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16 Juli 2012

Der Gesetzgeber ist gefordert! Ein Vorschlag zur Regelung der Zirkumzision im „Gesetz über die religiöse Kindererziehung“

Die Entscheidung des LG Köln vom 07.05.2012 in der Rechtssache Wa. 151 Ns 169/11 hat im In- und Ausland ein lebhaftes Echo gefunden [Auf dem Verfassungsblog kommentierten bislang Maximilian Steinbeis, Hans Michael Heinig und Georg Neureither, A.K.]. Deutschland droht nicht weniger als ein veritabler Kulturkampf. Die Zukunft des jüdischen Lebens in Deutschland ist ernsthaft bedroht – nachdem man mit der gezielten Zuwanderung von Juden aus den ehemaligen GUS-Staaten und den damit verbunden erheblichen Integrationsanstrengungen doch gerade diese Zukunft staatlicherseits sichern wollte. Doch auch die Muslime in Deutschland erleben die Entscheidung des Gerichts, vielleicht aber noch mehr die anschließende medial ausgetragene Auseinandersetzung als eine Sarrazinisierung der öffentlichen Meinung in Deutschland und fragen sich, ob die lange Phase weitgerühmter Religionsfreiheitlichkeit und Religionsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung tempi passati sind.

Der Bundesaußenminister hat die (außen)politische Brisanz des Kölner Gerichtsurteils früh erkannt und erklärt, dass die Entscheidung nicht das letzte Wort in der Sache sein könne. Mit einiger Verzögerung haben sich dann auch anderen Protagonisten aus den politischen Eliten positioniert. Die Bundesregierung, aber auch die Fraktionsspitzen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich inzwischen dafür ausgesprochen, schnell Rechtssicherheit zugunsten der Juden und Muslime in unserem Land zu schaffen, gegebenenfalls durch eine gesetzgeberische Klarstellung. Seitdem werden unterschiedlichste Ansätze für legislatives Handeln diskutiert, u.a. eine Ergänzung des Patientienrechtegesetzes. Dabei wird übersehen, dass es seit den 1920er Jahren bereits ein unmittelbar einschlägiges Gesetzeswerk gibt: Das Gesetz über die religiöse Kindererziehung. Es regelt u.a. Konflikte zwischen den Eltern in rebus religionis, trifft Anordnungen für den Fall der Pflegschaft oder Vormundschaft und bestimmt die Religionsmündigkeit Heranwachsender.

Dieses Gesetz könnte man wie folgt ergänzen:

 „§ 3a

Die elterliche Sorgeberechtigung in religiösen Angelegenheiten umfasst auch die Einwilligung in eine von medizinisch qualifiziertem Personal de lege artis durchgeführte Zirkumzision, wenn eine solche nach dem religiösen Selbstverständnis der Sorgeberechtigten zwingend geboten ist. Im Falle einer Vormundschaft oder Pflegschaft findet § 3 Abs. 2 Anwendung.“

Die vorgeschlagene gesetzgeberische Klarstellung erfüllt drei Ziele:

–         Eine solche Regelung schafft Rechtssicherheit und verhilft der elterlichen Freiheit, über die religiöse Beheimatung ihrer Kinder zu entscheiden, zur effektiven Entfaltung. Mit der ausdrücklichen Zuweisung der Entscheidung zum Bereich der elterlichen Sorgeberechtigung wird seitens des Gesetzgebers verdeutlicht, dass die Eltern rechtswirksam, d.h. die strafrechtliche Rechtswidrigkeit ausschließend, in die Zirkumzision einwilligen können.

–         Eine solche Regelung entspricht der staatlichen Schutzpflicht für das gewichtige Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit. Deshalb wird nur die klassische Zirkumzision, d.h. die Beschneidung bei männlichen Personen, als relativ geringfügiger Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von der Klarstellung erfasst. Die Genitalverstümmelung bei Mädchen oder andere gravierende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte bleiben selbstredend strafbar. Zudem wird die Klarstellung an die Bedingung geknüpft, dass die Beschneidung von medizinisch qualifiziertem Personal de lege artis durchgeführt wird.

–         Schließlich sollte eine gesetzgeberische Regelung auf Fälle beschränkt werden, in denen ein staatliches Verbot der Beschneidung zu einem ernsthaften Gewissenskonflikt der Eltern führen würden. Soweit die Beschneidung bloßer Ausdruck von Brauchtum und nicht Ausfluss des als zwingend erlebten religiösen Selbstverständnisses, kann der Gesetzgeber entscheiden, dass das Elterninteresse zurückzustehen hat. Im Zweifelsfall ist das religiöse Selbstverständnis zu plausibilisieren.

Den jüdischen Eltern in Deutschland läuft die Zeit davon – für das Judentum ist eine Beschneidung acht Tage nach der Geburt in der Tradition von Gen 17,12 religiös zwingend geboten. Für die Muslime in Deutschland ist der Zeitdruck mangels fester Altersgrenzen bei der Zirkumzision nicht ganz so gravierend, die Frage, ob man als Muslim, als Muslima (mit den identitätskonstituierenden religiösen Überlieferungen) „zu Deutschland gehört“ aber ähnlich drängend. Der Gesetzgeber ist deshalb aufgefordert, zeitnah und sachgerecht eine gesetzliche Klarstellung zu verabschieden. Das Gesetz über die religiöse Kindererziehung ist dafür der richtige systematische Ort.

Hans Michael Heinig ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insb. Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Georg-August-Universität Göttingen und leitet im Nebenamt das Kirchenrechtliche Institut der EKD.


SUGGESTED CITATION  Heinig, Hans Michael: Der Gesetzgeber ist gefordert! Ein Vorschlag zur Regelung der Zirkumzision im „Gesetz über die religiöse Kindererziehung“, VerfBlog, 2012/7/16, https://verfassungsblog.de/der-gesetzgeber-ist-gefordert-ein-vorschlag-zur-regelung-der-zirkumzision-im-gesetz-ber-die-religise-kindererziehung/, DOI: 10.17176/20171121-180710.

41 Comments

  1. Muriel Mo 16 Jul 2012 at 18:34 - Reply

    Wen wird’s wundern, ich hätte mit dem Vorschlag ein Problem.
    Aber wahrscheinlich ist das nicht der Ort, um grundlegend über die Frage zu diskutieren, warum Religion Sonderrechte verleihen sollte.
    Es ist in unserer Rechtsordnung ja nun mal so angelegt.
    Ich würde darüber hinaus aber auch bezweifeln, dass der Gesetzgeber überhaupt in der Lage ist (bzw. sein sollte), mittels eines sprichwörtlichen Federstriches das Abschneiden von Körperteilen bestimmter Menschen gewissermaßen einfach vom Strafrecht auszunehmen, auch noch ohne stichhaltige Begrüdnung für einen Sonderfall, einfach weil es schon so lange üblich ist. Als Verfassungsgericht würde ich das nicht zulassen, aber vielleicht ist unter anderem deshalb auch gut so, dass ich in keinem Verfassungsgericht sitze.

  2. Muriel Mo 16 Jul 2012 at 18:45 - Reply

    Bitte um Verzeihung wegen des doppelten Kommentars. Nächstes Mal denke ich vorher zu Ende.
    Mich würde interessieren, wie die anwesenden Befürworter der Zulässigkeit von Beschneidung ganz allgemein ihre Kriterien dafür beschreiben würden, wann Menschen Teile von anderen Menschen abschneiden dürfen sollten.
    Das ist ja das eigentliche Thema, und ich glaube, dass mindestens mir eine Antwort helfen würde, diese Position besser zu verstehen.

  3. neukoellner Mo 16 Jul 2012 at 19:20 - Reply

    @Muriel
    Es ist ganz allgemein so, dass u.U. „Menschen Teile von anderen Menschen“ abschneiden dürfen, z. B. beim Friseur. Nämlich dann, wenn eine wirksame Einwilligung vorliegt. Es geht daher bei dem Vorschlag von Heinig darum, die Wirksamkeit der Einwilligung (durch die Eltern) klarzustellen.

  4. Christian Mo 16 Jul 2012 at 19:25 - Reply

    Ein guter Vorschlag am richtigen sedes materiae. Lediglich das Wort „zwingend“ sollte gestrichen werden, da ansonsten wieder (religiös „unmusikalische“) Staatsanwaltschaften und Gerichte dazu eingeladen werden, das ihnen gegebene Ermessen zu erweitern und unzulässig in das Elternrecht und die Religionsfreiheit einzugreifen.

  5. Muriel Mo 16 Jul 2012 at 19:26 - Reply

    @neukoellner: Ja gut, das ist mir schon klar.
    Aber die Einwilligung der Eltern ist nicht die des Kindes.
    Auch wenn die Eltern einwilligen, darf kein Arzt einfach den kleinen Finger eines Neugeborenen abschneiden.
    Ich verstehe schon, wofür der Gesetzvorschlag gut ist. Ich wüsste nur gerne, aus welchem allgemeinen Prinzip er sich aus Sicht seiner Befürworter rechtfertigt.
    Für dich könnte ich die Frage dann so umformulieren: Allgemein formuliert, unter welchen Umständen ist die Einwilligung der Eltern in das Abschneiden eines Teils ihres Kindes wirksam?

  6. Malte S. Mo 16 Jul 2012 at 19:33 - Reply

    @neukoellner: Und nun bitte die Erklärung, warum diese Einwilligung wirksam sein sollte. Immerhin bewirkt sie einen generellen, vom Willen des betroffenen (im Übrigen auch bei 8-12 jährigen Muslimen) Vorrang der Religionsfreiheit der Eltern vor der körperlichen Unversehrtheit des Betroffenen.

    Schon in dem Vorschlag wird deutlich, dass der Betroffene zum Objekt der Religionsausübung werden soll. Das ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.

    Der Vorschlag ist im Weiteren auch unausgereift. Denn er bezieht die – erst im Nachhinein feststellbare – ordnungsgemäße Ausführung der Bescheidung in die Voraussetzung der Einwilligung ein. Diese muss aber zwingend vollständig vor der Beschneidung vorliegen. Das wird auch aus der Wortwahl deutlich. Der Vorschlag stellt auf die „durchgeführte“ und nicht die „durchzuführende“ Zirkumzision ab.

    Bis heute keine Argumente außer „haben wir schon immer so gemacht“ gefunden. Das ist kein starkes Argument.

  7. Stormking Mo 16 Jul 2012 at 19:49 - Reply

    Der Vorschlag und alle vergleichbaren Vorschläge ist scharf abzulehnen. Religiöse Gruppen dürfen keine derartigen Sonderrechte eingeräumt bekommen. Auch dann nicht, wenn einer dieser Gruppen in der Vergangenheit in diesem Land unbegreiflich großes Unrecht angetan wurde.

    Und für den Vergleich mit dem Haareschneiden hat sich der „neukoellner“ eigentlich eine Schelle verdient, so dumm ist der Einwurf. Haare wachsen nach, Vorhäute eher selten.

  8. […] […]

  9. neukoellner Mo 16 Jul 2012 at 22:10 - Reply

    @Muriel, Malte S.
    Ich würde sagen, die Einwilligung ist in der Regel wirksam, wenn sie nicht gegen die guten Sitten stößt (was z.B bei dem Fingerbeispiel der Fall wäre). Zudem gibt es natürlich das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. (Das zwar nicht die Eltern unmittelbar bindet, aber den Staat, was wohl keinen Unterchied macht). Auf der anderen Seite stehen aber ebenfalls Grundrechte (Art. 4, 6). Es ist nun nicht so, dass etwa der Religionsausübungsfreiheit hier von vornherein der Vorrang einzuräumen wäre. Aber dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit doch wohl auch nicht.
    Ich gabe ja zu, dass man diesen Grundrechtsfall auch zugunsten von Art. 2 II entscheiden kann, aber zwingend ist das keinesfalls. Warum also nicht mal in die restliche Welt schauen, und feststellen, dass wir mehr oder weniger das einzige Land wären, in dem diese Praxis bei Strafe verboten ist? Muss es das wirklich sein? Sind die anderen wirklich alle Geisterfahrer?
    @Stormking
    Dein Gepöbel wäre etwas souveräner, wenn Du mich wenigstens verstanden hättest.

  10. Andreas Moser Mo 16 Jul 2012 at 22:18 - Reply

    Die Religionsfreiheit von A und B kann diese niemals zur Körperverletzung von C berechtigen. Daß C das Kind von A und B ist, ist meiner Meinung nach dabei unerheblich. Art. 6 II GG schützt das Recht der Eltern zur “Pflege und Erziehung der Kinder”. Unter keine dieser Alternativen halte ich das medizinisch nicht notwendige Abtrennen von Körperteilen für subsumtionsfähig.

  11. turtle of doom Mo 16 Jul 2012 at 23:00 - Reply

    @ neuköllner:

    „Ich würde sagen, die Einwilligung ist in der Regel wirksam, wenn sie nicht gegen die guten Sitten stößt“

    An einem acht Tage alten Kind aus religiösen Gründen herumzuschnippeln verstösst vehement gegen das sittliche Gefühl – und zwar nicht nur gegen meines. Ist die Sache jetzt geklärt?

    Auf das Sittlichkeitsbefinden abzustellen war schon immer gefährlich.

    Zum Gesetzesvorschlag: Er ist leider nicht akzeptabel, da es förmlich nach einem Ju