Desinformieren und interpretieren: Was Maaßen sagen durfte und was nicht
In politischen Auseinandersetzungen geht es immer auch um die Deutungshoheit über Vorgänge und Ereignisse und damit um Begriffe. Das lässt sich zurzeit am Begriff der ,Hetzjagd’ beobachten, wenn es um die Vorgänge in Chemnitz und die Äußerungen des Noch-Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen geht. (Laut Presseberichten will die Kanzlerin Maaßen seines Amtes entheben, was aufgrund des Ressortprinzips allerdings Bundesinnenminister und CSU-Chef Horst Seehofer zunächst obliegen würde.) Die Kanzlerin und der Regierungssprecher haben den Begriff ,Hetzjagd’ verwendet. Die Chemnitzer Freie Presse hat ausführlich begründet, warum sie ihn nicht benutzt. Auch der sächsische Ministerpräsident hat davon Abstand genommen, was wiederum als Distanzierung von der Position der Kanzlerin gewertet wurde. In dem internen Einsatzbericht der Chemnitzer Polizei zur Lage am 27. August heißt es: „100 vermummte Personen (rechts) suchen Ausländer“. Man kann das sicherlich als Hetzjagd bezeichnen. Oder auch nicht, wenn man den Ausdruck für höhere Eskalationsstufen reservieren will. Der Begriff hat keine sonderlich klaren Konturen und ist kein Rechtsbegriff. An seiner Verwendung hängt zunächst nicht besonders viel. Allerdings bündeln sich in der Auseinandersetzung um den Begriff ganz unterschiedliche Wahrnehmungen der Qualität der Proteste, des Ausmaßes der Gewalt, des Rechtsradikalismus in Deutschland, des Zustands der Republik usw. Das machte sie zu einer emotional aufgeladenen und hochpolitisierten Angelegenheit.
Was in dieser Situation wahrscheinlich niemand vermisst hätte, sind Einlassungen des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Man hätte auch nicht damit gerechnet. Der Amtsinhaber kann sich nach dem Bekanntwerden seiner Treffen mit AfD-Vertretern über fehlende Aufmerksamkeit nicht beklagen. Seine Äußerungen in der Boulevardpresse, der anschließende Bericht an das Innenministerium und der Auftritt vor den Kontrollgremien des Parlaments sind in der Zwischenzeit selbst zu einem politischen Ereignis geworden, das sich im medialen Aufmerksamkeitszyklus weit nach vorne geschoben und die verschiedensten Deutungen provoziert. Die abschließende politische Bewertung dieses Vorgangs dauert noch an. Aus rechtlicher Perspektive verstoßen die Äußerungen gegen elementare Anforderungen an behördliches Informationshandeln.
Richtigkeit, Sachlichkeit, Neutralität
Staatliche Stellen haben, wenn sie sich öffentlich äußern, anders als Privatpersonen, die sich auf die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit berufen können, bestimmte Standards der Kommunikation einzuhalten. Zu den elementaren Rechtmäßigkeitsanforderungen gehört, dass sie sich im Rahmen ihres Aufgaben- und Zuständigkeitsbereichs bewegen, dass die Informationen inhaltlich richtig sind und sachlich gehalten werden. Das BVerfG hat diese Anforderungen zunächst mit Blick auf Werbekampagnen der Bundesregierung formuliert und sie dann für staatliche Warnungen und einzelne Äußerungen von Regierungsmitgliedern konkretisiert. Im Hintergrund steht das Leitbild einer freien und offenen politischen Meinungs- und Willensbildung. Für das Äußerungsrecht bedeutet dies, dass Vertreter von Regierung und Verwaltung, sofern sie sich nicht als Privatpersonen äußern, sondern die Autorität des Amtes in Anspruch nehmen, ihre Ausführungen auf zutreffende Tatsachenbehauptungen stützen müssen. Außerdem dürfen die Dinge nicht unnötig dramatisiert oder zugespitzt werden. So ist symbolisches Handeln, insbesondere wenn Grundrechtspositionen beschränkt werden, nur in engen Grenzen möglich. Daher kann ein Bürgermeister nicht einfach während einer Versammlung das Licht ausschalten, um damit zum Ausdruck zu bringen, was er von der Demonstration hält.
Die Gebote der Richtigkeit und Sachlichkeit schließen wertende Aussagen und politische Stellungnahmen nicht aus. Allerdings bestehen hier besondere Anforderungen. Sie unterscheiden sich nach Art des Amtes sowie des Gegenstandsbereichs. Regierungsämter (wie auch Leitungspositionen auf kommunaler Ebene) haben eine politische Dimension. Das Gebot der Sachlichkeit ist hier kein Gebot politischer Enthaltsamkeit und kann es auch nicht sein. Die Regierung muss sich mit kritischen Einwänden zu ihrer Politik auseinandersetzen können. Sie kann und muss sich zu politischen Prozessen verhalten und diese bewerten und einordnen. Es liegt daher im politischen Ermessen der Bundesregierung, die Vorgänge in Chemnitz als „Hetzjagd“ zu qualifizieren und sich entsprechend zu äußern. Genauso liegt es im politischen Ermessen des sächsischen Ministerpräsidenten, dies anders zu sehen.
Über die Sachlichkeitsanforderungen hinaus haben Regierungsmitglieder Standards der Neutralität zu wahren, wenn besondere Neutralitätsgebote des GG berührt sind. Dies gilt wegen Art. 4 Abs. 1 GG für den religiös-weltanschaulichen Bereich. Dies gilt wegen Art. 21 GG auch im Hinblick auf politische Parteien (nicht ohne Weiteres gegenüber politischen Gruppierungen, denen kein Parteienstatus zukommt). So kann eine Bundesministerin nicht die Homepage des Ministeriums nutzen, um der AfD die „rote Karte“ zu zeigen. Für Äußerungen des Bundespräsidenten gelten aufgrund seiner Stellung im Verfassungsgefüge andere Maßstäbe als für Mitglieder der Bundesregierung.
Die politischen Äußerungsrechte von Regierung und Regierungsmitgliedern sowie, mit etwas anderen Konturen, des Bundespräsidenten stehen nachgeordneten Behörden wie dem Verfassungsschutz von vornherein nicht zu. Da es sich hier nicht um politisch geprägte Ämter handelt, haben sie gegenüber den Zielen und Aktivitäten politischer Parteien und gesellschaftlicher Gruppen Distanz zu halten. Politische Neutralität gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG. Dies gilt insbesondere für die Polizei, die Nachrichtendienste, den Verfassungsschutz.
Daher kann das BfV wie jede andere Behörde die Öffentlichkeit informieren. Sofern die Informationen, wie bei den Äußerungen des Verfassungsschutzpräsidenten zu Chemnitz der Fall, nicht mit einem Grundrechtseingriff verbunden sind, ist dazu keine besondere Ermächtigungsgrundlage erforderlich. Sie müssen sich allerdings im Rahmen der zugewiesenen Aufgaben (vgl. §§ 3, 16 BVerfSchG) halten. Zu diesen zählt vor allem die Aufklärung der Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Bestrebungen. Allgemein gehaltene Ausführungen zur Gefährdung der Demokratie durch Desinformationskampagnen mögen davon umfasst sein. Im Rahmen von Verfassungsschutzberichten sind auch Werturteile grundsätzlich zulässig, sofern sie im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Pflicht zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. Politische Bewertungen und Positionierungen in parteipolitischen Konflikten, solange sie sich erkennbar auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen, gehören nicht dazu. Die Äußerungen in der Bild-Zeitung, die den BfV-Präsidenten in der letzten Woche zu einer umfangreichen Selbstinterpretation genötigt haben, unterlaufen daher die Standards der Richtigkeit und der Neutralität – welche der verschiedenen Deutungsmöglichkeiten man auch zugrunde legt.
„Gute Gründe“ für eine „gezielte Falschinformation“?
Das Gebot der inhaltlichen Richtigkeit gilt für den Tatsachenkern der Äußerungen. Gegenüber der Bild-Zeitung sagte Maaßen, er teile die Skepsis gegenüber den Medienberichten. Dem Verfassungsschutz lägen „keine belastbaren Informationen“ für rechtsextremistische Hetzjagden in Chemnitz vor. Diese Skepsis erläuterte er mit Hinweis auf ein im Internet geteiltes und wohl auch im TV gezeigtes Video. Dazu Maaßen wörtlich: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Weiter: „Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken.“ Dass das Video, das Straßenszenen in Chemnitz zeigen soll, nicht „authentisch“ ist, dass es sich bei dem „angeblichen Vorfall“ um eine „gezielte Falschinformation“ handeln soll, konnte sinnvoll nur so verstanden werden, dass der Verfassungsschutz Belege oder zumindest sehr starke Indizien („gute Gründe“) dafür hat, dass sich der Vorfall in der dargestellten Weise nicht in Chemnitz ereignet hat, vielleicht weil sich die Szenen nicht in Chemnitz abgespielt haben oder jedenfalls nicht zu dem für die Presseberichterstattung maßgeblichen Zeitpunkt, kurz: dass es sich bei der Information um das handelt, was man landläufig als „fake news“ bezeichnet. Das ist eine Tatsachenbehauptung mit erheblichen politischen Implikationen. Denn es hätte bedeutet, dass Teile der Presse sowie Regierungssprecher und Kanzlerin die Ereignisse vorschnell und falsch eingeordnet hätten, weil sie einer gezielten Falschinformation auf den Leim gegangen wären oder vielleicht sogar aus billigem politischem Kalkül heraus.
Den Äußerungen des Verfassungsschutzpräsidenten musste in dieser Situation ein besonderes Gewicht beigemessen werden. In den Auseinandersetzungen über Chemnitz gab es Unsicherheiten über die Nachrichtenlage. Der Vorwurf der gezielten Desinformation, der Manipulation von Bildern etc. wurde von verschiedensten Seiten erhoben. Dazu gehörten Spekulationen über einen weiteren Todesfall oder die Vermutung, die Hitlergruß-Zeiger seien nicht Rechtsextreme, sondern von linken Gegendemonstranten oder „den Medien“ eingeschleuste Provokateure. In einer Situation, in der die wildesten Verschwörungstheorien blühen, in der über die Echtheit von Videos, von Pressemeldungen, von im Netz kursierenden Bildern spekuliert wird, haben die staatlichen Institution eine besondere Verantwortung für ihre Kommunikation. Das gilt in besonderem Maß für das BfV, das u. a. die Möglichkeit zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel hat und über Informationen verfügt, über die die allgemeine Öffentlichkeit nicht verfügt.
Das Gebot der inhaltlichen Richtigkeit bedeutet dabei nicht, dass sich staatliche Akteure nur dann äußern dürften, wenn die Richtigkeit ihrer Behauptungen annähernd feststeht. Politische oder behördliche Informationen können auch erforderlich sein, wenn die Tatsachenlage unklar ist. Das Gebot der Richtigkeit des Informationshandelns verlangt allerdings, dass auch Vermutungen eine sachliche Grundlage haben, Herr Maaßen also tatsächlich „gute Gründe“ für seine Behauptung hatte, das Video sei eine „gezielte Falschinformation“. Wie sich herausstellte, war dies nicht der Fall.
Kein politisches Mandat
Das BMI als Dienstherr tat in dieser Situation, was es tun musste, und forderte von der nachgeordneten Behörde einen Bericht ein, um sich den Vorgang näher erläutern zu lassen. Als sich abzeichnete, dass der Präsident des BfV trotz intensiver Suche seines Hauses (die scheinbar erst nach dem Interview einsetzte) keinerlei Belege für seine Behauptungen würde vorweisen können, begann ein nach den Regeln der Staatskunst geführtes Rückzugsgefecht. Zunächst wurde intensiv an einem neuen Narrativ gestrickt. In seinem Bericht, den er am vergangenen Mittwoch im Parlamentarischen Kontrollgremien und im Innenausschuss des BT erläuterte, gab Maaßen an, er habe gar nicht in Zweifel ziehen wollen, dass sich die Sequenz, so wie sie auf dem Video zu sehen ist, auch in Chemnitz ereignet hätte. Seine Äußerung, das Video sei nicht „authentisch“, habe sich darauf bezogen, dass die Szene keine „Hetzjagd“ zeige. Zu einer derart starken Wertung gebe das Material keinen Anlass. Politik und Presse müssten vorsichtiger urteilen und dürften sich nicht ohne Weiteres auf Videomaterial verlassen, das ein fragwürdiger Nutzer unter Pseudonym („Antifa Zeckenbiss“) ins Internet stelle.
Seine Einlassungen in der Boulevardpresse wollte der Verfassungsschutzpräsident im Nachhinein also als Mahnung zu verantwortungsvoller politischer Kommunikation und gewissenhafter Prüfung der Informationsquellen verstanden wissen. Mit diesem rasanten Wendemanöver konnte Maaßen zwar dem Einwand begegnen, auf unzureichender Tatsachenbasis die Öffentlichkeit informiert zu haben („gute Gründe“, wo gar keine sind). Allerdings musste er sich damit auf das für einen Verfassungsschutzpräsidenten nicht weniger problematische Feld der politischen Wertungen begeben.
Der Bundesinnenminister, sichtlich um politische Rückendeckung für Maaßen bemüht, hatte zuvor in einem Fernsehinterview schon den Weg dorthin vorgezeichnet, als er erklärte, in seinem Geschäftsbereich „keine Meinungen unterdrücken“ zu wollen. Maaßen habe die Befugnis gehabt, sich zu äußern, trage aber für Art und Weise und Inhalt seiner Äußerungen die Verantwortung. Dies sollte Rückendeckung für die politische Positionierung des BfV-Präsidenten bedeuten, ohne sich als Minister damit gänzlich identifizieren zu müssen. Diese doppelte Strategie konnte man auch bei den Auftritten Maaßens im Bundestag beobachten, zu denen der Innenminister ihn demonstrativ begleitete, um einerseits zu unterstützen und sich andererseits den Auftritt etwas genauer anzuschauen und anschließend wohlwollend kritisch zu kommentieren.
Äußerungsrechtlich kommt dieses Spiel von Nähe und Distanz allerdings schnell an Grenzen. Der Präsident des BfV, sofern er sich nicht als Privatperson äußert (was er hier nicht getan hat), kann sich für seine Verlautbarungen in der Presse nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. Es ist im Ausgangspunkt eine Frage des politischen Stils, der politisch verantwortet werden muss, welche kommunikativen Freiheiten einer nachgeordneten Behörde eingeräumt werden. Dazu gehört nicht nur die Bereitschaft, sich in der Presse zitieren zu lassen, sondern etwa auch der Gebrauch der sozialen Medien, den der Innenminister und das Bundesamt für Verfassungsschutz, das seit Juli 2018 einen offiziellen Twitter-Kanal unterhält, nun scheinbar gemeinsam für sich entdeckt haben. Der Innenminister kann aber den Präsidenten des BfV nicht nach Belieben zum politischen Mitstreiter befördern. Äußerungsrechtlich ist der Verfassungsschutzpräsident auf die Optionen beschränkt, die ihm sein Amt eröffnet und damit zugleich verschließt. Da es keine politische Prägung hat, kann sich sein Präsident auch nicht tagespolitisch äußern. Tut er es dennoch, handelt er nicht nur politisch unklug, sondern verletzt auch den Grundsatz der Neutralität.
Durch einen Redigierfehler der Redaktion enthielt eine frühere Version dieses Textes fälschlich die Aussage, weder Kanzlerin noch Regierungssprecher hätten den Begriff “Hetzjagd” verwendet. Das Manuskript des Autors war insoweit korrekt, der Fehler geht auf unsere Kappe, wir bitten um Entschuldigung. D.Red.
31 Comments