit 2019 an einem breiteren multilateralen Prozess zur “Modernisierung” des ECT teil. In Anerkennung des dringenden Reformbedarfs beabsichtigte die EU zunächst, den Vertrag an die neuen EU-Investitionsstandards und die EU-Klimaziele anzupassen. Es wird jedoch immer deutlicher, dass diese Vorgaben nur schwer zu erreichen sein würden, da jede Änderung des Vertragstextes eine einstimmige Entscheidung aller bei der Energiechartakonferenz anwesenden und wählenden Vertragsstaaten erfordern würde.1) Insbesondere viele Nicht-EU-Vertragsstaaten lehnen signifikante Änderungen ab, sodass es bis heute zu keinem Kompromiss gekommen ist.

2. Zehn Jahre mehr Schutz für fossile Brennstoffinvestitionen?

Um den ECT besser mit den EU-Klimazielen in Einklang zu bringen, hat die Kommission vorgeschlagen, die Investitionsschutzbestimmungen des ECT, einschließlich des Zugangs zur Investitionsschiedsgerichtsbarkeit für bestehende Investitionen in fossile Brennstoffe für weitere zehn Jahre ab Inkrafttreten einer Vertragsänderung weiter gelten zu lassen. Darüber hinaus regt die Kommission an, künftige Investitionen in fossile Brennstoffe ab Inkrafttreten der Vertragsänderung vom Anwendungsbereich der Investitionsbestimmungen des ECT auszuschließen. Dabei enthält der Änderungsvorschlag der EU jedoch eine entscheidende Ausnahme: Investitionen in Erdgas, die vor Ablauf des Jahres 2030 getätigt werden, würden weiterhin vom ECT abgedeckt sein, solange sie unter einem bestimmten Kohlenstoffgrenzwert bleiben. Für Investitionen, welche die Umrüstung von (Kohle-)Kraftwerken für die Verbrennung von Erdgas betreffen, würde dieser Ausschlusstermin sogar auf 2040 verlängert. Wenngleich weitreichender als die Vorschläge anderer ECT-Vertragsstaaten, wird der Vorschlag der EU-Kommission dafür kritisiert, dass er es Unternehmen im Energiesektor ermöglicht, Klimaschutzmaßnahmen in ISDS Schiedsgerichten für weitere 10 Jahre (und in manchen Bereichen gar länger) ab Inkrafttreten einer Vertragsänderung anzufechten.

3. Die Möglichkeit eines Rücktritts und die Fortgeltungsklausel

Da der Änderungsvorschlag der EU klimapolitisch nicht ambitioniert genug ist und eine notwendige Reform in einem angemessenen Zeitrahmen immer unwahrscheinlicher wird, kommt eine weitere Möglichkeit ins Spiel: ein rascher Rücktritt der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Ein solcher ist nach sorgfältiger Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen möglich. Zwar würde er zunächst die sog Fortgeltungsklausel des Vertrags auslösen, die bestehenden Investitionen für einen zusätzlichen Zeitraum von 20 Jahren nach dem Rücktritt weiterhin Schutz gewährt. Die EU und ihre Mitgliedstaaten könnten diese Fortgeltungsklausel jedoch durch eine Modifikation des Vertrags untereinander aufheben.

a) Kein echter Rücktritt möglich? Der Schutz durch die Fortgeltungsklausel

Ein Rücktritt von einem völkerrechtlichen Vertrag kann als ein von einem Staat einseitig eingeleitetes Verfahren zur Beendigung seiner rechtlichen Verpflichtungen aus einem Vertrag verstanden werden.2) Der Rücktritt beendet die Teilnahme der zurücktretenden Partei oder Parteien, ohne jedoch den Vertrag selbst zu beenden; die Bestimmungen des Vertrags verbleiben demnach zwischen den verbleibenden Parteien rechtskräftig.

Gemäß Artikel 54 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK), kann ein Staat von einem völkerrechtlichen Vertrag unter Beachtung der dafür im Vertrag ausdrücklich festgelegten, spezifischen Bedingungen zurücktreten. Im ECT sind diese Bedingungen in Artikel 47 enthalten, der vorsieht, dass eine Vertragspartei jederzeit durch schriftliche Mitteilung an den Depositar vom ECT zurücktreten kann. Der Rücktritt wird ein Jahr nach Eingang der Mitteilung beim Depositar wirksam. Nach dieser Vorschrift kann der Rücktritt unilateral erfolgen oder es können sich mehrere Staaten bei ihrem Rücktritt koordinieren, wie es z. B. bei einem Rücktritt aller EU-Mitgliedstaaten der Fall wäre.

Gleichwohl bedeutet ein Rücktritt nicht, dass auch die Rechte für Investoren unmittelbar auslaufen, denn im Falle eines Rücktritts wird die in Artikel 47(3) enthaltene Fortgeltungsklausel ausgelöst. Nach dieser Klausel gelten bei einem Rücktritt eines oder mehrerer Vertragsstaaten die Investitionsbestimmungen des Vertrages für alle bestehenden Investitionen für weitere 20 Jahre fort. In der Praxis haben Investoren die Fortgeltungsklausel des ECT schon zu diesem Zweck genutzt und Italien nach dessen Rücktritt auf eine Gesamtsumme von 400 Millionen Euro Schadenersatz in Schiedsverfahren verklagt.

Dass Verpflichtungen aus dem ECT gemäß der Fortgeltungsklausel für einen Zeitraum von 20 Jahren weiter gelten, stellt zwar ein großes Risiko für die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens dar. Um dies zu vermeiden, könnten sich die Vertragsstaaten jedoch zunächst darauf einigen, die rechtlichen Auswirkungen der Fortgeltungsklausel im ECT zu „neutralisieren“, d.h. aufzuheben.3)

b) Die Fortgeltungsklausel lässt sich aufheben

Tatsächlich gibt es für die Aufhebung von Fortgeltungsklauseln jedenfalls in bilateralen Investitionsabkommen Präzedenzfälle. In mindestens acht Fällen haben Staaten vereinbart, den Vertrag zunächst zu ändern und diesen erst dann zu kündigen – und auf diese Art eine Fortgeltungsklausel geändert oder aufgehoben.4) Bis heute wurde weder eine Schiedsklage auf eine solche neutralisierte Fortgeltungsklausel gestützt, noch hat sich ein Schiedsgericht mit der wichtigen Frage seiner Zuständigkeit unter solchen Umständen befasst. Es ist daher bereits unklar ob Schiedsgerichte sich in diesem Fall selbst für zuständig erklären würden.. Gleichwohl ist die sich entwickelnde Staatenpraxis ein Indiz dafür, dass eine Aufhebung wirksam wäre, da sie den Willen der Vertragsstaaten zum Ausdruck brächte.

Allerdings unterscheidet sich die Aufhebung einer Fortgeltungsklausel in einem bilateralen Vertrag von der Aufhebung einer solchen Klausel in einem multilateralen Vertrag unter einer Teilgruppe der Vertragsstaaten. Aus völkerrechtlicher Sicht ist eine solche “teilweise Aufhebung” nach den in der WVK enthaltenen, völkerrechtlichen Regeln für die Änderung von Vertragsbestimmungen zu beurteilen. Nach diesen Regeln können ECT-Vertragsstaaten eine Modifikation oder eine sogenannte inter se Übereinkunft aushandeln, um die Wirkung der Fortgeltungsklausel aufzuheben. Im Gegensatz zu einer Änderung, für die der ECT Einstimmigkeit erfordert, läuft eine Modifikation darauf hinaus, “dass bestimmte Vertragsbestimmungen nur zwischen bestimmten Vertragsparteien modifiziert werden, während im Verhältnis zu den anderen Vertragsparteien die ursprünglichen Vertragsbestimmungen anwendbar bleiben.”5)

c) Ein Ausweg: Modifikation statt Änderung

Der ECT sieht eine Modifikation nicht explizit vor, schließt sie aber auch nicht aus. Artikel 16 des ECT sieht zwar vor, dass in Fällen, in denen ECT-Vertragsstaaten auch Vertragsstaaten eines anderen Vertrags mit demselben Vertragsgegenstand sind, die für den Investor günstigste Regelung Vorrang hat. Dies schließt jedoch nicht implizit eine Modifikation des ECT zur Abschaffung des ECT-basierten EU-internen Investitionsschutzes aus. Denn Artikel 16 des ECT betrifft das Verhältnis parallel existierender Investitionsabkommen im Sinne von Artikel 30 WVK – und gemäß Artikel 30 § 5 der WVK gelten die Vorschriften über den Vorrang zwischen nebeneinander bestehenden Verträgen unbeschadet des Modifikationsrechts.

Da der Text des ECT Modifikation nicht ausdrücklich erwähnt, wird diese daher durch die Standardregel in Artikel 41 des WVK geregelt, welche vorsieht, dass “[z]wei oder mehr Vertragsparteien eines mehrseitigen Vertrags […] eine Übereinkunft schließen [können], um den Vertrag ausschließlich im Verhältnis zueinander zu modifizieren.” Die Modifikation unterliegt zwei Bedingungen, die darauf abzielen, die grundlegende Integrität des ursprünglichen Vertragsregimes zu wahren.

d) Die Rechte von Drittparteien bleiben gewahrt

Eine Modifikation des ECT zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten würde die erste Bedingung, den Schutz der Rechte von Drittparteien, erfüllen. Nach Artikel 41 (b)(i) der WVK dürfen durch die Modifikation “die anderen Vertragsparteien in dem Genuss ihrer Rechte auf Grund des Vertrags oder in der Erfüllung ihrer Pflichten nicht beeinträchtigt” werden. Eine solche Beeinträchtigung der Rechte von Drittparteien liegt nur dann vor, wenn die zu modifizierenden Vertragsrechte und -pflichten alle Vertragsparteien betreffen (sogenannte erga omnes-Regeln). Handelt es sich jedoch um einen multilateralen Vertrag reziproker Natur, wäre eine inter se Modifikation grundsätzlich folgenlos für die Rechte von Drittparteien.6) Ein multilateraler Vertrag ist dann reziproker Natur, wenn die Vertragsstaaten sich zu einem wechselseitigen Austausch von Vorteilen mit jedem einzelnen anderen Vertragsstaat, nicht jedoch mit allen Vertragsstaaten gemeinsam verpflichten.7)

Wie aus den Travaux Préparatoires hervorgeht, wurde der ECT als sogenannter “package deal” abgeschlossen, der aus einem Bündel reziproker Verpflichtungen besteht.8) Die im ECT enthaltenen Investitionsbestimmungen sind daher keine Verpflichtungen erga omnes. Dies wird auch durch einen Blick auf die praktische Anwendung dieser Bestimmungen deutlich: Im Falle von Handlungen des Aufnahmestaats A, welche die Rechte eines Investors aus dem Heimatstaat B, der im Gebiet des Aufnahmestaats A investiert hat, verletzen, sind laut ECT nur dieser Investor oder der Heimatstaat B klagebefugt.9) Daraus folgt, dass die ausschlaggebenden Rechte und Pflichten aus dem ECT reziproker Natur sind. Eine inter se Modifikation mit dem Ziel der Aufhebung der Fortgeltungsklausel nur unter den beteiligten Vertragsparteien würde daher entsprechend der ersten Voraussetzung in Artikel 41(b)(i) WVK die Rechte anderer Vertragsparteien nicht beeinträchtigen.

e) Ziel und Zweck des Vertrages bleiben gewahrt

Eine inter se Modifikation würde auch die zweite Bedingung, die Wahrung von Ziel und Zweck des ECT, erfüllen. Gemäß WVK darf sich eine solche Modifikation nicht auf eine Bestimmung beziehen, “von der abzuweichen mit der vollen Verwirklichung von Ziel und Zweck des gesamten Vertrags unvereinbar ist.” Diese Bedingung wird weithin als der ersten Bedingung wesentlich ähnlich angesehen.10) Die Travaux Préparatoires der Völkerrechtskommission für die WVK schlagen darüber hinaus vor, dass eine inter se Modifikation, die nur bilaterale Verpflichtungen modifiziert, zulässig sein sollte. In diesem