29 September 2023

Die deutsche Mitte

Die Macht der Minderheit” ist ein Aufsatz überschrieben, der in dieser Woche in der FAZ erschienen ist. Die AfD, so die These, sei deshalb so erfolgreich, weil so viele Menschen in Deutschland sich als ohnmächtig empfinden gegenüber Minderheiten, die die “Politik in einem irritierenden Maße dominieren”. Diese Minderheiten übten nicht bloß Veto-, sondern “Gestaltungsmacht” aus, weil ihre Partei – die Grünen – für so viele Koalitionsmöglichkeiten anschlussfähig und so präsent und dominant im öffentlichen Diskurs ist. Das verleihe dieser Partei mehr Gestaltungsmacht, als ihr zusteht, und mittels dieser Macht zwinge diese Minderheit qua “moralischer Codierung” und in “totalitärer Anmutung” der ohnmächtigen Mehrheit ihren asyl- und sprachpolitischen Willen auf. Kein Wunder, wenn die Mehrheit sauer wird. Der Ausweg? Sich in “illusionslosem Realismus” und mit “Mut und Lernbereitschaft” für die Themen der von der AfD repräsentierten “Gegenminderheit” öffnen, empfiehlt der Autor, und den von den Grünen “zu ihrem Vorteil” eingeengten “Diskussionsraum für die kontroverse Suche nach Problemlösungen” wieder ausweiten.

Das ist es, was sich das Juste Milieu in Deutschland jetzt gerade selbst erzählt. So möchten die das gerne sehen.

Verfasst hat diese unpolitischen Betrachtungen, Gott helfe uns, der berühmte deutsche Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg, Professor Emeritus von der Universität Mannheim.

Muss ich einem Mann, der die längste Zeit seiner 86 Lebensjahre nichts anderes gemacht hat, als über Politik nachzudenken, erklären, wie in einer parlamentarischen Demokratie Politik funktioniert? Dass die Antwort auf die Frage nach Mehr- oder Minderheit nicht die naturwüchsige Vorbedingung demokratischer Aushandlungsprozesse unter freien und gleichen Verschiedenen ist, sondern deren Produkt? Dass die Grünen ihre Gestaltungsmacht der Tatsache verdanken, dass sie Teil von Regierungsmehrheiten in Bund und Ländern sind? Dass die Frage nach der Legitimation  ihrer Gestaltungsmacht damit abschließend beantwortet ist?

Natürlich nicht. Das weiß der Professor sicher selber. Was um so mehr die Frage aufwirft, was er mit diesem Text bewirken will.

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In den USA ist vor wenigen Tagen ein Buch mit einem ganz ähnlich lautenden Titel erschienen: “Tyranny of the Minority“, von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, zwei Politikwissenschaftlern von der Harvard-Universität. Ihr vorangegangener Beststeller “How Democracies Die” ist einer der Schlüsseltexte zum Verständnis des globalen Aufstieges des autoritären Populismus und seiner Methoden. Dass die amerikanische Verfassung in dieser Hinsicht so besonders verwundbar ist, so die These ihres neuen Buchs, liegt an ihren “countermajoritarian institutions”: Electoral College, Senat, Filibuster, Supreme Court – überall ist verfassungsrechtlich dafür gesorgt, dass die Minderheit nicht nur als Teil einer Koalitionsmehrheit, sondern tatsächlich als überstimmte Minderheit Veto- und Gestaltungsmacht behält. Der Grund dafür liegt im Urkonflikt der US-Staatsgründung schlechthin, im Bestehen der Südstaaten darauf, in punkto Sklaverei nicht vom Norden majorisiert zu werden, und dieses Motiv zieht sich bis in die Gegenwart durch. Die immensen zerstörerischen Auswirkungen dieser Institutionen auf die Demokratie in den USA in den letzten Jahren sind das Resultat der Erkenntnis der Republikaner, dass sie sich mit ihrer in den 60er Jahren eingeschlagenen Strategie, den Demokraten ihre rassistische weiße Südstaatenbasis abzujagen, an eine demographisch immer hoffnungslosere Minderheit gefesselt haben und auf demokratisch sauberem Wege Mehrheiten kaum noch zustande bringen können. Weshalb sie es auf demokratisch unsaubere Weise probieren. Den Voting Rights Act für verfassungswidrig erklären lassen. Das Wahlrecht zu ihren Gunsten manipulieren. Demokratische Supreme-Court-Kandidaten und Parlamentsmehrheiten blockieren. Das Kapitol stürmen.

Das ist die Tyrannei der Minderheit. Was Deutschland betrifft, so wird im nächsten Jahr mit einiger Wahrscheinlichkeit die AfD in drei ostdeutschen Landtagen Sperrminoritäten erringen. Einer davon ist der thüringische, und dort haben wir im Rahmen unseres Thüringen-Projekts angefangen, uns die Situation genauer anzuschauen. Der Nazi Björn Höcke, Chef der  thüringischen AfD, hat als Wahlziel 33,3 Prozent ausgegeben, und er weiß genau wieso. Damit kann er alle Entscheidungen blockieren, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern. Etwa die Wahl der vom Landtag zu bestimmenden Mitglieder des Richterwahlausschusses. Ohne den kann Thüringen keine neuen Richter*innen mehr berufen, und das in einer Situation, wo die Justiz ohnehin schon in Teilen unterbesetzt ist und eine gigantische Pensionierungswelle auf das Land zurollt. 30 bis 50 Prozent aller Richter*innenposten müssen in den nächsten Jahren neu besetzt werden. Da drohen Schwurgerichtsprozesse mit Dutzenden von Verhandlungstagen zu platzen, wenn die Richter*innenbank nicht mehr ordnungsgemäß besetzt ist. Da droht buchstäblich der Stillstand der Rechtspflege. Und der da droht, das ist Björn Höcke.

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Pünktlich zum Verfassungsjubiläum erscheint der HK-ThürVerf, der unzählige Bereiche gelebter Staatspraxis erstmalig kommentiert, etwa

  • Wahl des Ministerprädidenten
  • Neuorganisation des Verfassungsschutzes
  • Einführung des inklusiven Unterrichts
  • Religiöse Symbole in der Schule
  • Schulpflicht und Pandemie
  • Paritätsgesetze, Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern
  • gesetzliche:r Richter:innen
  • Absenkung des Wahlalters und Unterschriftenquoren im Kommunalwahlrecht
  • Rechte parlamentarischer Gruppen

Die hochaktuellen und praxisnahen Kommentierungen bieten Orientierung in einer tiefgreifend veränderten parlamentarischen Landschaft

Hier erhältlich.

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Sperrminoritäten sind per se nichts Falsches. Es kann gute demokratische Gründe geben, bestimmte Entscheidungen nicht der Regierungsmehrheit alleine auszuliefern. Dass auch Personalentscheidungen über die Justiz dazu gehören, kann man mit guten Argumenten vertreten. Aber wenn man es mit einer Partei zu tun hat, die ihr Geschäft damit betreibt, überall zu erzählen, dass korrupte Eliten das Land herunterwirtschaften, und wenn diese Partei alle Möglichkeiten, die sie hat, strategisch dazu ausnutzt, dieser Erzählung durch Blockade und Obstruktion permanent neue Evidenz zuzuführen – dann dient die Sperrminorität nicht mehr dem Schutz der Minderheit vor majoritärer Unterdrückung, sondern der Zerstörung der Demokratie.

Das ist die Tyrannei der Minderheit. Und die kommt. Sie ist schon da. It’s happening already.

Natürlich ist die AfD und alles, wofür sie steht, in der Minderheit. Natürlich auch in Thüringen. Mehrheitsfähig wird sie erst, wenn es andere gibt, die ihr zu einer Mehrheit verhelfen. Leute der rechtschaffenen bürgerlichen Mitte, die eine solche Option um so attraktiver finden, je härtere Entscheidungen ihnen sonst abverlangt wären, in der Erkenntnis etwa, dass Klimaziele erreicht werden müssen oder die Migrationspolitik der Abschottung nicht funktioniert. Also das, was der Graf von Kielmansegg so treffend als “illusionslosen Realismus” bezeichnet. Irre teuer, irre riskant, irre viel “Mut und Lernbereitschaft” erfordernd. Wie viel einfacher ist es doch, mit den Faschisten gemeinsame Sache zu machen und sich anstelle der Probleme lieber derer zu entledigen, die auf ihrer Lösung beharren.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Wie ruchlos tatsächlich die grüne Minderheit von ihrer migrationspolitischen Veto- und Gestaltungsmacht Gebrauch macht, ist in dieser Woche auf erschütternde Weise anschaulich geworden. Die EU-Asylrechtsreform, die Einführung von Grenzkontrollen an der polnischen und tschechischen Grenze… die schrecken wirklich vor nichts zurück. Zu letzterem Thema erläutert DANIEL THYM die Rechtslage und stellt klar: Grenzkontrollen als Dauerzustand wie an der deutsch-österreichischen Grenze sind und bleiben rechtswidrig, ebenso wie die Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze. Das jüngste Urteil des EuGH zur französischen Zurückweisungspraxis an der Grenze zu Italien sei aber auf Deutschland nicht übertragbar.

Dass bei noch so rechtswidrigen Pushbacks an den Außengrenzen niemand haftet, am allerwenigstens die EU-Grenzschutzagentur Frontex, ist ein seit langem bekannter und beklagter Zustand, an dem zuletzt auch das Europäische Gericht in Luxemburg sich außerstande sah etwas zu ändern. Einen Vorschlag, wie man das tun könnte, so man denn wollte, macht CHRISTOPHER PASKOWSKI.

Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde in dieser Woche über die Klage von sechs portugiesischen Kindern und Jugendlichen verhandelt, die bislang größte Klimaklage vor dem Straßburger Gerichtshof. CORINA HERI war dabei und berichtet von ihren Eindrücken.

ERIK TUCHTFELD ist irritiert über die unkritische und uninformierte Haltung, die der Menschenrechtsgerichtshof in letzter Zeit zum Einsatz von KI bei der Content-Moderation in digitalen Medien an den Tag legt.

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Stellenausschreibung: Policy Fellow für EU-Demokratie

Hast du Interesse an EU-Politik und möchtest dich in die europapolitischen Debatten in Berlin einbringen? Dann bewirb dich bei uns! Das Jacques Delors Centre an der Hertie School in Berlin sucht zum 1. November eine/n Policy Fellow für EU-Demokratie zur Verstärkung unserer Think Tank-Arbeit im Bereich institutionelle Reformen und EU-Demokratie. Mehr Informationen hier.

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In Frankreich werden Schülerinnen nach Hause geschickt, wenn sie eine Abaya tragen. Das Kleidungsstück, so die Begründung, sei islamisch, also religiös und daher mit dem Prinzip des Laizismus nicht zu vereinbaren. Wenn das so ist, sollte dann nicht das Grundrecht der Schülerinnen auf Religionsfreiheit eine Rolle spielen? Die Frage stellt CHRISTIAN POPP und kommt zu folgendem Schluss: “Schon Mitte des letzten Jahrhunderts sprach der französische Staatsrechtler Jean Rivero bei der laïcité von einem Wort, das nach Schießpulver riecht. Dass religiöse Gruppierungen es nun nicht einmal mehr wagen, sich auf die Religionsfreiheit zu berufen, ist eine bedenkliche Entwicklung.”

Bei der Inklusion von Kindern mit Behinderungen in der Schule verletzt Deutschland seine völkerrechtlichen Verpflichtungen, so die Schlussfolgerung des zuständigen UN-Ausschusses. VANESSA BLIECKE untersucht, wie es dazu kommt.

Zwei Jahre ist es her, dass die EU ihren milliardenschweren Corona-Aufbaufonds unter dem Namen Recovery and Resilience Facility aufgesetzt hat. Wofür wurde das Geld ausgegeben? Die Kommission hat ihren zweiten Evaluationsbericht veröffentlicht, und PÄIVI LEINO-SANDBERG hat ihn gründlich gelesen und sich die Anhörungen im EU-Parlament dazu angehört. Ihr Eindruck: Die Mitgliedstaaten haben genommen, was sie kriegen konnten, um ganz normale Haushaltslöcher zu stopfen.

Kann die Ukraine mitten im Krieg Parlamentswahlen abhalten? Nein, sagen JULIA KYRYCHENKO und OLHA IVASIUK, im Krieg seien freie und faire Wahlen nicht möglich. Außerdem, ergänzt OLEKSANDR VODIANNIKOV, seien Wahlen im Krieg in der ukrainischen Verfassung explizit ausgeschlossen und würden die Gefahr eines democratic backsliding mit sich bringen.

Zuletzt: Was mich besonders freut, ist die große Resonanz, die unser VerfassungsBook Kleben und Haften” zum zivilen Ungehorsam in der Klimakrise ausgelöst hat (große Anerkennung an Herausgeber Maxim Bönnemann dafür an dieser Stelle). Das Buch ist bereits über 1000 Mal heruntergeladen worden und wird nach meiner Wahrnehmung breit rezipiert – und noch mal auf andere Weise, als dies die einzelnen Blogposts taten. So hat z.B. FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube plötzlich Samira Akbarian auf dem Schirm und zitiert ihren Artikel in FAZ-Feuilleton (€). Das lohnt sich also und wird bestimmt nicht der letzte Sammelband sein, den wir aus unserem Output heraus entwickeln. Watch this space.

Die Sammlung an Berichten und Analysen zum Thema ziviler Widerstand in der Klimakrise wächst unterdessen weiter: JEVGENIY BLUWSTEIN, CLÉMENCE DEMAY und LUCIE BENOIT untersuchen, wie die Justiz in der Schweiz mit Klimaprotesten umgeht.

Womit ich wieder durch wäre für diesmal. Ihnen alles Gute, lassen Sie den Mut nicht sinken und bis nächste Woche!

Ihr

Max Steinbeis

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