27 January 2024

Die Diskriminierung der Anderen begreifen

Für erkenntnistheoretische Reflexion in Debatten um Antisemitismusdefinitionen

Es wird gestritten und gerungen. Über Antisemitismusdefinitionen, deren gesetzliche Anwendung und deren potentiellen Missbrauch. Über Antisemitismus als Phänomen geht es in diesen Debatten kaum.

Sinnbildlich steht dafür die Ankündigung und nun die Aussetzung einer „Antidiskriminierungsklausel“ der Berliner Kulturverwaltung, nachdem es zuvor massive Kritik insbesondere aus der Kulturszene gab. Hierbei ging es insbesondere um den Vorwurf, die Weite der Antisemitismus-Arbeitsdefinition der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) und die Erweiterung der Definition durch den Bund würden für unzutreffende Antisemitismusvorwürfe missbraucht werden, was zu ungerechtfertigten Grundrechtseingriffen führe (etwa Offener Brief Kulturschaffender, u.a. mit Verweis auf Ambos et al). Missbräuchliche Antisemitismusvorwürfe beträfen „vor allem […] propalästinensische Einstellungen“, so jüngst auch Kenneth Stern, Mitautor der IHRA-Arbeitsdefinition.

Auf konkrete Fälle ungerechtfertigter Antisemitismusvorwürfe oder Äußerungen, die einen essentialisierenden Generalverdacht schüren, aufmerksam zu machen, ist selbstredend wichtig. Kritiker*innen laufen jedoch in eine moralische und erkenntnistheoretische Falle, soweit sie sich ohne „positiven“ Antisemitismusbegriff gegen vermeintlich missbräuchliche Antisemitismusvorwürfe stellen wollen. Polemisch überspitzt: Ohne positiven, also gesetzten und offengelegten Antisemitismusbegriff erscheint jeder Antisemitismusvorwurf potentiell als missbräuchlich. Dabei müsste klargestellt werden, dass ein fundiertes Verständnis von Antisemitismus als Phänomen Grundlage auch jeder juristischen Diskussion um (un)angemessene Antisemitismusdefinitionen und deren rechtliche Anwendung sein muss.

Ich möchte daher erstens anregen, dass wir den Antisemitismusbegriff (auch) als Begriff im theoretischen Sinne verstehen sollten. Es soll sich zweitens zeigen, dass ein rassismuskritischer Ansatz nach Charles Mills für eine stärkere Einbeziehung jüdischer Erfahrungen bei der Begriffsbildung und darüber für ein weites Antisemitismusverständnis streitet. Durch eine klarere Trennung von Begriffs- und Anwendungsebene könnte – drittens – die vermeintliche Kollision von Antisemitismuskritik und Rassismuskritik jedenfalls in dieser Debatte vermieden werden, so die Hoffnung.

Antisemitismus als Begriff

Verstehen wir Antisemitismus (auch) als Begriff, so können wir mit Mitteln der Semantik und Erkenntnistheorie mehr über die (implizite bis fehlende) Begriffsbildung erfahren. Bereits die Anwendung des „semiotischen Dreiecks“ aus Gegenstands-, Repräsentations- und Begriffsebene ist erhellend (knapp Stock; einführend etwa Lieb). So ist festzuhalten, dass die Existenz „des“ Antisemitismus als sozialem Phänomen (Gegenstandsebene) kaum bestritten wird. Es ist auch klar, dass dieses Phänomen durch das Wort „Antisemitismus“ repräsentiert wird (Repräsentationsebene). Doch was im Einzelfall als „antisemitisch“ gelten soll, ist teils heftig umstritten. Wir befinden uns (scheinbar) auf der Begriffsebene, wenn argumentiert wird, Phänomen X sei nicht antisemitisch, weil ein Geschehnis nicht unter das Konzept falle, beziehungsweise nicht von dem Begriff erfasst sei. Dieser Satz setzt jedoch seinerseits einen Antisemitismusbegriff voraus. Wie lässt sich eine Begriffsbildung also fassen?

Bei einer Begriffsbildung kann verschieden vorgegangen werden (einführend etwa hier). Zum einen wird jedenfalls in „klassische Theorien“ und „Prototypentheorie“ unterschieden (siehe auch hier). Nach klassischen Theorien werden Merkmale oder Eigenschaften genannt, um eine „Klassenzugehörigkeit“ auszumachen. Nach Prototyptheorien wird (im entferntesten Sinne mit Wittgenstein) nach „Familienzugehörigkeit“ gefragt, bei der von einem Idealtyp ausgegangen und nach Ähnlichkeiten des jeweiligen Anschauungsobjekts gesucht wird.

Der gesellschaftspolitische und juristische Diskurs um Antisemitismus verbleibt vor allem auf der Repräsentations- und Gegenstandsebene und greift dabei implizit auf ein Prototyp-Verfahren zur Begriffsbildung zurück. So verharren auch Gerichte oft in einem Antisemitismusverständnis, das eine gefestigte Ideologie in den Vordergrund stellt (vgl. in der Sache ebenso Liebscher et al).

Das AG Wuppertal etwa hatte 2014 im Falle eines Brandanschlags auf eine Synagoge darauf abgestellt, dass die Ermittlungen „keinerlei Anhaltspunkte“ dafür ergeben hätten, dass die Angeklagten „antisemitisch eingestellt sind“ (Rn. 43). Vielmehr wollten die Angeklagten „Aufmerksamkeit auf den zu dieser Zeit andauernden bewaffneten Konflikt zwischen Israel und den im Gaza-Streifen lebenden Palästinensern lenken“ (Rn. 37, nochmal 41). Dass gerade diese Motivation als antisemitisch gewertet werden könnte, übersieht das Gericht (dazu u.a. auch Liebscher et al).

Die Entscheidung steht sinnbildlich für ein nicht weiter ausgesprochenes Antisemitismusverständnis, nach dem Antisemit nur der ist, wer einem gefestigten antisemitischen Weltbild und einer Ideologie anhängt. Der Nationalsozialist (in männlicher Form) ist der Prototyp (so auch jüngst Doris Liebscher hier; vgl. auch Deniz Yücel bzgl. LG München und OLG München im Fall Elsässer). Nach diesem Verständnis aber, so Yücel treffend, wurde „der letzte Antisemit um 1960 in Jerusalem gesichtet“ (…und hingerichtet, G.M.).

In anderen Worten: der Antisemitismusbegriff ist zu eng; und zwar, weil es den Prototypen auf Gegenstandsebene kaum mehr gibt (vgl. auch Ullrich in Arnold et al). Soziale Phänomene sind zeitlich kontingent, sie wandeln sich. Ein Prototypverfahren (mit historisch verhafteten Prototypen) erscheint für die juristische Begriffsbildung jedenfalls unzweckmäßig.

Methodisch liegt der Juristerei vielmehr ein „klassischeres“ hermeneutisches Verfahren nahe. Die Hermeneutik „erfasst Begriffe in ihrer historischen Entwicklung sowie in ihrer Verwendung in einem gegebenen sog. ‚Welthorizont‘“ (Stock). Das „Gewordensein“ ist entscheidend. Dabei wird nie „ohne Verständnis und vorurteilsfrei“ (Stock) vorgegangen. Spätestens hier beginnt sich der „hermeneutische Zirkel“ zu drehen: Das Ganze ist nur durch seine Teile begreifbar, die Teile sind nur durch ein Verständnis vom Ganzen erkennbar (vgl. Gadamer). Individuelle Vorverständnisse sind daher konstitutiv für Wissensproduktionen (vgl. Gadamer). Folglich kommt es darauf an, wer mit welchem (Vor-)Wissen Begriffsbildung betreibt.

Mit einem rassismuskritischen Ansatz nach Charles Mills zu weiten Antisemitismusbegriffen

Es ist vergleichsweise unstrittig, dass Vorwissen die Wissensproduktion bedingt und dass dieses Vorwissen seinerseits sozial bedingt ist (so bereits Max Weber, der seine eigenen rassistischen Vorurteile in Wissenschaft als Beruf vorführt). Bei der Einsicht, dass Vorwissen die Wissensproduktion leitet, setzen rassismuskritische Ansätze seit geraumer Zeit an (vgl. jüngst auch für den deutschen Kontext etwa Hauck; Hankings-Evans; Barskanmaz; auf diskursiver Ebene Barskanmaz, in der Sache zustimmend: Duve und Dann).

Gewissermaßen schulbildend für rassismuskritische Erkenntnistheorie wirkte ein Aufsatz des Philosophen Charles Mills unter dem für einige provokant anmutenden Titel „White Ignorance“ (jüngst übersetzt in Lepold/Martinez Mateo, zit. hiernach). Mills argumentiert, es gäbe ein „Weißes Nichtwissen“. Er bezeichnet damit eine „kognitive Beeinträchtigung“ in der Erkenntnisgewinnung, die aus historisch gewachsenen Gesellschaftsverhältnissen herrühre (insb. Sklaverei und Kolonialismus der Moderne). Da Begriffe uns in der Welt Orientierung bieten würden und es schwer sei, sich diesem Begriffssystem zu widersetzen, würden etablierte Begriffe eine eigene Wirkung entfalten (201 f.). Regelmäßig werde nicht, „das Phänomen mit dem gesondert angehängten Begriff“, sondern „die Dinge durch den Begriff selbst“ betrachtet. Da etwa der „nichtweiße Andere“ zu Kolonialzeiten einen anderen Ort im „leitenden Begriffsspektrum“ eingenommen habe, sei es möglich gewesen, „ohne ein Gefühl von Absurdität von ‚leeren‘ Ländereien zu sprechen, die in Wirklichkeit von Millionen Menschen wimmeln, von der ‚Entdeckung‘ von Ländern, deren Bewohner schon existierten […].“ (202)

Dies führt Mills zu der Diagnose einer „kognitiven Beeinträchtigung“, die auf der Stabilität von Begriffen basiert, welche die Erfahrung rassistisch marginalisierter Gruppen nicht angemessen widerzugeben vermögen:
„Wenn also Kant bekanntlich sagte, dass Wahrnehmungen ohne Begriffe blind sind, dann ist es hier die Blindheit des Begriffs selbst, die die Sicht blockiert.“ (202)

Diese Blicklosigkeit für Rassismus lässt sich auch in der juristischen Praxis in Deutschland beobachten (so jüngst Stix; eklatant etwa im Fall der N-Wort-Entscheidung des Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern; dazu etwa Nelly Bihegue; jüngst auch realitätsfern OVG Hamburg). Wie etwa von Anna Katharina Mangold und Sinthiou Buszewski angemerkt, steht die Blicklosigkeit für Rassismus im engen Zusammenhang mit dem Gehör, das Betroffenen (nicht) eingeräumt wird. Es sei, so Mangold und Buszewski, wohl kein Zufall, dass in der Debatte um das N-Wort „nahezu ausschließlich weiße* Personen über die Wirkweise eines Wortes sprechen und schreiben, ohne auf jene zu hören, sie zu Wort kommen zu lassen, die mit dem Wort verletzt werden sollen.“

Dies mutet einigen als „Identitätspolitik“ an. Dürfen jetzt nur noch „Betroffene“ festlegen, was diskriminierend ist? Nein. Jedenfalls Charles Mills stellt klar, dass „Weißes Nichtwissen“ nicht an die Hautfarbe oder ein anderes persönliches Merkmal geknüpft sei, so können „Schwarze ebenfalls weißes Nichtwissen aufweisen“ (194, Anm.: ich schließe mich hier explizit ein). Es kommt auf individuelle persönliche Erfahrung im gesellschaftlichen Kontext an, also auf sozial bedingtes Vorwissen, das den hermeneutischen Prozess der Begriffsbildung beeinträchtigt, nicht auf individuelle Identitäten als solche. Mills spricht von einer „unpersönliche[n] sozial-strukturelle[n] Verursachung“ (193). Daher ist die Feststellung eines „Weißen Nichtwissens“ auch nicht mit einem individuellen Vorwurf von Schuld verbunden (193). Aus Mills Ausführungen lässt sich allenfalls die plausible Vermutung ablesen, dass Betroffene eher in der Lage sind, die Phänomene, die sie betreffen, im historischen und gesellschaftspolitischen Kontext zu begreifen. Dies birgt zwar die Gefahr von Essentialisierungen (vgl. Sow), scheint jedoch jedenfalls von einiger anekdotischer Evidenz getragen zu sein. Dass sich etwa hinsichtlich der Verwendung des N-Wortes der Diskurs „verengt“ hat (vgl. Fall Boris Palmer), weil sich der Rassismusbegriff diesbezüglich erweitert hat, lag ganz maßgeblich daran, dass zunehmend „Schwarze Stimmen“ gehört und ernstgenommen wurden, die auf die historisch fundierte Semantik des Wortes aufmerksam machten (Nelly Bihegue m.w.N.). Damit haben vor allem Betroffene das gesellschaftlich vorherrschende Vorwissen destabilisiert, welches den Prozess der Begriffsbildung erkenntnistheoretisch (mit-)leitete.

Erkenntnistheoretisch lässt sich mit Mills folglich sagen: Ein Rassismusbegriff, der nicht die Sicht von Betroffenen aufgreift, wird das Phänomen nie in Gänze sehen beziehungsweise begreifen können. Gleiches muss für den Antisemitismusbegriff gelten: Ein Antisemitismusbegriff, der nicht die Sicht von Betroffenen aufgreift, wird das Phänomen nie in Gänze begreifen können.

Dass auch in deutschen Diskursen um Antisemitismus jüdische Perspektiven kaum Gehör finden, wurde bereits vielfach kritisch angemerkt (etwa Czollek hier und hier; hier oder Cazés hier ab Min. 45:00). Auch in der juristischen Praxis stellt sich der gleiche Effekt ein wie im Fall von Rassismus: Gerichte sehen Antisemitismus nicht, weil sie jüdische Realitäten nicht wahrnehmen (so etwa Liebscher et al).

In ihrem Buch, Gojnormativität Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen zeigen Judith Coffey und Vivien Laumann, dass in Deutschland die „paradoxe Situation“ zu beobachten sei, in der Antisemitismus „skandalisiert“ werde, „[u]m ein positives deutsches Selbstbild aufrechtzuerhalten“, doch gleichzeitig werde „der gegenwärtig existente Antisemitismus geleugnet, als Import aus arabischen Ländern oder als Ausnahmeerscheinung von Einzeltäter_innen dargestellt. Die Perspektiven von Juden_Jü din nen werden kaum gehört oder ernstgenommen.“ (S. 10, Herv. d. V.).

In Analogie zu Mills erkenntnistheoretischen Überlegungen zu „Weißem Nichtwissen“, ließe sich von einem „nicht-jüdischen Nichtwissen“ sprechen. (oder mit David Schraub von „epistemic antisemitism“)1). Damit seien weder Rassismus und Antisemitismus als heute wirkende Phänomene noch deren historisches Gewordensein gleichgesetzt (vgl. zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden – tlw. nicht unproblematisch – auch Mills selbst; vgl. auch Levi). Die hier vorgenommene Überlegung basiert allein auf der Beobachtung, dass dezidiert jüdische Perspektiven auf die Welt in Europa seit der Inquisition systematisch ausgegrenzt, ja vernichtet wurden. Der moderne Antisemitismus des frühen 19. Jahrhunderts führte diese Tradition fort, bis zur Shoah (zur Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus umfassend Benz). Die Jahrhunderte alte Blicklosigkeit für jüdische Perspektiven wirkt bis heute fort. In Dialektik der Emanzipation verdeutlicht dies Hannah Peaceman an dem Begriff der „jüdisch-christlichen Tradition“. In der Verbindung dieses Begriffs mit einer jüngeren „Leitkultur-Debatte“, die sich „in der Regel gegen den Islam oder die sogenannte nicht-westliche Kultur richtet,“ zeige sich heute noch „die Geschichtslosigkeit und Verdrängung von Antisemitismus, Rassismus, Kolonialismus und Faschismus als Teil einer westlichen, europäischen, deutschen und christlichen Geschichte und Gegenwart“ (130). Der Begriff der „jüdisch-christlichen Tradition“ mache die „Aus- und Abgrenzungsgeschichte von Jüd*innen“ unsichtbar und offenbare sich letztlich „als eine leere Chiffre“ (131). Auch Jüd_innen nehmen historisch und gegenwärtig keinen gleichwertigen Platz im „leitenden Begriffsspektrum“ der christlichen Mehrheitsgesellschaft ein (vgl. Mills, 202, bzgl. der „nichtweißen Anderen“ im „Begriffsspektrum“).

Übertragen auf den Antisemitismusbegriff ließe sich in Anlehnung an Charles Mills sagen, dass auch diesem aufgrund seines historischen Gewordensein zwar einerseits eine relative Stabilität zukommt, er aber andererseits zu einer Blicklosigkeit führt, weil er sich in einem Kontext einer in der Mehrheit nicht von Antisemitismus betroffenen Gesellschaft stabilisiert. Es sind die Begriffe selbst, die die Sicht blockieren.

Für eine analytische und diskursive Trennung von Begriffs- und Anwendungsebene

Ich schlage demnach vor, in Debatten um Antisemitsmusdefinitionen die verschiedenen diskursiven Ebenen deutlicher voneinander zu trennen. Das mag veranschaulichen, worum (nicht) gestritten wird. Denn die Argumente, die IHRA-Arbeitsdefinition führe zu einer „Verengung“ des Raumes „zulässiger Kritik an Israel“ (so ein hier unter Pseudonym veröffentlichter Text, kritisch Cemel/Majetschak), sie sei zu unbestimmt (vgl. Ambos et al) und die IHRA-Arbeitsdefinition marginalisiere palästinensische Stimmen, andere people of color und Menschen aus dem Globalen Süden (vgl. Offener Brief Kulturschaffender), betreffen jeweils nicht primär die Begriffsebene, setzen aber (implizit) einen Antisemitismusbegriff voraus.

Im letzteren Fall ist das (eigentlich) eindeutig. Weder die IHRA-Arbeitsdefinition noch ein anderer Versuch einer Begriffsbestimmung würden die Identität der sich potentiell antisemitisch verhaltenden Person zu einem Begriffsmerkmal von Antisemitismus erklären. Bei dem Argument, die IHRA-Arbeitsdefinition marginalisiere bestimmte Personengruppen, handelt es sich nicht um Kritik auf der Begriffsebene, sondern um Kritik an etwaigem Missbrauch eines Antisemitismusbegriffs oder an Doppelstandards bei Antisemitismuskritik zulasten von people of colour. Dass Antisemitismus in Deutschland mitunter auf einen vermeintlich „importierten Antisemitismus“ reduziert wird und gar Regierungsvertreter wie Robert Habeck zu einen Antisemitismus-Generalverdacht gegenüber Muslimen in Deutschland beisteuern, wird zurecht kritisiert (vgl. respektive Coffey/Laumann, 10; Fischer). Dies hat aber nichts mit dem Antisemitismusbegriff als solchem zu tun, sondern mit seiner mitunter einseitigen Anwendung, die mit jeglichen Definitionen denkbar ist (anders nur über eine Figur der mittelbaren Diskriminierung, die aber wohl auf negative Stereotypisierungen hinausläuft / es ist auch nicht ersichtlich, dass eine mittelbare Diskriminierung in einem der Definitionsversuche angelegt wäre). Klar ist, die Identität einer Person stellt weder ein konstitutives noch ein ausschließendes Merkmal für Antisemitismus dar.

Klar ist auch, dass ein Antisemitismusbegriff immer zu gewissem Grade unbestimmt bleiben muss. Die meisten Worte sind Begriffe „mit verschwommenen Rändern“ (Wittgenstein, 71). Hinter dem Argument der Unbestimmtheit liegt letztlich nur die Feststellung, dass Antisemitismus keine Tatsache ist, sondern ein soziales Phänomen. Radikal mit Wittgenstein wäre dann alles Recht (insb. Antidiskriminierungsrecht) als sprachliche Regelung sozialer Phänomene „einfach Unsinn“ (vgl. Wittgenstein, Vorwort). Doch die Juristerei hat sich grundsätzlich mit der Kontingenz der Sprache arrangiert (ob mit Kelsen, Hart, Dworkin oder Alexy). Es sind dann unterschiedliche Fragen, ob a) unbestimmte Rechtsbegriffe wie „antisemitisch“, dort wo sie als Tatbestands- oder strafschärfendes Merkmal normiert sind, näher ausgestaltet werden sollten; oder ob b) staatliche Förderungen von Wissenschaft oder Kunst; und c) der aufenthalts- oder asylrechtliche Status bis hin zur Staatsbürgerschaft von einem „Bekenntnis“ abhängig gemacht werden sollte (dazu kritisch Yücel)[3]. Die letzten beiden Fragen lassen sich ganz grundsätzlich verhandeln; also auch unabhängig davon, ob die Regelung der „Bekämpfung“ von Antisemitismus oder Rassismus dienen soll (vgl. auch Yücel). Lehnt man einen „Bekenntnisdruck“ des Staates aus freiheitlichen Gründen ab, spricht dies weder für noch gegen die IHRA- oder sonstige Antisemitismusdefinitionen als solche (vgl. auch Ambos et al eingangs). Hingegen lässt sich die erste Frage, ob es in konkreten Rechtsgebieten wie Antidiskriminierungsrecht oder Strafrecht einer Ausgestaltung des Rechtsbegriffs „antisemitisch“ bedarf, kaum ohne vorausgesetzten Antisemitismusbegriff diskutieren. Die einen meinen, es sei „eleganter“, die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „antisemitisch“ stets „der Rechtsanwendung zu überlassen“ (vgl. Heinemann), eine Konkretisierung sei daher nicht erforderlich (so auch Ambos et al). Abgesehen davon, dass die Ablehnung von Konkretisierungsversuchen in dieser Konstellation nicht zu einer bestimmteren Rechtslage führt, suggeriert das Argument, Gerichte und Behörden würden Antisemitismus – im eigens angelegten Sinne – grundsätzlich angemessen erkennen. Die anderen meinen dagegen, die Rechtsanwendung habe gerade ein Problem damit, Antisemitismus – wie sie ihn verstehen – zu sehen (Liebscher et al). Beide Argumentationslinien setzen einen (unterschiedlichen) Antisemitismusbegriff voraus. Das Argument, die IHRA-Arbeitsdefinition sei für Konkretisierungen zu unbestimmt, tendiert aber dazu, diese begriffliche Ebene nicht explizit zu machen.

Das Argument, die IHRA-Arbeitsdefinition würde zulässige Kritik an Israel verhindern, scheint hingegen insoweit auf der Begriffsebene verortet zu sein, als dass das Argument dahingehend verstanden werden kann, dass die Definition Phänomene erfasst, die nicht erfasst sein sollten. Die Definition würde – so könnte die Kritik verstanden werden – ein „überflüssiges Merkmal“ enthalten (vgl. Stock zu Definitionen). Allerdings findet sich kein Definitionsvorschlag, der Kritik an Israel per se als antisemitisch werten würde. In der IHRA-Arbeitsdefinition heißt es: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.“ In der Sache ergibt sich aus der Jerusalem Declaration kaum etwas anderes.

Bei der Kritik verschwimmen Begriffs- und Anwendungsebene, denn es geht bei dieser Argumentationslinie, wie auch Coffey/Laumann darlegen, „vor allem darum, Unschuldige vor ungerechtfertigten Antisemitismusvorwürfen zu bewahren“ (11), weniger darum, ob die Definition in dieser Frage auf abstrakter Ebene angemessen ist. Die Kritik geht diesbezüglich folglich Zweck- bzw. Ergebnis-orientiert vor, anstatt zu fragen, wie sich das Phänomen Antisemitismus für betroffene Personen äußert. Anders ausgedrückt: die drei exemplarisch angeführten Argumentationslinien betreffen nicht die Frage, wie wir Antisemitismus, so wie er Jüd_innen heute als Phänomen widerfährt, begreifen. Die Argumente setzten einen Antisemitismusbegriff voraus, ohne diesen offenzulegen. Damit laufen wir Gefahr, Phänomene, wie Belästigungen und das Einfordern einer Positionierung zu Israel, nur weil eine Person jüdisch ist, Aussprüche, die sich vormodernen antijudaistischen Bildern bedienen (wie „Kindermörder Israel“), bis hin zu tätlichen Angriffen und Anschlägen auf Jüd_innen und jüdische Einrichtungen, um auf den latenten oder akuten Krieg in Israel und Palästina „aufmerksam zu machen“, nicht als (israelbezogenen) Antisemitismus zu erfassen, obwohl sie als solcher erfahren werden Wie Charles Mills bezüglich Rassismus darlegt, betrachten wir die Welt durch Begriffe. Erfassen aber die Begriffe durch fehlende Rezeption der Perspektiven Betroffener gewisse Erfahrungen nicht, so sind es die Begriffe, die die Sicht auf die Phänomene blockieren. Das Urteil aus Wuppertal veranschaulicht dies deutlich.

Erst mit einem überzeugenden Antisemitismusbegriff wird man überzeugend gegen rassistische, insbesondere antimuslimische Instrumentalisierungen von Antisemitismusvorwürfen argumentieren können (vgl. Stern). Antisemitismuskritik und Rassismuskritik können nur gemeinsam einem jüngst wieder in die Mitte der Gesellschaft und Politik tretenden völkischen Nationalismus begegnen. Dafür müssen wir aber, in Anlehnung an Charlotte Wiedemann, die Diskriminierung der Anderen erst begreifen und gegenseitige, konstruktive Kritik aushalten. Es gilt, mit Adorno gesprochen, nicht allein in eigenen politischen Zwecken zu denken und damit Menschen und Perspektiven zu objektivieren, nach dem Motto: „die einen sind verwendbar, die anderen hinderlich“ (Adorno, 149). Eine solche Zweckrationalität bedient letztlich nur die Klaviatur des Faschismus:

„Der neutestamentliche Satz: ‚Wer nicht für mich ist, ist wider mich‘ war von jeher dem Antisemitismus aus dem Herzen gesprochen. Es gehört zum Grundbestand der Herrschaft, jeden, der nicht mit ihr sich identifiziert, um der bloßen Differenz willen ins Lager der Feinde zu verweisen […]. [Totalität] bedeutet die Gleichsetzung des Verschiedenen, sei’s der ‚Abweichung‘, sei’s des Andersartigen, mit dem Gegner. Der Nationalsozialismus hat auch darin das historische Bewusstsein seiner selbst erreicht: Carl Schmitt definierte das Wesen des Politischen geradezu durch die Kategorien Freund und Feind. […] Freiheit wäre, nicht zwischen schwarz und weiß zu wählen, sondern aus solcher vorgeschriebenen Wahl herauszutreten.“ (Adorno, Minima Moralia, 149 f.)

 

References

References
1 Dank an Daniel James für den Hinweis auf diesen Text.

SUGGESTED CITATION  Machona, Gwinyai: Die Diskriminierung der Anderen begreifen: Für erkenntnistheoretische Reflexion in Debatten um Antisemitismusdefinitionen, VerfBlog, 2024/1/27, https://verfassungsblog.de/die-diskriminierung-der-anderen-begreifen/, DOI: 10.59704/0ae885f47b4407eb.

7 Comments

  1. Steffen Wasmund Sat 27 Jan 2024 at 19:36 - Reply

    Genau. Die Frage ist: Was ist ein “überzeugende[r] Antisemitismusbegriff”. Dafür muss zunächst festgelegt werden, was “Semiten” sind. In diesem Kontext offensichtlich Juden. Und weiterhin, was sich unzulässig (“Anti”) gegen diese richtet. Da Juden Menschen sind, ist das Zulässigkeitskriterium die Menschenwürde, die sich in den Menschenrechten konkretisiert. Damit sind wir bei der unzulässige Diskriminierung von Juden am Maßstab der Menschenrechte. Um nicht nur unzulässige Diskriminierung “vor dem Gesetz”, also solche bereits in Rechtswidrigkeit liegende zu erfassen, reicht der logische Widerspruch. Warum reicht dieser Widerspruch? Weil sich der Gleichheitsanspruch des Menschen im Gesetz aus dessen tatsächlicher, also aus dessen logischer Gleichheit ableitet. Damit ist Antisemitismus der logische Widerspruch zum Menschenrecht in Bezug auf Juden. Damit ist gleichzeitig jede menschenrechtskonforme Kritik an Juden aus dem Antisemitismusbegriff herausgenommen. Weiterhin sehen wir, dass wir “Juden” durch jeden anderen Fall nach Art. 3 GG nicht nur ersetzen können, sondern müssen, um menschenrechtskonforme Diskriminierungsbegriffe wie z. B. “Rassismus” unterhalb der Rechtswidrigkeitsgrenze für die allgemeine Diskussion sicherzustellen. Mit dem Maßstab Menschenwürde und Menschenrecht als logischem Diskriminierungskriterium fallen weiterhin die „Sicht des Betroffenen“ und der objektive Maßstab des logischen Verhältnisses zusammen. Die „Sicht des Betroffenen“ und der allgemeine Maßstab sind widerspruchsfrei identisch.

  2. Pyrrhon von Elis Sun 28 Jan 2024 at 13:00 - Reply

    3 Fragen zum Beitrag:

    1.) Wenn man schon Wittgenstein heranzieht, müsste man den PU-Wittgenstein heranziehen, nicht den Tractatus-Wittgenstein. Dieser hätte gegen die hier offerierte Betroffenenperspektive einzuwenden, dass es sich dabei um eine privatsprachlich geäußerte Perspektive handeln würde, die einem Mitglied der allgemeinen Sprachgemeinschaft notwendigerweise unverständlich wäre.

    Wie kann man dann noch den hier versprochenen Weg einlösen, dass es sich nicht nur um eine reine “Betroffenendefinition” handelt, die jedem verständlich ist?

    Um der antizipierten Antwort vorzugreifen – ja, im Beitrag ist darauf hingewiesen worden, dass die Perspektiven Betroffener bei der BegriffsBILDUNG relevant sind. So weit so gut – das verlagert das Problem letztlich aber nur auf eine andere Ebene und bedeutet letztlich nichts anderes als die Rekonfiguration eines Begriffes in jedem neuen Kontext seiner Verwendung. Dass das insbesondere im Rechtsanwendungsbereich nicht praktisch handhabbar sein kann, steht eigentlich außer Frage.

    2.) Ist die “Betroffenenperspektive” nicht die epistemisch schlechteste Perspektive, die ein Beobachter eines solchen Konflikts einnehmen kann? Insbesondere, wenn es um epistemische Bemühungen mit wissenschaftlichem Anspruch geht?

    Nehmen wir den Fall des OVG Hamburg, der hier ohne nähere Begründung als lebensfremd bezeichnet worden ist. Der zur Identitätsfeststellung angetroffene Mensch fühlt sich rassistisch belangt – soweit so gut. Was macht man denn dann nun mit der für mich plausibel klingenden Argumentation der Hamburger Polizei? Der Kläger hat seine Sichtweise dargelegt und diese ist vom Gericht mit der Sichtweise der Polizei abgeglichen worden. Wo genau besteht nun das Problem? Gehört wurde jeder und entschieden wurde genauso – ist damit jede Entscheidung, die entgegen dem Betroffenheitsgefühl eines sich für betroffen haltenden ergeht eine Fehlentscheidung? Das macht ein Verfahren in einem solchen Falle überflüssig, oder nicht?

    3.) Das ist mehr eine Feststellung aber mit einer Frage verbunden – die hier vom Autoren festgestellte “funktionelle” Begriffsbildung mit der Intention, Personen vor einem vorschnellen Verdikt der negativen Etikettierung zu schützen, ist zutreffend. Die hier offerierte Lösung ist aber auch insoweit funktionell, als sie das Gegenteil versucht, indem sie einen allgemeinen Begriff etwas wackelig zu einem situativen Betroffenheitsbegriff zurechtzuschustern versucht, der die Möglichkeit einer Nicht-Betroffenheit von vornherein ausschließt, weil der Betroffene entscheidet, wann und wie er betroffen ist.

    Letztlich handelt es sich dabei um nichts anderes als einen “semantischen Kampf”, eine Begrifflichkeit, die gerne mal in der Philosophie herumgeworfen wird. Genau deswegen sind viele Personen dieser Art von Diskussion überdrüssig – sie ist zum einen interessengeleitet und zum anderen nichts anderes als ein Spielfeld der Macht, in der es nur darum geht, ein “language creator” (nach Kaplan) zu sein.

    Oder übersehe ich was?

    • Pyrrhon von Elis Sun 11 Feb 2024 at 06:18 - Reply

      Danke für die umfassende und teils auch erwartete Antwort!

      • Gwinyai Machona Wed 28 Feb 2024 at 11:28 - Reply

        Guten Tag, “Pyrrhon von Elis”. Ich freue mich über Interesse und kritische Nachfragen, sehe aber keinen Grund, warum ich (ggü einem Pseudonym) zur Antwort verpflichtet sein sollte. Fragen Sie gern unter Klarnamen oder schreiben Sie eine e-Mail. Ich antworte gern. Beste Grüße, gm

  3. Frank Schmidt Mon 29 Jan 2024 at 11:52 - Reply

    Ein toller Artikel.
    Der Begriff des Antisemitismus kann historisch abgeleitet werden, unterscheidet sich aber schon bei W. Marr von Rassismus und älterem Antijudaismus.

  4. cornelia gliem Mon 29 Jan 2024 at 16:26 - Reply

    ui. wieder mal schwierig. besonders hilfreich entnehme ich dem Text aber, dass man zwischen Begriff(sbildung) und seiner Anwendung unterscheiden sollte. Dem kann ich nur zustimmen.

    ein paar andere kleine Assoziationen meinerseits beim Lesen:

    1. Zitat
    Das AG Wuppertal etwa hatte 2014 i(…) darauf abgestellt, dass die Ermittlungen „keinerlei Anhaltspunkte“ dafür ergeben hätten, dass (…) die Angeklagten „Aufmerksamkeit auf den zu dieser Zeit andauernden bewaffneten Konflikt zwischen Israel und den im Gaza-Streifen lebenden Palästinensern lenken“ (…) wollten. Dass gerade diese Motivation als antisemitisch gewertet werden könnte, übersieht das Gericht …”.
    Zitat ende

    Aber ja doch! Denn allein auf diese Weise „aufmerksam machen“ zu wollen (indem man in Deutschland gegen eine Synagoge vorgeht – nicht etwa gegen die israelische Botschaft oder so), ist antisemitisch.

    2. Zitat
    “nach dem Antisemit nur der ist, wer einem gefestigten antisemitischen Weltbild und einer Ideologie anhängt. (…) Nach diesem Verständnis aber (…) wurde „der letzte Antisemit um 1960 in Jerusalem gesichtet“.

    Na – nicht ganz. Ich glaube schon dass es heutzutage auch noch Nazis mit Ideologie und Weltbild gibt;
    Was hier wohl gemeint ist, ist vielleicht ein konkretes (Partei)Programm? Ein staatlich verankertes?

    3. Zitat
    “Dass auch in deutschen Diskursen um Antisemitismus jüdische Perspektiven kaum Gehör finden (…)”

    Okay okay.
    Allerdings: würden denn „Betroffene“ (=übrigens wer denn: die Israelis oder die Juden in Deutschland?) die Definition anders setzen? Wie?

    Danke.

  5. cornelia gliem Mon 29 Jan 2024 at 16:28 - Reply

    natürlich sollte es in Punkt 1 darum gehen: keinerlei antisemitische Anhaltspunkte ergeben aber (!) dafür nur “Aufmerksamkeitslenkung” etc.

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