Deutschland und die Flüchtlinge: zwischen Scylla und Charybdis
Wie geht es weiter mit der deutschen Flüchtlingspolitik? Geboten ist jetzt eine nachhaltige Senkung der Flüchtlingszahlen, vor allem, damit die Integration jener gelingt, die bereits hier sind und dauerhaft bleiben werden. Dies ist eine vordringliche staatliche Aufgabe. Es geht um die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Rechts- und Sozialstaats, der allen Menschen, die in Deutschland leben, eine Chance auf ein gutes Leben einräumen möchte und Sicherheit gewährleistet.
Gleichzeitig ist Deutschland – so steht es ebenfalls im GG – Teil der Europäischen Union. Dazu gehören auch gemeinsame Regeln, nach denen Schutzsuchenden in der EU, die vor individueller Verfolgung und Krieg fliehen, Schutz gewährt wird. Diese europäischen Regelungen überlagern heute das deutsche Asylrecht im Grundgesetz, das in der Praxis kaum mehr eine Rolle spielt. Die Maßstäbe für das Asylrecht liegen danach heute vor allen Dingen im europäischen Recht.
Dieses sagt nun nicht, dass die EU verpflichtet wäre, allen Menschen, die etwa vor Krieg fliehen, Schutz zu gewähren, jedenfalls dann nicht, wenn diese bereits in Drittstaaten Schutz gefunden haben. Die Alternative einer nachhaltigen Flüchtlingspolitik lautet aber gleichwohl nicht: offene Grenzen für alle einerseits oder Abschottung andererseits.
Drei Dinge sind zu tun: 1. Drittstaaten wie die Türkei unterstützen, die Kriegsflüchtlingen Schutz gewähren, damit dort menschenwürdige Lebensbedingungen herrschen. 2. Humanitäre (und damit begrenzte) Aufnahmekontingente auflegen, über die Kriegsflüchtlinge in die EU aufgenommen verteilt werden, unter Beteiligung möglichst vieler EU-Mitgliedstaaten. 3. EU-Außengrenzen wirksam schützen, denn solche Aufnahmeprogramme funktionieren nur, wenn der individuelle Zuzug von Flüchtlingen, die aus sicheren Drittstaaten in die EU kommen, reduziert wird.
Wie kann eine solche Flüchtlingspolitik, die auch für künftige Krisen gewappnet ist, umgesetzt werden? Die Bundesregierung setzt hier noch auf die europäische Karte. Das ist richtig. Denn in dieser Krise darf das Motto nicht lauten: weniger Europa, sondern mehr Europa. Anzustreben wäre sogar eine echte Europäisierung des Grenzschutzes wie auch der Prüfung von Asylanträgen an der EU-Außengrenze, um eine effektive und gleichmäßige Durchsetzung der europäischen Regelungen zu gewährleisten. Solange solche weitgehenden Lösungen nicht umsetzbar sind, müssen Zwischenschritte gegangen werden, die auch bereits in Vorbereitung sind. Hierzu gehört eine Stärkung der Grenzschutzagentur Frontex und die Einrichtung von so genannten Hotspots, in denen mit EU-Unterstützung Flüchtlinge registriert, ggf. zurückgeführt oder in die EU weiterverteilt werden.
Dies zu verwirklichen, liegt nicht allein in der Hand Deutschlands. Die Gespräche mit der Türkei sind schwierig; das Gemeinsame Europäische Asylsystem erweist sich als Fiktion, und die Bereitschaft der EU-Staaten, gemeinsame Lösungen zu suchen, ist zur Zeit nicht erkennbar. Die Staaten an den Außengrenzen, namentlich Griechenland, sind mit der Erfüllung ihrer Dublin-Pflichten überfordert. Bislang reist das Gros der Flüchtlinge von Griechenland über die Balkanroute weiter, vor allen Dingen nach Deutschland. Hier beantragen sie Asyl. Entsprechend der Dublin-Verordnung wird nun zunächst geprüft, ob Deutschland selbst bzw. welcher EU-Staat für das Asylverfahren zuständig ist. Besteht keine deutsche Zuständigkeit, ist der Flüchtling zurück zu überstellen in den zuständigen Staat, der das Asylverfahren und bei Ablehnung des Schutzgesuchs die Rückführung durchführen muss.
So der rechtliche Idealfall. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Rücküberstellungen nach Griechenland, das als Erstankunftsstaat nach dem Dublin-System für die meisten Flüchtlinge zuständig wäre, die Deutschland erreichen, scheitern daran, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Asylverfahren und Aufnahmebedingungen dort derart mangelhaft sind, dass eine menschenrechtlich gebotene Behandlung nicht gewährleistet ist. Griechenland fällt damit als Asylstaat aus, und Deutschland wird zuständig. Auch Überstellungen in andere EU-Staaten, darunter sogar nach Italien, werden von deutschen Gerichten immer wieder untersagt unter Hinweis auf menschenrechtliche Defizite. Aber selbst wenn Rücküberstellungen rechtlich möglich sind, funktionieren sie in der Praxis oft nicht. Und auch dies geht zu Lasten des Staates, in dem der Asylantrag gestellt wurde, der nach Ablauf der Rücküberstellungsfristen zuständig wird.
Angesichts dieser Rechtswirklichkeit hat Deutschland im August 2015 in Wahrnehmung des ebenfalls in der Dublin-Verordnung vorgesehenen Selbsteintrittsrechts entschieden, bei Syrienflüchtlingen das – regelmäßig aussichtslose oder unzulässige – Rücküberstellungsverfahren auszusetzen und das Asylverfahren selbst durchzuführen. Hiermit folgte sie auch einer entsprechenden Empfehlung der EU-Kommission. Möchte man hierin ernsthaft einen Rechtsbruch Deutschlands sehen? Und wenn jetzt durchaus zutreffend darauf hingewiesen wird, dass es nicht richtig war, diese Kriegsflüchtlinge, die vielfach bereits in Drittstaaten Schutz gefunden haben, pauschal als individuell verfolgte Genfer Flüchtlinge anzuerkennen – eine Praxis, die mit der Rückkehr zur Einzelfallprüfung zu Beginn 2016 abgestellt worden ist – , ändert dies nichts daran, dass in diesen Fällen Abschiebungen aus vielerlei Gründen praktisch (und rechtlich) nicht durchführbar gewesen wären, da jedenfalls bisher kein Staat zur Verfügung stand und steht, der diese Menschen aufzunehmen bereit wäre. Letztlich geht es darum auch in den Verhandlungen mit der Türkei.
Noch ist also die Dublin-Verordnung in Kraft, und Deutschland hält sich daran. Einen funktionierenden Ersatz gibt es nicht und auch keine Vorkehrungen dafür, was zu geschehen hat, wenn das System wie jetzt einseitig kollabiert. Das Dublin-System baut darauf, dass alle EU-Staaten gleichermaßen rechtsstaatliche Standards bei der Behandlung von Flüchtlingen einhalten können und wollen. Für Deutschland heißt das im Klartext: Flüchtlinge, die hier einmal angekommen sind, bleiben hier. An die Stelle des Zuständigkeitssystems nach Dublin ist das Prinzip der freien Wahl des Asylstaates getreten. Das ist ein Pull-Faktor ersten Ranges.
Kann sich Deutschland nun auf eine Art Notstand berufen und die Vorgaben des EU-Rechts abschütteln nach dem Motto: Wenn die anderen Staaten Dublin nicht beachten, dann dürfen wir uns auch davon lösen und Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen? Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Bundesregierung eines Tages – wenn die Flüchtlingszahlen nicht schnell nachhaltig gesenkt werden können – dazu gezwungen sehen wird. Hier könnte sich Deutschland evtl. auf eine im Unionsrecht selbst vorgesehene Klausel berufen (Art. 72 AEUV), die zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung eine Abweichung von bestehenden Regeln erlaubt.
Dass eine solche Maßnahme bislang nicht getroffen geworden ist, stellt aber keinen Rechtsbruch dar, sondern ist der Komplexität der rechtlichen und politischen Lage geschuldet, in der eine europäische Lösung in Form einer Lastenteilung und eines besseren Schutzes der Außengrenzen (i.V. mit nationalen Maßnahmen zur Verschärfung des Asylrechts) zu Recht als der bessere Weg, als Plan A angesehen wird. Die Beantwortung der Frage, wann der Versuch als gescheitert zu betrachten und eine Grenzschließung für Flüchtlinge als letztes Mittel zu erwägen ist, liegt im politischen Gestaltungsspielraum der Bundesregierung.
Über eines müsste man sich allerdings im Klaren sein: Eine Grenzschließung im nationalen Alleingang müsste möglichst lückenlos sein und notfalls auch mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werden. Sie müsste länger durchgehalten werden, damit sich die erhofften Abschreckungseffekte einstellen. Denn wer A sagt, muss auch B sagen. Dies alles mag man für machbar halten; die Auswirkungen auf den Schengenraum und den Binnenmarkt wie auch die deutsche Volkswirtschaft wären kaum absehbar. Es bestünde die reale Gefahr, dass die Freizügigkeit ernsthaften Schaden nähme.
Welche politischen und ökonomischen Folgen dies für den europäischen Integrationsprozess insgesamt, aber auch die Bewahrung von Humanität und Menschenrechten gegenüber Schutzsuchenden hätte, ist nicht absehbar. Auch dies sind Elemente der deutschen Verfassungsordnung. Als Bürger darf man erwarten, dass eine Bundesregierung bei ihren Entscheidungen all diese Gesichtspunkte wägt. An diese gerichtete Vorwürfe des Rechts-, gar des Verfassungsbruches und darauf gründende Forderungen nach sofortigen nationalen Lösungen an der deutschen Grenze verkennen genau dies. Sie verwechseln Recht mit Politik und suggerieren, dass es allein rechtmäßige Lösungen gibt. Wenn diese alternativlosen Wege dann nicht umgehend beschritten werden, erodiert das bereits arg strapazierte Vertrauen der Menschen in die Politik weiter. Und das ist gefährlich!
Nächste Woche soll in der Reihe “Schönburger Schriften zu Staat und Recht” ein Band zur Flüchtlingskrise erscheinen:
O. Depenheuer/Chr. Grabenwarter (Hrsg.),
Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016
https://www.schoeningh.de/katalog/titel/978-3-506-78536-7.html
Das Spektrum der Autoren reicht von P. M. Huber bis Chr. Hillgruber, von. O. Depenheuer bis J. Isensee. Ich bin gespannt.
> Möchte man hierin ernsthaft einen Rechtsbruch Deutschlands sehen?
Natürlich will man das nicht. Denn es war nicht nur ein Rechtsbruch (AsylG
§ 18 Aufgaben der Grenzbehörde), sondern auch ein flagranter Verfassungsbruch (GG §16a).
Es gibt zu dieser gesamten Aktion nach meinem Kenntnisstand keine öffentliche schriftliche Erklärung der Bundesregierung über den Tweet des BAMF von 25.08 hinaus, der ein rechtsstaatliches Vorgehen nachweist (z.B. Ministererlass etc.).
Der gesamte Vorgang erinnert in seiner Intransparenz stark an das Vorgehen von Unrechtsstaaten – Stichwort “Schießbefehl”.
Warum man nach der Aussetzung des Dublin-Verfahrens “bei Syrienflüchtlingen” jeden, unabhängig von seiner Herkunft, ins Land hereinbittet muss mir dann noch jemand erklären.
Das ganze ist eine Offenbarungseid für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat.
Nein, Herr Keefer, immer noch nicht. Art. 16a Abs. 2 GG steht nur der Gewährung von Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG entgegen. Sie weisen hier in ihren Kommentar ja selbst ständig darauf hin, dass nur sehr wenige Flüchtlinge diesen Status nach gewährt bekommen. Das ist der Grund: Sie kommen durch sichere Drittstaaten und kriegen daher kein Asyl i.S.v. Art. 16a GG. Art. 16a Abs. 2 GG hat aber mit dem Flüchtlingsstatus i.S.v. § 3 AsylG (und nach der Qualifikationsrichtlinie) nüschts zu tun. Wirklich nüschts. Im Rahmen des Flüchtlingsstatus nach Unions- und einfachem Recht betrifft der Anreiseweg nämlich nicht den Status als Flüchtling. Er betrifft maximal die Zuständigkeit für die Durchführung des Verfahrens.
Ihre Verfassungsbruchthese ist wirklich Kokolores.
@Michael Heinrich: Ja, man darf richtig gespannt sein, zu welchen Ergebnissen dieses ungeheuer pluralistische “Spektrum” von Autoren wohl kommen wird.
@Jessica: Vielleicht gibt es auch einen Beitrag von Udo Dee! Fabio? “Der Staat in der Flüchtlingskrise” – zehn leere Seiten.
😉